Spiel des Monats: Gesprächsstoff #2
Joe: Sunless Sea ist, glaube ich, aus demselben banalen Grund besonders wie auch schon Fallen London - weil es einfach gut geschrieben ist. Das ist in diesem Medium, wo Spiele schon als belesen gelten, wenn sie ein einziges Buch kennen (wie Bioshock sein Atlas Shrugged), glaube ich, noch immer so ungewöhnlich, dass Sunless Sea da trotz des düsteren Szenarios wie ein absoluter Lichtblick wirkt. Das Spiel streut seine Referenzen so breit, dass selbst uns gestandenen Literat_innen hier schwindelig wird. Dieser Fokus liegt wahrscheinlich zum Teil daran, dass bei Failbetter mit Alexis Kennedy immer noch der Autor das Heft in der Hand hält.
Das Spiel zitiert, glaube ich, schon eher Stile und Motive als einzelne Werke, so breit ist sein Horizont. Vor allem findet sich darin, denke ich, viel des Übernatürlichen aus der Gothic Fiction von Mary Shelley oder Bram Stoker, verbunden mit dem klassischen Abenteuerroman von Jules Verne (der mit 80 Days vor kurzem ja auch direkt neu aufgelegt wurde), aber auch stets bereichert um diesen modernen Blick, der etwa aus dem Grusel die Furcht vor dem Andersartigen substrahiert, und aus der Science Fiction den puren Zukunftsoptimismus. Es ist der wissende Blick zurück in die Vergangenheit, die in die Zukunft blickt.
Christof: Ich würde vielleicht sogar noch früher ansetzen: es ist nicht nur ein sehr “belesenes” Spiel, es ist auch ein Spiel, das sich traut, Spiel zu bleiben, obwohl es sich so weit an die Grenzen der Interactive Fiction herantraut wie seit Planscape: Torment vielleicht kein Spiel mehr. Dass es letztlich doch auch sehr zahlenverliebt und auf Ressourcenmanagement bedacht ist, macht den Zugang vielleicht leichter als dies bei “härterer” Interactive Fiction der Fall war -- insofern ist es zusammen mit 80 Days ein Grenzgänger, der die größte Stärke des geschriebenen Wortes für das Medium nutzt: dass die Kreation ganzer Welten nirgendwo sonst billiger zu haben ist. Und es ist ja nicht nur eine sehr literarische, sondern auch gewaltige Welt. Kaum zu glauben, dass da im Kern nur drei Leute daran gearbeitet haben.
Agata: Da bin ich ganz brutal: Ich finde es überhaupt nicht besonders. Es ist ein besonderes Konglomerat aus irgendwie viel zu vielem und nichts davon kann es wirklich. Sorry: Viel Text macht nicht viel Story. 80 Days oder Torment sind da für mich um Meilen weiter.
Robert: Da ich tendenziell eher von der ludischen/ludologischen Seite komme, ist die Story für mich immer etwas, das ein Spiel perfektioniert bzw. noch immersiver macht, aber kein Muss ist. Insofern bin ich auch nicht allzu beeindruckt von dem vielen Text, der da vorkommt, weil ich den Mehrwert zu einem Buch nur ein bisschen sehe. Was mir gefällt, ist, dass es ein bisschen wie ein “Choose your own adventure”-Buch wirkt, aber es gibt für mich eine zu große Diskrepanz zwischen dem Spiel mit der Top-Down-View auf das Schiff und den narrativen Elementen. Was ich überhaupt nicht verstehe: Warum ist, wenn es doch ein Spiel ist, was mit seinem erzählerischen Tiefgang punkten möchte, die Geschichte immer rechts unten in ein Kästchen gezwängt und füllt nur ein Viertel des Bildschirms aus?
Agata: Diese Diskrepanz, die Robert beschreibt, trifft es sehr gut für mich. Das Spiel wirkt für mich so, als könnte es sich nicht entscheiden, was es jetzt sein will: Ressourcenmanagement? Storyteller? Atmosphärenvermittler? Explorationsvorlage? Jedesmal, wenn ich mich auf eines dieser Elemente einlassen will, werde ich von irgendnem anderem Kram gestört, um den ich mich dringend kümmern soll. Es ist ein Erlebnis ständiger Brüche, bei denen mir nicht klar ist, ob das irgendwie geplante Absicht oder einfach schlecht verknüpfte Elemente sind.
Die Ressourceninfos bei jeder Entscheidung z.B. stören immer wieder meinen Lesefluss. Das hätte man ganz anders machen können, wenn die Narration hätte im Vordergrund stehen sollen. Andererseits, wenn ich Handeln will, stören mich die immer wieder gleichen Texte, die den Blick auf die Ressourcen versperren, usw.
Robert: Stimmt, man wird ständig rausgerissen. Das Englisch des Spiels ist ja sehr, sagen wir mal: barock, und da braucht es ein bisschen, bis man sich gut eingelesen hat. Man liest aber immer nur Häppchen und muss dann wieder weiter mit dem Schiff herumtuckern und wird wieder rausgerissen.
Rainer: Zu dieser Mischung - und ob sie funktioniert oder nicht - gerne später mehr, doch bleiben wir kurz beim Narrativen. Spiele als Buch ist mal was anderes als - wie sonst immer - Spiele als Film. Ich finde den Ansatz zur Narration in Sunless Sea durchaus originell, aber auf den ersten Blick wenig “elegant” - manchmal sieht man sich, wie Robert erwähnt hat, an uralte “Choose your own adventure”-Mechaniken erinnert.
Wie gut funktioniert für euch zum Beispiel die Offenlegung des “mechanischen” Kerns der Narrative, sprich: die Anzeige all der noch nicht verwendbaren Gesprächsoptionen und ihrer Erfordernisse? Irgendwie hangelt man sich ja sehr bewusst von einem Strang zum anderen - ich behaupte: Eine größere Absage an die Idee vom cinematischen Erzählen habe ich lang nicht mehr gesehen. “Spiele sollen kein Buch imitieren”, meint Robert backstage - aber macht Spiele nicht gerade diese Inklusion aus?
Joe: Ich finde es ganz sympathisch, dass mich das Spiel oft im Voraus warnt was für Konsequenzen eine Entscheidung hat. Etwa wenn ein bestimmter Verbrauchsgegenstand vorausgesetzt, aber dann nicht verbraucht wird. Das wirkt an vielen Stellen auch logisch, schließlich würde ich mich als Kapitän vermutlich nicht blind auf einen Handel einlassen oder Passagiere aufnehmen. An anderen Stellen ist es einfach nur eine freundliche Geste vom Spiel, die ich gern annehme.
Andererseits zeigt sich damit auch oft, wie banal viele der Ereignisse funktionieren. Ich war etwa schon in der Situation, dass auf meinem Dampfer wegen hohem Terrorwert gemeutert wurde, dann präsentiert mir das Spiel verschiedene Optionen die Crew wieder unter Kontrolle zu bringen und (bei der besten) steht, dass mir der entsprechende Charakterwert 60% Erfolgschance gibt, wenn es scheitert, ist das Spiel aus. Das wirkt irgendwie wenig glorreich, wenn ich es so runterbreche (zum Glück habe ich es überlebt).
Christof: Ja, das habe ich gemeint mit dem “zahlenverliebt”. Ich schätze, das ist ein wenig eine Altlast aus der Fallen London-Engine, in der dies natürlich auch eng verbunden war mit dem Free2Play-Modell: man muss wissen, wie lange man noch grinden muss, um weiter zu kommen (oder wieviel Geld man ausgeben muss, um abzukürzen). Insofern ist es nicht wirklich elegant -- die Entwickler geben das auch offen zu. Aber es hat tatsächlich auch seine Meriten: die von Joe genannte orientierende Funktion etwa. Dieses “noch so und so viel bis es weiter geht” hat sich bei mir aber als eine Art zweite mentale Karte über die See-Karte gelegt. Ich weiß, wieviel von welcher Ressource ich zu diesem oder jenem Hafen bringen muss, um mehr Geschichte zu bekommen. Hätte ich diese zweite Karte nicht (die in der Repition immer klarer wird), wäre es tatsächlich ein relativ zielloses Herumtuckern und alles würde sich noch weit zufälliger anfühlen, fürchte ich.
Letztlich denke ich, dass sich hier auch der Charakter des Spiels verändert mit zunehmender Dauer: von der Entdecker- zur Händler-Rolle quasi. Für beides sind meiner Meinung nach aber die Spielemechaniken zentral: ich hatte tatsächlich Angst vor dem dunklen Unbekannten, in einer Weise, die mir kein Buch vermitteln kann. Und auch dieses Händlertum würde in einem Buch vermutlich langweilig sein, wie jeder leidgeprüfte Germanistikstudent beteuern kann, der gezwungen wurde [Soll und Haben] (http://de.wikipedia.org/wiki/Soll_und_Haben_%28Roman%29) zu lesen...
Agata: Das, was du mit der Händler-Rolle erwähnst, finde ich interessant. Ich wäre sehr gerne “Geschichten-Händlerin” gewesen, denn das war es, was ich mir von dem Spiel versprach. Ich empfinde da aber die ganze Art, wie diese Elemente dargestellt werden, als sehr schwierig. Ich kann mir die ganzen Orte und die verknüpften Geschichten überhaupt nicht merken und habe auch gar keine Hilfe im Spiel dafür. Ich müsste mir jetzt - ganz ‘oldschool’ - alles notieren, was aber bei der Fülle der Stränge nicht geht, bzw. durch die ganzen Brüche in der Narrative so was von unsexy wird, dass ich da keine Lust mehr auf die Geschichten habe.
Christof: Ich hatte auch Post-its. Überall Post-its. Klebende, stinkende Post-its.
Robert: Gut, da könnte man jetzt sagen, dass das Spiel genau das will, dass die Orte eben Bedeutung haben und wir uns alle wieder an Ultima I erinnern und unsere Zettel und Bleistifte neben den Bildschirmen parat liegen haben sollen. Finde ich grundsätzlich nicht unsympathisch. Das Prinzip von Geschichten als Ressource finde ich auch charmant, aber letztlich ist es doch so, dass Sunless Sea erst recht wieder in Fetch-and-Carry-Missionen ausartet, nur, dass dabei eben in schönen Worten gute, kleine, miteinander verwobene Geschichten erzählt werden, die ich mir aber alle vorstellen muss, weil es keine aufwendige Grafik gibt und das ganze eben die Imaginationskraft in einem auslösen soll, wie es ein gutes Buch tut.
Rainer: Kurze Frage in die Runde: Sunless Sea erzählt uns also einen Haufen Geschichten - aber verbindet sich für euch diese lose Sammlung zu “unserer” Geschichte? Und noch eine - freche - Frage: Ist das Narrative hier überhaupt wichtig - oder nicht nur ein weiteres Tool, um die Atmosphäre zu bereichern?
Joe: Ich glaube Sunless Sea hat eher etwas von einem grandiosen Kurzgeschichtenband, der sinnloserweise in einem mäßig spannenden Reisebericht eingebettet ist. Die Ambitionen, die ich mir für die eigene Spielfigur aussuchen kann, sind alles vage, längerfristige Ziele, die während des Spiels eher im Hintergrund bleiben. Mit Geschichten füllt sich das Spiel erst durch die unterschiedlichen Begleiter_innen, die an Bord kommen. Die unsterbliche Abenteurerin auf der Suche nach einem würdigen Tod. Der geplagte Navigator auf der Suche nach seinem Gedächtnis. Die sterbende Ärztin auf der Suche nach Heilung. Spannende Schicksale, aber eben nichts Zusammenhängendes.
Was das Spiel verbindet, sind, glaube ich, die wiederkehrenden Motive dieser Geschichten. Sunless Sea hat zum Beispiel einen gewissen Hang zum Animismus: Oft geht es um das geheime Leben der großen und kleinen Dinge um uns. Von Briefen (Nuncio), Ton (Polythreme), Stein (Salt Lions), Masken (Visage) oder Schrift (Codex). Mein liebstes Beispiel ist da Port Cecil, die Insel der Schachspieler_innen, die sich nach ein paar gewonnenen Partien als lebendiges Wesen enthüllt, das sich - mit so natürlich wirkender Mühe! - an Sprache versucht.
Christof: Und diese wahnsinnig episodische Struktur des Reiseberichts stellt sich ja auch in eine lange literarische Tradition. Sindbads Seereisen, oder sogar die Odyssee sind den meisten Leuten ja auch weder wegen den Beschreibungen des Seegangs zwischen den Inseln noch wegen der Charakterentwicklung in Erinnerung geblieben. Was zählt, sind die erstaunlichen Begegnungen. Insofern finde ich die Struktur eigentlich sehr gut gewählt -- ich konnte mich auch deswegen deutlich besser mit Sunless Sea anfreunden als mit Fallen London. Und natürlich ist es auch die Geschichte der Crew -- ich mochte die Figuren, die einen begleiten sehr gerne, zumal die tatsächlich auch klassische narrative Bögen durchleben.
Agata: Da bin ich - glaub ich - zu narzisstisch veranlagt für. Wenn ich ein Buch lese, dann kann ich mich auf die Geschichten der Figuren gut einlassen. In einem Spiel will ich aber MEINE Geschichte erleben und irgendwie Handlungsmacht haben. Das ist bei Sunless Sea ja auch so eine Mogelpackung. Ich steuere das Spiel, aber die Geschichten sind statisch und führen mich am Ende nicht weiter, sondern lösen sich in ihrer Selbstgefälligkeit auf.
Robert: Was mich ärgert, ist, dass ich keine Möglichkeit sehe, zu diesen wunderbar abgedrehten Geschichten schnellen Zugang zu finden. Ich habe das Gefühl, dass ich da eine Weile mit Ration, Tank, Terror, usw. usf., herumgrinden muss, bis ich auf so eine super Schachwesengeschichte stoße.
Christof: Lies doch ein Buch, Alter!
Robert: Nenn’ mir eines mit selbstbewussten Schachwesen!
Christof: Die Schachnovelle gilt nicht, oder?
Joe: Außerdem sind Bücher der ultimative Grind.
Rainer: Jetzt KÖNNTE ich Stith Thompson’s Motif Index rausholen, aber breiten wir den Mantel des Schweigens darüber.
Robert: Bücher kann man “verschlingen”. Sunless Sea nicht!
Joe: Oder vorblättern. Die Option fehlt Spielen wirklich noch.
Rainer: Vielleicht wärs mal an der Zeit, vom narrativen Kuddelmuddel auf etwas Handfesteres umzuschwenken. Man könnte ja fast glauben, wir sprechen hier von einem Bastard zwischen Datenbank und Textadventure, doch nein, ganz zentral und vor all dem steht eigentlich etwas anderes, und zwar das Gameplay. Das ist einerseits Pirates!, andererseits fällt jetzt das Stichwort “Roguelike-like”: Auch Sunless Sea trägt dazu bei, den Begriff irgendwie ins Bedeutungslose zu erweitern, oder? Es gibt - in gewisser Weise - prozedurale Generierung, es gibt - in gewisser Weise - Permadeath, und es gibt auf jeden Fall den, wie ich ihn nennen würde, “spirituellen Anspruch” der Rogue-likes, achtsam, aufmerksam und, tja, dankbar zu sein.
Stu Horvath schrieb auf Unwinnable dazu: “The zee is cruel and terrible. Death is inevitable. In this way, Sunless Sea becomes a lesson in futility. It is teaching you to embrace the crushing cold of the ocean’s depths. [...] And when every choice brings you one step closer to dying, you discover something like freedom. It endows every moment with import and meaning, makes every story unique. So, in this, perhaps Sunless Sea is really about living.”
Wie seht ihr das? Welche Rogue-like-Elemente funktionieren? Wie halten wirs mit Permadeath?
Christof: Ich glaube die Frage könnte man auch umformulieren: hat irgendjemand hier hardcore mit einem einzigen Speicherplatz, Autosave und damit dem ewigen Gespent des Permadeath gespielt? Falls ja, wie lange? Ich hatte sehr, sehr lange daran festgehalten, weil ich es sehr genossen habe, immer kurz vor dem Verrecken zu sein. Wir lagen vor Madagaskar, und so. Wobei das Besondere an Sunless Sea ja ist, dass dies selten in den Geschichten selbst passiert, sondern fast immer nur dazwischen -- und meistens, weil man sich auf eine Reise gewagt hat, ohne gut genug vorbereitet zu sein.
Aber irgendwann, nach vielleicht zwanzig Stunden, war’s dann für mich zu viel: ich hab ganz feige umgestellt auf manuelle Saves, weil mir der Gedanke unerträglich war, all das zu verlieren und weitere 20 Stunden zu investieren, um wieder an denselben Punkt zu kommen. Die Variationsvielfalt der Geschichten ist dafür zu beschränkt. Dann war der Nervenkitzel, das Gefühl, tatsächlich ein Entdecker zu sein, zwar etwas weg. Aber ich bedauere es nicht. War das bei euch anders?
Joe (springt auf): Hat da jemand Roguelike gesagt?!
Rainer: Joe hat das sicher mit Permadeath gespielt. Und auf einem Bein stehend. Mit zugebundenen Augen.
Joe: Ich hab wirklich mit automatischem Speichern gespielt. Hätt ich aber wahrscheinlich abstellen sollen, denn das ist eigentlich der Hauptgrund warum ich Sunless Sea nicht mag. Ich würde es gern mögen! Es hat ein unglaublich interessantes Szenario und ein Spiel in dem ich Wiener Kaffeehäuser beliefere muss eigentlich sympathisch sein. Eigentlich mag ich auch dieses Thema des Überlebens in rauer Umgebung, wie in Out There oder DayZ. Aber diese Verbindung von Roguelike und interaktiver Fiktion finde ich nicht gelungen.
Roguelikes gewinnen durch Wiederholung: ständig bemerke ich neue Feinheiten in der Mechanik und verbessere mich ein wenig. Fiktion läuft sich aber durch ihre Wiederholung tot: die immergleichen Textbausteine wieder und wieder zu sehen nervt, und das bisschen Einfluss, das ich in Sunless Sea auf die Geschichte nehmen kann, täuscht darüber auch nicht weg. Dass ich anders antworten kann, ändert nicht, dass es mir ständig die selben Fragen stellt. Die Routen zwischen den Inseln ändern sich, aber die Inseln selbst bleiben immer gleich.
So bleibt das Spiel für mich gefangen in diesem inneren Konflikt zwischen emergenter und vorgefertigter Narration. Hier heben sich die Geschichten die ich als Spieler schreibe und die, die die Autor_innen geschrieben haben quasi gegenseitig auf. Ich will nicht versuchen wie in Out There oder DayZ eigene Abenteuer auf hoher (oder eher tiefer) See zu erleben, weil ich dabei meinen Fortschritt in hundert unterschiedlichen Häfen aufs Spiel setze und riskiere, dass ich alle diese Geschichten wieder von vorn angehen muss.
Ist aber irgendwie auch meine eigene Schuld, ja. Aber das Spiel behauptet auch, dass es so gespielt werden will! Ich hab mir dann, muss ich zugeben, dadurch geholfen, dass ich manchmal zum Titelbildschirm zurück gegangen bin wenn ich unterwegs angegriffen wurde, und mich so zum letzten Hafen zurückversetzt hab.
Robert: Ich habe das Game im Vergleich zu euch nicht lange gespielt, aber ich habe auch den Eindruck, dass dieser narrativ-emergente Zugang allgemein nicht zu Permadeath und Roguelike passt. Dafür dauern die Abläufe einfach zu lange. Wie Christof geschrieben hat: Ab einem gewissen Punkt willst du das alles nicht nochmal komplett von vorne spielen. Der Nervenkitzel mit Tod oder nicht Tod funktioniert bei Spelunky und Co, wo ein Run maximal rund eine Stunde dauert - aber meist eher 5-15 Minuten. Ein bisschen erinnert mich das an die alten Sierra-Adventures, wenn man vergessen hat zu speichern und dann in irgendeine doofe Todesszene stolpert und sich in den Allerwertesten beißt.
Agata: Ich hatte überhaupt nicht das Gefühl, dass mich jede Entscheidung dem Tod näher gebracht hat. Ganz im Gegenteil. Ich fand diese Permadeath-Geschichte völlig banal und gestorben bin ich auch immer an recht banalen Dingen, die mit der Narrative nichts zu tun hatten. Wie überhaupt das Spiel immer wieder der Mechanik in die Quere kommt und umgekehrt. Mal ganz ehrlich: Habt ihr kein Problem mit dem Pacing’?
Rainer: Wenn ich mir das so anhöre, hatten wir mehr oder weniger ALLE ein Problem mit dem Pacing, der sich aus diesem Konflikt zwischen Narration und Mechanik ergibt. Sunless Sea - das Spiel zur Game-Studies-Kontroverse.
Agata: Ich finde das gar nicht so kontrovers, sondern einfach nur unsauber. 80 Days erzählt unglaublich viel, ohne dass es mechanisch ständig über die eigenen Füße stolpert. Warum schafft Sunless Sea das nicht?
Christof: Ich schätze, es liegt daran, dass -- wie die Entwickler im Postmortem schreiben -- Sunless Sea andere Ambitionen hatte: es ist auch ein Spiel von Menschen, die die alten, gewaltigen Rollenspiele der 90er-Jahre mochten und sich ein Stück weit in deren Tradition sehen.
Robert: Was auch schade ist, und da wiederholen wir uns eventuell ein bisschen (Stichwort Schachinsel): Das Game verliert bestimmt ganz viele Spieler/innen recht früh, was total schade ist, weil ich die kleinen Geschichten wirklich genieße, wenn sie dann mal da sind.
Rainer: Im Postmortem auf Gamasutra - von Christof ja schon erwähnt - bestätigt sich dieser unser allgemeiner Eindruck: An Platz eins der gesamten Produktion stand der thematische Fokus, aus dem sich die Mechanik ergibt. Sprich: Die Autoren waren am Ruder, for better or for worse (nehmt das, Ludologenpack!). “In the Kickstarter pitch, I described Sunless Sea as a game of ‘exploration, survival and loneliness; a game of light and dark.’ From that point on, we wrote, drew, recorded or made everything with that in mind.” Sunless Sea lebt exakt davon, von seiner Atmosphäre als Ganzes - darum braucht es meiner bescheidenen Meinung nach auch kein besonders brillantes Gameplay, und - man streite gern mit mir - nicht einmal das, was man Narrative nennen könnte. Wenn ich zusammenfassen darf: Wir sehen wohl alle darin zugleich den Charme als auch das Problem, richtig?
Joe: So ungefähr. Es braucht wohl wirklich mechanisch nicht großartig zu sein, aber dann Läge auch nahe die Mechanik zu reduzieren anstatt so auszudehnen.
Agata: Puh, also ein Spiel, das “nur” für seine Atmosphäre lebt?
Robert: Was genau ist diese Atmosphäre, von der du schreibst?
Joe: Fragen wir doch Christian Huberts, Autor des Sammelbands Atmosphären im Computerspiel.
Christian: "Ähhhh...."
Rainer: Die evozierte Meeresromantik, samt ihrer Melancholie. Die durch das Gameplay vermittelte Härte, aber auch die Wunder der See. Das Gesamtpaket aus atmosphärischer Musik mit den verstaubten, liebgewonnenen Seemannsklischees plus Monokel. Die Atmosphäre. Muss ich ein Bild zeichnen?
Agata: Hätte da ein Bild nicht gereicht? Wo ist da der Mehrwert des Spiels? Wenn das das Ziel von Sunless Sea war, dann hat es für mich noch weiter versagt, als ich bisher angenommen habe.
Christof (flüstert): Meerwert.
Robert: Das klingt total super, wie du das beschreibst, aber da muss man es schon sehr gut mit dem Spiel meinen oder vorher einen ganzen Satz maritime Luft als Inspiration eingeatmet haben. Für mich sieht das visuell nett, aber auch nicht besonders aufregend aus. Ja, der Soundtrack ist gut, die Sounds sind es auch. Auf Monokel und Romantik warte ich in Sunless Sea bislang noch.
Rainer: Dann ist Sunless Sea eben ein subjektives Erlebnis - vielleicht noch mehr als dies bei anderen Spielen gilt (und umso mehr Beweis dafür, dass Zahlenwertungen Unfug sind). Grundsätzlich gälte für mich genau das das als das Schöne an Spielen, das über andere Medien, wie von Agata gesagt: ein Bild, hinausgeht: Sie können nicht nur etwas zeigen, sondern Emotionen mechanisch nacherlebbar machen. Klar, abstrakt, doch die Angst, auf See zu verhungern, macht mir kein Bild von hungrigen Seeleuten so deutlich wie die eigene vom Spiel vermittelte Erfahrung, schon den zweiten Maat gegessen zu haben und immer noch im Dunklen zu hungern.
Christof: Romantic Literature gibt es in Khan’s Heart günstig! (Nur aufpassen, dass es die Steuerbehörde in London nicht einzieht.)
Rainer: Zu Agatas Einwand noch kurz ein letztes Wort: Dass Sunless Sea NUR von seiner Atmosphäre lebt, würde ich nicht sagen - wie auch von Joe oben erwähnt beeindruckt es mich persönlich auch als hochliterarisches Genrepuzzle. Und ich finde mit Stu Horvath doch durchaus, dass auch die Schrecken der Seefahrt abgebildet und erfahrbar sind. Apropos Schrecken: Sunless Sea verwendet ja viele literarische Motive aus allen möglichen Genres, nicht zuletzt auch aus dem Horror. Aber ist Sunless Sea dadurch furchteinflößend?
Robert: Abseits von Permadeath und Co.? Überhaupt nicht. Die desperate Situation auf dem Schiff, der Terror-Meter, die Nahtodsituationen und der Wahnsinn der Crew bleiben abstrakt bzw. Teil der erzählten Geschichte und haben für mich kaum Überschneidungen zu den Gameplay-Entscheidungen, die ich treffe. Der Rest ist Ressourcen-Management.
Christof: Sunless Sea scheint mir mit Horror-Versatzstücken eher zu spielen, als dass es seinen Grusel ernst meint. Die absolute Normalität, mit der selbst die widerlichsten und groteskesten Erlebnisse quittiert werden, macht für mich einen Reiz des Settings aus. Und wenn dann die Schraube angezogen wird und man sich doch bei etwas sehr Barbarischem entdeckt (wie das eine Mal, als ich eine gesamte Stadt in den Abgrund gerissen habe), wirkt das dann für mich durchaus intensiver.
Joe: Es ist in gewisser Weise schon gruselig, aber eben vor allem dadurch, dass es meinen Spielfortschritt in Geiselhaft nimmt. Über so viele Stunden hinweg ist es mir aber ehrlich gesagt zu anstrengend, ständig in Sorge sein zu müssen, dass ich bei der nächsten Ausfahrt alles verlieren könnte. Außerdem wirkt das als Mittel doch irgendwie billig, oder? “Echte” Horrorspiele wie A Machine For Pigs können dieses Gefühl doch auch erzeugen, wenn sie mich beim Scheitern nur wenige Sekunden weit zurückwerfen.
Agata: Das hat mich ungemein frustriert: Ich bin der Furcht hinterher wie ein kleiner Jagdhund. Immer wieder gibt es da ein Ahnen, eine Andeutung, einen Hinweis, aber am Ende wird das Versprechen des Fürchtens nicht eingelöst. Sehr unbefriedigend. Gerade wenn man die kleinen Storyschnipseln mit Lovecraft vergleicht - von dem es ja inspiriert sein will - sind die Geschichten sehr enttäuschend. Zudem verlaufen der Terror-Meter und die Anspannung in den Geschichten überhaupt nicht synchron. Kurz vor Terror 100 müsste ich doch mich kaum am Sessel halten können.
Rainer: Wenn’s mir nur gruselte! Aber im Ernst: Für mich ist Sunless Sea eher ein Spiel über romantischen Grusel mit Patina, weniger eines, das wirklich Angst machen will. Wenn ich die Emotionen benennen müsste, wären es wohl Melancholie und Stoik. Ist Stoik eine Emotion? Da, ein dreiköpfiger Affe!
Robert: Oder war’s doch ein zweiköpfiges Eichhörnchen?
Joe: Stoik ist aber nun wirklich ein Zustand, der mit Roguelikes nicht einhergeht.
Rainer: Zum Ende, Käp’ns! Wieder eine kurze Abschlussfragerunde, diesmal: Meta-Zeemansgarn! Welch schröckliche Wundergeschichte ÜBER das Spiel fabuliert ihr gegenüber ahnungslosen Zeitgenossen beim zweiten Grog zusammen?
Christof: Wenn man bei Sunless Sea ans Ende der Welt segelt und einen mumifizierten Papagei, zwei radebrechende Schlammschnecken und ein Tiefseewal-Ei bei sich hat, gelangt man in eine alternative Dimension, in der Robert, Agata und Joe Sunless Sea ganz außerordentlich mögen. Ganz, ganz außerordentlich.
Agata: Synchron zum Pegel alterniere ich Grogschlücke mit neuen Erzählversuchen. In immer kürzeren Abständen verwickle ich mein Opfer in die 1000 Textanfänge des Kpt Grogbär. Dabei wird klar, dass Christof lügt, denn für die alternative Dimension braucht man einen Terrorwert von Minus 100.
Robert: Als ich die 23. Insel besucht hatte, wechselte das Spiel plötzlich in den Third-Person-Modus und ich konnte endlich meinen alten Risen 2-Spielstand weiterspielen.
Joe: Nachdem mir das Konzept der teuflischen Korrespondenz, mächtiger wie gefährlicher Schriftzeichen, so gefällt, läge es nahe zu behaupten, dass ich mir bei Konsum einer besonders gewagten Passage des Spiels Brandblasen zugezogen habe.
Rainer: Potzblitz. Ach, ich hab eigentlich nix zu erzählen. Außer dass ich in einem finsteren Vortex auf einen okkulten Doppelgänger meiner selbst gestoßen bin, der meine unsterbliche Seele gekapert und ins Spiel gerissen hat und sich genau jetzt in der richtigen Welt als ich ausgibt. Nur manchmal komme ich noch an die Oberfläche meines Bewusstseins geschwommen und tippe unsicher und zittrig …. hi..lfe… hil...fe …. hillfff….
Joe: Aber keine Sorge: All shall be well, and all manner of thing shall be well.