Deus In Machina. Ein assoziatives Kaleidoskop.

Der folgende Essay erschien für WASD#6.

"Realität ist eine Illusion, allerdings eine sehr hartnäckige." Albert Einstein

1950.

Vier Physiker gehen in eine Bar.

Die Stadt ist Los Alamos, New Mexico. Die Zeitungen sind voll mit UFO-Geschichten, spektakulären Schauermärchen einer nicht nur US-typischen,sondern nach dem kurz zurückliegenden katastrophalen Zweiten Weltkrieg globalen Hysterie von angeblichen Sichtungen und Entführungen durch Außerirdische. Die Experten, kurz zuvor noch mit Atomwaffentests in der Wüste beschäftigt, geraten ins Diskutieren; wenn interstellares Reisen überhaupt möglich ist - und, da sind sich die Wissenschafter einig, das ist es - wieso haben dann nicht schon längst intelligente Spezies das Universum kolonisiert? Oder, noch einfacher: Wieso können wir dann nicht zumindest ihre Spuren und Signale beobachten? Stattdessen: Schweigen, Leere, Nichts, abgesehen von der Panik in den Schundblättern. “Where is everybody?”: Enrico Fermi, einer der “Väter der Bombe” und in Los Alamos in eben dieser Bar, stellt diese Frage zur allgemeinen Erheiterung seiner Kollegen. Niemand weiß eine Antwort. Wir sehen keine Spuren von anderem Leben da draußen, obwohl es eigentlich so sein müsste. Es ist ein scheinbar unerklärliches Rätsel, das bis heute seinen Namen trägt: das Fermi-Paradox.

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1958.

Das Brookhaven National Laboratory auf Long Island, Upton, New York, ist ein sterbenslangweiliger Ort. William Higinbotham arbeitet hier. Er ist Physiker, und das Ende des Zweiten Weltkriegs liegt unfassbare 13 Jahre zurück. Higinbotham hat geholfen, den Krieg zu beenden; auch er war Mitglied im Team, das die US-amerikanische Atombombe entwickelte. Seine Arbeit hat dem pazifischen Krieg gegen das kaiserliche Japan mit der thermonuklearen Auslöschung von nahezu einer Viertelmillion Menschenleben in Hiroshima und Nagasaki ein jähes Ende gesetzt und ihn nach Kriegsende zum Kämpfer gegen den Wahnsinn des atomaren Wettrüstens gemacht.

1958 stellt Higinbotham auf der alljährlichen Ausstellung des Labors ein Kuriosum vor: Auf einem Oszilloskop lässt er staunende Besucher durch Drehen am analogen Aluminiumcontroller einen leuchtenden Lichtpunkt hin und her schlagen. Eines der allerersten Computerspiele der Geschichte und der Großvater von Pong lockt hunderte Besucher an. Der Name des Spiels ergibt sich ganz selbstverständlich. Das hier, diese gleißenden Linien auf schwarzem Hintergrund, die Bewegung, die Abstraktion, ist Tennis for Two. Die Besucher staunen, können beinahe den Aufprall des imaginären Balles hören, den roten Sand wirbeln sehen. Die Maschine simuliert Tennis und übersetzt damit die Welt in ein Medium, das hinter dem Bildschirm liegt.

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1971.

Tennis for Two wird vergessen, erst in den Achtzigerjahren als Urahn des Mediums entdeckt. Lange Zeit gilt SpaceWar von 1961 als erstes Computerspiel. Und erst weitere zehn Jahre später, 1971, steht mit Computer Space der erste kommerzielle Arcade-Automat mit Münzeinwurf in den Flipperhallen, und mit ihm die ersten fliegenden Untertassen, die Fermis Paradox trotzen: "Where is everybody?" Die Besucher aus dem All, hier sind sie. Feuer frei.

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1978.

Auch Space Invaders reitet auf einer Welle der Science-Fiction-Hysterie, die ein noch größeres Pop-Phänomen ausgelöst hat: “Star Wars”. In George Lucas’ Weltraummärchen kommt neben der von unzähligen Lebewesen bevölkerten galaktischen Abenteuerfahrt auch der technischen Virtualität entscheidende Bedeutung zu. Die virtuelle Realität ist da: Beim Anflug auf den entscheidenden kritischen Punkt des Todessterns leuchten in den Cockpits  simple Vektorumrisse der Umgebung, die den Piloten bei seinen Manövern unterstützen sollen - ein abstrahiertes Abbild der unmittelbaren Wirklichkeit. Diese über Maschinen bedienbare Simulation verdichtet sich in den wenig später für jedermann bewunderbaren Spielautomaten zur alltäglichen Realität: Fünf Jahre nach dem Film, rechtzeitig zum Release von “Return of the Jedi”, sitzt man im Star Wars-Arcade-Automaten von Atari aus dem Jahr 1983 in einem aufwendigen Cockpit vor denselben simplen Vektorgrafiken, wie sie aus den Filmen bekannt sind. Wahre Jedis, so lernen Zuschauer übrigens, können auf diese Hilfsmittel verzichten.

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1982.

Die Welt des jungen Popmassenmediums Games steht zum Zeitpunkt des dritten “Star Wars”-Teils bereits vor dem Abgrund. E.T. - The Extra-Terrestrial, für das Weihnachtsgeschäft 1982 überhastet produziert, gilt als eines der schlechtesten Spiele aller Zeiten. Millionenverluste, der Zusammenbruch der amerikanischen Spieleindustrie und das Begraben von Millionen E.T.-Cartridges in der Wüste folgen. Der Umsatz der US-Spieleindustrie sinkt von 3,2 Milliarden Dollar 1983 innerhalb der nächsten zwei Jahre um 97 Prozent auf 100 Millionen. Der Außerirdische, der hier nicht bekämpft, sondern gesteuert wird und unseren Planeten verlassen und “nach Hause telefonieren” will, steht für das ruhmlose Ende eines frühen Kapitels der Geschichte der Computerspiele. Mit ihm beginnt, vierzig Jahre nach dem Abwurf der US-amerikanischen Atombomben auf das ostasiatische Land, der Siegeszug japanischer Unterhaltungselektronik.

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1984.

William Gibsons düstere Science-Fiction-Dystopie “Neuromancer”, just heuer unglaubliche 30 Jahre alt, ist prophetischer Pop. Sein “Cyberspace” ist eine “konsensuale Halluzination”, die Matrix hat ihre Wurzeln in “primitiven Arcade-Spielen”, in “Grafikprogrammen und militärischen Experimenten mit Schädelbuchsen”. Gibsons Technologie ist keine Blaupause für den Aufstieg des Internets, sondern ein ebenso kaltes wie lebensgefährliches Biotop für Künstliche Intelligenzen, Konzerne und digitale Voodoo-Gottheiten gleichermaßen. Nicht nur der Mensch ist in den Maschinen angelangt, sondern und vor allem auch seine Götter, die hin und wieder auch von ihm Besitz ergreifen: Deus in machina.

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1992.

Vom Dummkopf zum Genie zum digitalisierten Bösen: "Der Rasenmähermann" zeichnet im Kino die Reise ins Virtuelle als Neuauflage des Frankenstein-Stoffes. Die Flucht in den Cyberspace, und damit, ganz aufkommende Globalisierung, in die gesamte Welt, ins menschenleere “Überall” weltweiter Datenleitungen: Zeitgleich mit dem Erwachen des World Wide Web zeigt uns der Film das Bild eines Menschen, der zuerst vom Virtuellen perfektioniert und dann absorbiert wird. In Neal Stephensons "Snow Crash" hingegen steht das "Metaverse" als Blaupause des sozialen Webs, als alltäglicher Ort des Repräsentierens, Handelns, Lebens. Doch auch Stephensons Cyberpunk-Klassiker handelt letztlich schon in seinem Titel vom digitalen Kater: vom tödlichen Absturz, vom Crash back to reality. Der Mensch, so zitiert Stephenson den legendär kontroversen Bewusstseinsarchäologen Julian Jaynes, ist auch Software. Das wussten schon die sumerischen Götter.

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1996.

Software ist aber nicht alles. Dass sich Hard- und Software, Körper und Seele zumindest der Spiele trennen lassen, ohne beides zu zerstören, beweist der italienische Student und Software-Entwickler Nicola Salmoria. MAME, der “Multiple Arcade Machine Emulator”, ist nicht das erste Emulationsprogramm für Arcade-Spiele, aber das bis heute größte und erfolgreichste. Der Zugang ist ebenso puristisch wie universell: Die Hardware von inzwischen über 1000 Arcade-Systemen wird auf niedrigem Level von modernen, weitaus mächtigeren Computern emuliert und detailgetreu in Software nachgestaltet. Die Genauigkeit dieser Abbildung geht bis zur Wiedergabe einzelner Mikrocontroller auf den Boards oder Cartridges, die auf den ersten Blick gar nichts mit der Funktionsfähigkeit der einzelnen Spiele zu tun haben müssen. Die virtuelle Wiedergeburt in MAME lässt Spiele überleben, die physisch schon verschwunden sind: verschrottet, verschollen, korrodiert. MAME ist vom spleenigen Studentenprojekt längst zum mediengeschichtlichen Archiv geworden, wird von Retrofreunden ebenso geschätzt wie von Historikern. Im Code von MAME überlebt nicht nur die obsolete Software, sondern auch ihr Körper, ihre Architektur in Plastik und Metall wird körperlos verewigt.

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2005.

An der École Polytechnique Fédérale de Lausanne beginnt Henry Markram mit Unterstützung von IBM die Arbeit am Blue Brain Project, dessen Ziel es ist, durch die Bildung groß angelegter Computermodelle das Verständnis des menschlichen Gehirns zu erweitern. Die Vision ist die vollständige, bis zur kleinsten biologisch-elektrochemischen Ebene einzelner Neuronen detailgetreue Simulation eines menschlichen Gehirns in Software.

Im selben Jahr veröffentlicht der britische Science-Fiction-Autor Charles Stross in seinem Roman “Accelerando” einen Versuch zur Aufklärung des Fermi-Paradoxons. Mit fortschreitender Technologisierung würde nicht Distanz, sondern Bandbreite das Hauptproblem intelligenter außerirdischer Spezies; statt Expansion ins leere All wäre somit eine radikale Introvertiertheit ins Virtuelle viel naheliegender und von unausweichlicher Konsequenz. Außerirdische Zivilisationen, so Stross, wären deshalb nicht “überall” - so das 55 Jahre zuvor postulierte Paradoxon -, weil sie sich als logisch folgenden weiteren technologisch-evolutionären Schritt nicht nach außen, also letztlich an uns Erdenmenschen richten würden, sondern in die eigenen virtuellen Innenwelten. Per Selbstvirtualisierung würden sich technisch ausreichend fortgeschrittene Zivilisationen viel eher autistisch in virtuelle Umgebungen, sogenannte “Matrioshka-Welten” zurückziehen als den Weltraum zu bereisen. “Where is everybody?” Zuhause, in den Welten hinter dem Bildschirm. Anläuten zwecklos.

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2010.

Nick Bostrom, mit 37 Jahren junger Professor der Philosophie in Oxford, stellt ein Gedankenexperiment auf wissenschaftliche Füße. Mit streng logischen Argumenten belegt der gebürtige Schwede, dass hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass wir selbst in einer Simulation leben. Das “Simulations-Argument” beruht - stark verkürzt - letztlich auf einer einfachen Grundannahme: Wenn wir annehmen, dass eine zufriedenstellend naturalistische Simulation der Realität mit technischen Mitteln überhaupt möglich ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir ausgerechnet nicht in einer solchen Simulation leben, sondern erst auf ihre Verwirklichung hinarbeiten, geringer als die, dass wir bereits jetzt  darin leben.

Im selben Jahr tritt ein User namens Jong89 voll Stolz vor den Vorhang und präsentiert der Community des ASCII-Strategie-Rogue-likes Dwarf Fortress sein Megaprojekt: Im Spiel, in diesem gewaltigen, mühsam zu bedienenden Moloch einer megalomanisch überambitionierten Zwergenweltsimulation, deren Gewirr aus Buchstaben, Zeichen und Farben nur den eingeschworenen Auskennern zugänglich ist, hat er seine Zwerge aus 672 Wasserpumpen, 2000 Baumstämmen und 8500 mechanischen Elementen einen digitalen Computer errichten lassen. Wenige Monate später verkünden Spieler des globalen Indie-Beststellers Minecraft denselben Erfolg: virtuelle Turing-Maschinen innerhalb virtueller Welten, innerhalb einer Realität, deren Fundamente den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit nach brüchig geworden sind.

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2014.

Das größte soziale Netzwerk des Planeten, bei dem jeder vierte lebende Mensch Mitglied und somit Ware ist, eine gewaltige Maschine zur Verarbeitung und zum Verkauf von Konsumenteninformation, erwirbt im Frühjahr für zwei Milliarden Dollar ein technologisches Startup-Unternehmen, das sich zuvor per Crowdfunding hoffnungsfroher Computerspieler finanziert hatte. Die Virtual-Reality-Brille Oculus Rift sei möglicherweise der Schlüssel zur nächsten großen sozialen Kommunikationsplattform, lässt der Social-Media-Riese Facebook verlautbaren.

An der offenen Beta des kommenden Science-Fiction-MMOs Destiny, die im Juli 2014 über die Bühne geht, nehmen zur gleichen Zeit 4.638.937 Spieler teil; in den farbenprächtigen, postapokalyptischen Landschaften des Shooters existiert kein Fermi-Paradoxon, hüllen sich die außerirdischen Intelligenzen nicht in Schweigen oder Matrioshka-Welten. Sie sind hier, auf unserem Planeten. Über 3,7 Milliarden Außerirdische begegnen als NPCs und Widersacher den Spielern in den nur zehn Tagen der offenen Beta von Destiny. Seit Computer Space ist klar, was das bedeutet.

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Epilog

Computerspiele sind Interfaces für Maschinen mit variablem Realitätspotenzial.

Je weiter die Technologie fortschreitet, je perfekter die Abbildung wird, je realistischer Physik, Optik, Simulation gelingen, bis hin zur wirklichkeitsgetreuen Emulation kleinster physischer Fehler als Bestandteil des körperlichen Dings, das hier in Einsen und Nullen zerlegt und unsterblich wieder zum Leben erweckt wird, desto willkürlicher wird die Trennlinie zwischen Realität und Virtuellem, zwischen Illusion und Wahrheit, zwischen Spiel und Wirklichkeit.

Maschinen umgeben uns, umhüllen uns wie der Schleier der Maya, der altindischen Göttin der Illusion, der die Natur der Existenz verbirgt. Es gibt Aliens, Götter und Geister in diesen Maschinen.

Die Frage ist nur: Wessen Geister?

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