Best of Indie August 2015
Everybody’s gone to the Rapture (PS4, 19,99 Euro)
Die größte Indie-Neuerscheinung des Monats verdient natürlich hier auch eine nochmalige Erwähnung: The Chinese Rooms PS4-exklusive Wanderung durch eine poetische Apokalypse ist nicht nur grafisch und akustisch, sondern auch erzählerisch ein Höhepunkt des Indie-Jahres. In einer verlassenen englischen Postkartenidylle sind Spielerinnen und Spieler im neuen Werk des “Dear Esther”-Machers Dan Pinchbeck auf der Suche nach Antworten. Die meditative Wanderung überzeugt dabei nicht nur in ihrer Präsentation, sondern auch mit einer Riesenportion Atmosphäre und erzählerischer Brillanz.
Meine GameStandard-Rezension geht ins Detail: “In seinem Kern, hinter aller Grafikpracht, hinter grandioser Musik und Atmosphäre, erzählt ‘Everybody’s Gone To The Rapture’ aber, wie Literatur, Film, Theater, wie alle Kunst, von Menschen; intim, widersprüchlich und letztlich mit großer Zuneigung. Es erzählt von Angst, Trauer, kleinen Makeln und Liebe im Angesicht der Hoffnungslosigkeit. Alleine deshalb ist es ein besonderes Spiel.”
Volume (Windows, Mac, PS4; PS Vita angekündigt; 17,99 Euro)
Auch der Brite Mike Bithell ist ein kleiner Star der Indie-Welt: Sein abstrakter Puzzle-Platformer “Thomas Was Alone” war ein kleiner Überraschungshit mit erzählerischem Tiefgang und Witz. “Volume” ist auf den ersten Blick etwas konventioneller gestrickt: Als geschickter Einbrecher Robin sind Spielerinnen und Spieler in unterschiedlichen virtuellen Räumen auf Diebestour, bei der Wachen und Sicherheitssystem vorsichtig und richtig getimet umgangen, abgelenkt und ausgetrickst werden müssen.
Was auf den ersten Blick wie ein recht klassischer Stealth-Puzzler aussieht, erweist sich dank globaler Bestenlisten aber bald als herausragender Speedrun-Spielplatz für flinke Tüftler. Cleveres Leveldesign und fordernde Bestzeiten machen auch die ambitionierte Hintergrundgeschichte um den Kampf eines modernen Robin Hood gegen einen dystopischen Überwachungsstaat zur Fleißaufgabe; “Volume” funktioniert als Spiel besser denn als Geschichte. An der Auswahl der zum Teil gar zu überschäumend dahinquasselnden Sprecher scheiden sich dann überhaupt die Geister. Ein Glück, dass abseits dieser teilweise etwas angestrengten Erzählebene sowohl das Spiel als auch der supersimple Level-Editor für sich alleine bestehen können.
Cradle (Windows, Linux 12,99 Euro)
Dass Science-Fiction im Spiel auch abseits aller ermüdenden Klischees von Space Opera oder aber dystopischen Cyberpunk-Allgemeinplätzen spannend ist, beweist ein Entwicklerteam aus der Ukraine: Das wunderschöne First-Person-Adventure “Cradle” entführt seine Spielerinnen und Spieler in eine transhumanistische Zukunft - in die innere Mongolei. Die Suche nach Antworten führt von der High-Tech-Jurte durch endlose Steppenweiten hin zu einem beeindruckenden Skelett eines futuristischen Vergnügungsparks, und die großen Fragen des Spiels beschäftigen sich - ähnlich wie in “The Talos Principle” - mit dem Menschsein im Angesicht fortschreitender Technologisierung.
Ohne Übertreibung: Die Liebe zum Detail und die Fantasie, die im Design der ungewöhnlichen Locations und Figuren steckt, suchen ihresgleichen, und in seinen traumgleichen Abenteuersequenzen steckt “Cradle” den Großteil der auch hochpreisigen Konkurrenz mühelos in die Tasche. Doch ausgerechnet die Einsprengsel “richtigen” Gameplays verdüstern den erfreulichen Gesamteindruck: Die sich wiederholenden Geschicklichkeitstests, in denen unter zunehmend verschärften Bedingungen witzloses Blöckchenschmeißen gefragt ist, verderben die Freude an dieser ansonsten beeindruckenden Zukunftsvision. Trotzdem: Abseits davon ist “Cradle” zum Weinen schön - eine beeindruckende Talentprobe aus dem Osten Europas.
Trine 3: The Artifacts of Power (Windows 21,99 Euro)
Die “Trine”-Serie der finnischen Entwickler Frozenbyte ist ein heißgeliebter Klassiker. Auch in Teil drei überwältigt der Action-Puzzler, in dem Spielerinnen und Spieler abwechselnd in der Gestalt dreier Fantasy-Helden Kämpfe, Geschicklichkeitsprüfungen und Physikrätsel meistern müssen, mit seiner bunten Grafikpracht, liebevollem Design und einer großen Portion Humor. Die größte Neuerung im wahlweise Solo oder im Koop spielbaren dritten Teil der Reihe ist nun die dritte Dimension: Der Weg führt nun nicht mehr nur von links nach rechts, sondern auch in die Tiefe des Raumes - die Kamera bleibt dabei allerdings fix.
Diese Neuerung verleiht dem altbekannten Gameplay zwar einerseits neuen Glanz, hat aber auch ihre Tücken: Neben manchmal auftretenden Steuerungsverwirrungen stößt manchen Freunden der Serie auch so manche spielerische Vereinfachung und die relative Kürze sauer auf - nach etwa fünf Stunden ist bereits Schluss. Ein zerknirschtes Statement der Entwickler auf Steam spricht von technischen und finanziellen Schwierigkeiten bei der Produktion. Zum Wehklagen gäbe es allerdings kaum Anlass: “Trine 3” ist wieder ein märchenhaftes Abenteuer geworden, das wunderbar unterhält und seinen Platz im “Best of” absolut verdient hat. Ein Hochglanz-Indie, beileibe nicht nur für Fans der Serie.
Shadowrun: Hong Kong (Windows, Mac, Linux, ab 18,19 Euro)
Die vor zwei Jahren per Kickstarter gelungene Wiederbelebung des Cyberpunk-trifft-Fantasy-Rollenspielklassikers “Shadowrun” läuft in ihrer zweiten Fortsetzung zur absoluten Höchstform auf. Schon das letztes Jahr veröffentliche Sequel “Dragonfall” übertraf den stimmigen Erstling in Atmosphäre, Umfang und Story deutlich, “Hong Kong” hält das hohe Niveau und bessert in Details noch einmal nach.
Die Rollenspielreihe der US-Entwickler Harebrained Schemes glänzt mit Setting, Narration und der Möglichkeit, auf ganz unterschiedliche Weise an die Missionen heranzugehen. Mit etwas kürzeren Gefechten legt “Hong Kong” den Fokus noch mehr als die Vorgänger auf seine Figuren, seine Welt und die Geschichte; wer Dialoge gewohnheitsmäßig überspringt und nur auf Action aus ist, wird hier allerdings nicht glücklich werden. Freunde von “Shadowrun” und klassischer Rollenspiele werden hingegen ihre helle Freude haben; die Kenntnis der Vorgänger ist optional.
Satellite Reign (Windows, Mac, Linux 26,99 Euro)
Wer erinnert sich noch an “Syndicate”, den düsteren Echtzeitstrategie-Prototypen von Peter Molyneux aus dem fernen Jahr 1993? Anscheinend genug Spielerinnen und Spieler, denn die australischen Macher von “Satellite Reign” konnten sich mit dem Versprechen, das Cyberpunk-Kultspiel wiederauferstehen zu lassen, über eine halbe Million Euro auf Kickstarter sichern. Nach längerer Early-Access-Phase steht fest: Das Versprechen wurde gehalten, mit einem großen Unterschied zum großen Vorbild: So hübsch neon-bunt und stylisch hat das Original niemals ausgesehen.
Und auch eine so riesige offene Spielwelt hatte “Syndicate” im Gegensatz zu “Satellite Reign” nicht zu bieten. Mit vier kybernetisch aufrüstbaren Superagenten durchstreifen Spielerinnen und Spieler mit der Steuerung von Echtzeitstrategiespielen die gewaltige Metropole und schießen, schleichen und hacken sich in zahllosen Missionen auf der Karriereleiter zum mächtigen Syndikat empor. Die Wahl der Vorgehensweise ist dabei den Spielern überlassen. Kern des Gameplays ist dabei das taktische Mikromanagement der kleinen Agententruppe, die Hauptrolle spielt aber die umwerfend atmosphärische Großstadt, in der auch ohne unser Zutun geschäftiges Treiben herrscht. “Satellite Reign” ist viel mehr als nur eine beeindruckende Hommage an einen Klassiker - es hat das Zeug dazu, selbst einer zu werden.
Und sonst …?
Über das ungewöhnliche Konzept des Multiplayer-Horror-Shooters “The Flock” (Windows, 16,99 Euro) hat der GameStandard bereits berichtet , seit kurzem ist das Experiment mit Ablaufdatum allgemein spielbar - doch ob die über 200 Millionen Spielertode, die schlussendlich das Ende des Online-Shooters einläuten sollen, jemals tatsächlich absolviert werden, ist fraglich, denn im jetzigen Zustand bietet “The Flock” noch gar wenig Spielanreiz. Schade - aber vielleicht bessern die holländischen Entwickler ja noch ein wenig nach. Das originelle Konzept hätte es verdient.
Auch das Abenteuer “Beyond Eyes” (Xbox One, Windows, 12,99 Euro) bleibt leider etwas hinter den hohen Erwartungen zurück: Als blindes Mädchen erforschen Spielerinnen und Spieler eine atmosphärische Welt, die sich erst durch Geräusche und das langsame Erwandern erschließt. Tolle Idee, spannendes Thema, hübsche Atmosphäre - aber leider fehlt es ein wenig an tatsächlichen Aufgaben und Spannungsmomenten in den etwa vier Stunden Spielzeit. Für Freunde ungewöhnlicher, eher ruhiger Spielkonzepte ist “Beyond Eyes” - man verzeihe den Scherz - aber einen Blick wert.
Der ungewöhnlichste Spieletipp am Schluss: “Duskers” (Early Access; Windows, 17,49 Euro) lässt Spielerinnen und Spieler ans Steuerungspult verschiedener Drohnen, die in Raumschiffwracks nach Beute suchen. Das Interface ist dabei zentrales Spielelement und Faszinosum zugleich: Mit einfachen Programmierungen und nüchternen, aber gerade deshalb eigenwillig atmosphärischer Visualisierung kommt dabei oft richtig klaustrophobisches Science-Fiction-Feeling auf. “Duskers” übertrifftt dabei das ebenfalls heuer erschienene, in Thema und Umsetzung recht ähnliche “Deadnaut” in Sachen Konsequenz und Abwechslungsreichtum sogar noch ein wenig; ein spannendes Hybrid aus Roguelike, Echtzeit-Simulation und Hard-SF-Atmosphäre.