100 Stunden Lebenszeitverschwendung

217Tolstoi lesen oder Dark Souls spielen?

Auf Slate stellt Michael Thomsen eine ernstgemeinte Frage: "Is a 100-hour video game ever worthwile?" Die Antwort, zu der Thomsen kommt, ist für Games-Enthusiasten schmerzhaft negativ. Es könnte allerdings auch mit einer ganz speziellen Hassliebe-Beziehung zu einem ganz speziellen Spiel zu tun haben, dass Thomsen, der ansonsten kein Games-Basher ist und z.B. hier in Metroid Prime möglicherweise sogar das "Cititzen Kane of gaming" ausgemacht haben will, mit derartiger Verve gegen ein Medium wettert, das ihn 100 Stunden Lebenszeit gekostet hat.

Der Anlass zu Thomsens Tirade: Dark Souls.

You can accomplish a lot in 100 hours. You could read War and Peace, for instance, then follow it up with Thus Spoke Zarathustra and a few starter courses in a new language. You could watch Melancholia 40 times and still have time to squeeze in a screening of Shoah. You could also drive from Los Angeles to New York and back again, or complete 20 weeks of training and then run a marathon. Or, if you preferred, you could also play through the video game Dark Souls from start to finish. (...)

In more than twice the time it would take to read Tolstoy's historical fiction, Dark Souls leaves one's head overflowing with useless junk like the difference in attack stats between a Great Axe with a fire bonus versus a Great Axe with a divine bonus. (...)

Dark Souls insists that players participate in their own undoing by burning hour after hour in search of the small burst of relief that comes after each round of punishment. (...)

Eins vorweg: Ich selbst war genau wegen Dark Souls nur sooo knapp davor, mir im Herbst doch eine PS3 zuzulegen. Dass ich es nicht getan habe, hat weniger mit befürchteter Lebenszeitverschwendung, sondern eher mit absichtlicher Einschränkung zu tun. Kurzum: Ich habe Dark Souls nicht gespielt. Thomsens Argumente verdienen trotzdem genauere Beachtung.

Es ist bezeichnend, dass Thomsen als erstes Beispiel für sinnvollere Lebenszeitgestaltung "die Klassiker" einfallen. Werke wie Tolstois Krieg und Frieden stehen symbolisch für das konstant nagende schlechte Gewissen der eigentlich Gebildeten. Die großen Werke der Hochliteratur, die Bücher, die man gelesen haben muss, stapeln sich kaum benutzt in zahllosen Wohnungen. Ich wette, dass James Joyces Ulysses weltweit nicht gelesen wurde, dass das Verhältnis der gekauften Exemplare von Krieg und Frieden zur tatsächlichen Lektüre desselben mindesten 100:1 ist und dass sich auch Nichtspielern des Öfteren die Frage aufdrängt, ob ihre Lebenszeit sinnvoll genutzt ist.

Wir leben in nie dagewesenen Zeiten der Kulturverfügbarkeit; niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit gab es eine derartige Fülle an kulturellen Werken mehr oder weniger zur direkten Verfügung. Das ist zum einen eine fantastische Bereicherung: Ich kann in Sekundenschnelle auf Dantes Divina Commedia, das Gesamtopus von Franz Schubert, alle Alben der Beatles, die Hauptwerke des französischen Impressionismus, sämtliche Filme von Claude Chabrol, Sachbücher zum Zweiten Weltkrieg und zur Philosophie der klassischen Moderne, Karl Marx' Das Kapital, die Hot Five Seven Recordings von Louis Armstrong, Dokumentationen zur Finanzkrise und Joseph Conrads Heart of Darkness als Hörbuch zugreifen.

Dieser Überfluss ist aber auch problematisch, denn der Kanon wächst und wächst und wächst, und mit ihm das Gefühl der Überforderung bis hin zur Kapitulation. Als teilhabender, kulturell interessierter Netizen bleibt einem so das ständige Gefühl der Unzulänglichkeit, das schlechte Gewissen, das mit dem Überblicken des riesigen Berges an eigentlich essentieller Kultur-Musts in Resignation oder Kapitulation umschlägt: Universalgenies kann es heutzutage angesichts der explodierenden Wissenschaften nicht mehr geben. Bestseller wie Schwanitz' Bildung - alles, was man wissen muss begnügen sich auch damit, oberflächliche Faktoide zum gepflegten Smalltalk zum Auswendiglernen zur Verfügung zu stellen.

Dark Souls ist aber - soweit ich das ohne es tatsächlich zu spielen, beurteilen kann - insoferne ein außergewöhnlicher Anlass für Thomsens Klage, als es eine Besonderheit, eine Anomalie darstellt: Es bestraft seine Spieler mit Härte, nimmt sie nicht an der Hand und stellt sie schier unlösbaren Problemen gegenüber, die sich nur durch stetiges Üben überwinden lassen. Michael Abbotts Artikel zu Dark Souls verglich das Spiel mit einem Dojo, mit der Übungspraxis der asiatischen Kampfkunst: 

For me, Dark Souls enables an approach to play that reflects Kendo (i.e. “The Way of Sword”) training, with some of the same benefits imparted to the earnest practitioner. Thus, the world of Dark Souls functions as a kind of virtual Dojo, a stern but playful host for rigorous lessons in persistence, patience, discipline, precision, mastery, and charting an optimal path.

So betrachtet wäre Dark Souls sogar das falscheste Spiel, an dem sich Thomsens Kritik entzünden könnte: Es ist eine bewusste Reduktion auf reine practice im Sinne von Übung und Praxis, eine strenge Schule, aus der wir nur durch Überwindung, Hartnäckigkeit, Bescheidenheit und das konstante Bewusstsein unserer Sterblichkeit hervorgehen können. Dark Souls trainiert also im postiven Sinne Eigenschaften, die etwa die asiatischen Philosophien als Kernstück gelingenden Lebens bezeichnen.

Thomsens Lamento, dass wir diese Zeit auch mit anderen Dingen bereichernder (man beachte dieses entlarvende Wort!) nutzen könnten, zeigt eine Besonderheit des Mediums Games: Sie werden nicht "nur" konsumiert und zur intellektuellen "Bereicherung" verarbeitet wie Filme oder Literatur, sondern erfordern die aktive Überwindung eines Widerstandes im Konsumenten - daher kommt auch der Verweis auf das ebenfalls "sinnvollere" Marathontraining. Dieses eigentlich separate Argument - Sport vs. Games - ist insofern überflüssig, als sich damit genauso die Lektüre von Tolstois Werken als eigentliche Zeitverschwendung von besser "für die Gesundheit" nutzbarer Lebenszeit ablehnen ließe - der Terror der organischen Selbstverbesserung und der obligatorischen Gesundheitspflege im Sinne der "Sorge um sich selbst" schlägt das kulturelle schlechte Gewissen allemal.

Es ist aber vermutlich kein Zufall, dass sich Thomsen ausgerechnet durch dieses eine, spezielle Spiel zu seinen dunklen reuevollen Gedanken über verschwendete Lebenszeit hinreißen ließ - und nicht etwa, was ja auch naheliegend wäre, durch mindestens so dramatische Lebenszeitvernichter wie The Sims, WoW oder Farmville.

Dark Souls' Designphilosophie baut vor dem Spieler riesige, nur mühsam überwindbare Hindernisse auf und frustriert mit Absicht, ganz im Gegensatz zu den genannten drei Bestsellern, die im Gegenteil dazu designt wurden, diese Hürden möglichst gering zu halten. Und wieder hilft die ostasiatische Philosophie aus: "Small suffering, small gain. Large suffering, large gain."

Vielleicht, so möchte man Thomsen zum Trost zurufen, war die Zeit des Masochismus doch nicht so ganz verschwendet, wie der Artikel suggeriert, der im Grunde Zeugnis einer Selbstanklage ist: Im Angesicht des riesigen Berges an dem, was man zu tun hätte - angesichts des riesigen, de facto unbewältigbaren Berges an Hochliteratur, Kunst, Wissen, Möglichkeiten - angesichts all dessen also, was mit mehr oder weniger Druck von uns verlangt wird, ist das Spiel trotz allem ein Medium, das uns nur auferlegt, seine eigenen Herausforderungen zu meistern. Das macht auch seinen Reiz aus.

Hier passt sie wieder, die alte Definition von Johan Huizinga aus Homo ludens:

„Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘.“

Im gewöhnlichen Leben wartet das schlechte Gewissen, Tolstoi zu lesen und für den Marathon zu trainieren; es wartet die de facto unlösbare Aufgabe, alles zu sehen, alles zu wissen, alles zu verstehen, alles zu tun. Im Spiel, auch in jenem, mit dem wir 100 Stunden verbringen, sind wir davon befreit, solange wir uns seinen strengen Gesetzen unterwerfen. 

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