"Ultima Ratio Regum": Der detaillierteste Weltsimulator, den es je gab

Es ist wie eine Kamerafahrt vom Größten ins Kleinste: Wer das kostenlose Rogue-like-Rollenspiel Ultima Ratio Regum das erste Mal startet, sieht zu, wie ein Sonnensystem generiert wird; danach folgt die Auswahl eines einzelnen Planeten, den daraufhin Algorithmen bis ins Detail befüllen - mit Bergen, Flüssen, Wäldern, Wüsten; Zivilisationen, Städten, Nationen und Adelsgeschlechtern. Danach steht die Auswahl eines Heimatkontinents unseres Spielcharakters und einer Nationalität samt Religion.

Dann stehen Spielerinnen und Spieler plötzlich mittendrin in dieser Welt, und wer sich umsieht, entdeckt Erstaunliches. Jedes Objekt, jedes Stück Mauerwerk, jeder Einrichtungsgegenstand und jede Bodenfliese lässt sich genauer unter die Lupe nehmen und zeigt individuelle Verzierungen, Muster, Materialien. Jedes Gebäude, von der kleinsten Hütte bis zu den gewaltigsten Zitadellen und Kathedralen, ist einzigartig und voll mit Bemerkenswertem: Altäre, die mit den Zeichen der lokalen Gottheit oder des Adelsgeschlechts verziert sind; Kerzenhalter unterschiedlicher Größe; Grabsteine; Marktstände; Möbel. Etwa 10.000 Quadratkilometer stehen für Forscher bereit.

Ultima Ratio Regum” entlässt seine Spieler schon jetzt, lange vor seiner Fertigstellung, in die detailliertesten prozedural generierten Welten aller Zeiten - mit einer Unmenge an vom Computer berechneten Kulturen, Religionen und Gesellschaften, von den Bauten pazifistischer Nomadenkulturen bis hin zu den riesigen Ziggurats ultrareligiöser aggressiver Stadtstaaten. Nichts davon ist von Menschenhand erstellt, sondern alles wird jedes Mal aufs Neue mit komplexen Algorithmen vom Computer berechnet.

Manche der Grundrisse von Städten, Burgen oder Kultstätten wirken wie abstrakte Kunstwerke oder Mandalas.

So detailliert und ausgeschmückt diese Welt auch ist, so sparsam erscheint auf den ersten Blick die Darstellung: Das Mammutprojekt steht in der altehrwürdigen Tradition der Rogue-likes, die ihre Spielwelten mit Buchstaben und Zeichen des ASCII-Sets auf den Bildschirm bringen. “URR” verwendet das erweiterte ANSI-Set und schafft es trotz dieser vermeintlich spartanischen Optik, eine atemberaubende Vielfalt an Farben, Formen und Details darzustellen - von den großen Überblickskarten der Kontinente über die genauer dargestellten lokalen Umgebungen bis hin zu “Nahaufnahmen” einzelner Gegenstände oder architektonischer Details. Manche der nach komplexen Regeln vom Computer generierten Grundrisse von Städten, Burgen oder Kultstätten wirken wie abstrakte Kunstwerke oder Mandalas.

Der 25-jährige Brite Mark Johnson ist der Schöpfer dieses Projekts. Der an der Universität York promovierte Soziologe hat ohne vorherige Programmierkenntnisse vor vier Jahren damit begonnen, seine Vision in ein Spiel umzusetzen, und diese geht weit über die Erstellung dieser bemerkenswerten Welt hinaus. Anstatt wie in den meisten anderen Rogue-like-Rollenspielen auf der Suche nach magischen Amuletten oder auf der Jagd nach dem bösen Zauberer zu sein, sind die Spielerinnen und Spieler in “URR” auf einer Schnitzeljagd durch die vielfältigen Kulturen und Gesellschaften dieser computergenerierten Welt, um eine Verschwörung aufzudecken, die sich von der historischen Vergangenheit bis in die Spielgegenwart erstreckt.

Was komplex klingt, soll in der Praxis noch komplexer werden: Als Inspiration nennt Johnson regelmäßig wahre Größen des anspruchsvollen literarischen Verwirrspiels: Der argentinische Autor Jorge Luis Borges , bekannt für seine faszinierenden kurzen phantastischen Skizzen um Labyrinthe, Spiegel, Wahrheit und Lüge, dessen bekennender Fan Umberto Eco und die historischen Romane des Science-Fiction-Ausnahmeautors Neal Stephenson sind das Vorbild. “Es geht mir um ‘kulturelle Detektivarbeit’, wie sie bei Borges und Eco oft vorkommt - wie Symbole und ihre Bedeutung in Gesellschaften zirkulieren”, so Johnson im Interview.

Das grundlegende Handlungsgerüst, die Quest, soll dabei stets gleich bleiben, dank prozeduralem Storytelling und jedes Mal anderen Welten, Zivilisationen und Gesellschaften soll sich die Reise jedes Mal entscheidend unterschiedlich gestalten, und auch die Aufgaben, denen sich der Spieler zu stellen hat, werden stark von den jeweils zufallsgenerierten Parametern der Welt abhängig sein. Zentrales Element soll dabei aber die Erforschung der Welt bleiben, die Suche nach den entscheidenden Hinweisen auf eine mysteriöse Verschwörung. “Ein Vorbild für diese Art des Storytellings ist die ‘Dark Souls’-Reihe - auch in ‘URR’ sollen die Spieler ihre Informationen nicht auf dem Silbertablett serviert bekommen, sondern sich aus den Bruchstücken selbst zusammenstellen.”

Wie das Gameplay dazu konkret aussehen wird, lässt sich derzeit noch nicht mit Sicherheit überprüfen. In der kürzlich erschienenen Version 0.7 des Spiels können Spielerinnen und Spieler zwar staunend durch immer wieder neue, extrem detaillierte Welten wandern, je nach Zivilisation oder Kultur unterschiedliche Städte, Burgen und Gebäude erforschen und sich von der Vielfalt und Unterschiedlichkeit dieser Gesellschaften bis hin zu kleinsten ornamentalen Details in, zum Beispiel, Türverzierungen überzeugen - doch aktuell sind diese Welten, im Unterschied zu einigen Vorgängerversionen, unbelebt und leer. Die Welt wieder mit Menschen, Monstern und Tieren zu bevölkern, ist aber der nächste Schritt im Entwicklungsplan, den der Workaholic Johnson mit großer Genauigkeit einhält - zwölf Stunden täglich arbeitet er nach eigenen Angaben. Im Juli erscheint Version 0.8, die die gewaltige Welt endlich bevölkern wird - mit etwa einer Million computergesteuerter Menschen, deren Aussehen , Kleidung und Verhalten genau so prozedural erstellt sein soll wie der Rest dieser Welt. Und für 2015 hat sich Johnson immerhin das Ziel gesetzt, sich ganz auf das Spiel zu konzentrieren und von Ersparnissen und Spenden zu leben.

URR”, so versichert Mark Johnson, soll aber beileibe kein “Walking Simulator” in ASCII werden, sondern auch für Spieler auf der Suche nach “richtigen” Herausforderungen interessant sein - immerhin bleibt das “Permadeath”-Konzept (der Tod des Spielers bedeutet, dass neu begonnen werden muss) als zentrales Erbe des Rogue-like-Genres bei allen literarischen Anklängen auch “URR” erhalten. “Es ist schade, dass Spiele, die thematisch und inhaltlich komplex sind, oft wenig spielerische Herausforderung bieten, oder umgekehrt, dass Spiele mit anspruchsvollem Gameplay oft inhaltlich seicht sind”, so Johnson. “‘Dark Souls’ ist tatsächlich ein tolles Gegenbeispiel: Es ist sehr herausfordernd, hat aber auch große inhaltliche und thematische Tiefe. Vielleicht schreckt man dadurch manche Spieler ab, doch ich will eigentlich die Herausforderung nicht dadurch schmälern, dass ich ‘URR’ einfacher mache.” Von Herausforderungen - und spielerischen Leidensprüfungen - versteht Johnson etwas: Der semiprofessionelle Pokerspieler hat vor einigen Monaten den Weltrekord für das ultraharte Bullet-Hell-Shoot’em-up “Score Rush” geknackt.

Riesigen, detaillierten Welten, die nicht mehr von Designern, sondern von Algorithmen gestaltet werden, gehört in Zeiten explodierender Budgets und der Lust an großen, offenen Spielewelten vielleicht die Zukunft - “kleine” Projekte wie “URR” sind so gesehen die Avantgarde einer Entwicklung, die sich zunehmend in den Mainstream fortsetzen wird.Wie ein anderes Unikat, der ebenfalls von beseelten Einzelkämpfern entwickelte Fantasy-Weltsimulator “Dwarf Fortress” , zeigt “URR”, dass nicht nur in Hinblick auf Detail, Ambition und thematische Tiefe noch gewaltige Potenziale zu heben sind. Johnson: “Das große Games-Business muss erst lernen, wie man interessante und originelle prozedural generierte Spiele macht. ‘No Man’s Sky’ - bezeichnenderweise auch das Projekt eines Indie-Teams - sieht in dieser Hinsicht auf jeden Fall sehr vielversprechend aus. Was mich in ‘URR’ interessiert, ist aber prozedurales Storytelling - an den Punkt zu gelangen, wo Spiele nicht nur Levels und Gegner, sondern tatsächlich Geschichten generieren. Momentan kratzen wir in dieser Hinsicht gerade erst an der Oberfläche.”

Dieser Artikel erschien zuerst für den GameStandard.

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