Die Alphaversion der Matrix: Dwarf Fortress

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Wenn IT-Buchriese O'Reilly sich erstmals in seiner Geschichte dazu herablässt, eine Publikation einem einzigen Spiel zu widmen, weiß man, dass es sich wohl um einen Ausnahmetitel handeln muss. Und so ist es: Auf über 240 Seiten erklärt Autor Peter Tyson die ersten Schritte im wohl größenwahnsinnigsten, ambitioniertesten und faszinierendsten Spiel unserer Zeit. "Learn to play the most complex game ever created", heißt es im Untertitel, und jawohl, das ist es wohl: Dwarf Fortress ist der kühl in die Realität umgesetzte Versuch, eine gesamte Fantasywelt prodezural zu simulieren - von der Geologie über eine tausendjährige Vorgeschichte bis hin zu einzelnen Insekten und Muskelschichten und psychischer Verfasstheit seiner Protagonisten. Dwarf Fortress, so könnte man es griffig zusammenfassen, ist die Alphaversion der Matrix: eine komplett simulierte virtuelle Welt.

Schon 2008 habe ich in einem Artikel für Telepolis versucht, die Faszination dieses Spiels zu beschreiben, doch kein Grund, dem Autor dieser Zeilen allein zu glauben: Letztes Jahr hat die altehrwürdige New York Times der "Brilliance of Dwarf Fortress" einen Mehrseiter gewidmet, der immer noch extrem lesenswert ist.

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Wie kommt's also, dass DF trotz all dieser Lorbeeren so obskur ist? Warum findet man auch unter Spielfreunden so wenige, die sich daran wagen? Klare Sache: Die Grafik, die unintuitive Steuerung und die berüchtigte Lernkurve (eher: Learning Cliff) halten die allermeisten Spieler davon ab, sich daran zu versuchen. Vielleicht kann das angesprochene Buch "Getting started with Dwarf Fortress" doch einige Entdecker mehr dazu animieren, sich an diesem großen Kultspiel zu probieren. Es zahlt sich aus.

Ja, es ist schwer, die Außergewöhnlichkeit von Dwarf Fortress so zu kommunizieren, dass man sich tatsächlich rantraut. Aber es wird immer wieder versucht (hier , hier , hier , hier ...). Statt das Spiel in seiner Mechanik genauer zu erklären - das schafft das O'Reilly-Buch viel besser -, ein paar atmosphärische Eindrücke. 

Dwarf Fortress sieht aus wie eine Tabellenkalkulation anno 1989 und steuert sich wie ein Kernkraftwerk 1978. Dahinter aber tut sich die Zukunft des Spielens im 21. Jahrhundert auf. Ehrlich: An den Ideen von Dwarf Fortress muss sich die zukünftige Welt des Spiels in den nächsten zehn Jahren erst messen. Denn DF lässt alle Freiheiten und erzählt immer neue Geschichten und Anekdoten.  

Kürzlich wurde mein Bürgermeister Aban Kodolin wahnsinnig. In einem Anfall blinder Wut verletzte er ein Haustier, das sich in die große Halle verirrt hatte. Das bedeutet Strafe, das Gesetz gilt für alle; doch in blinder Wut schlug der Bürgermeister, der einer der Gründer dieser Festung und ihr legendärster Bergmann war, eine junge Rekrutin der Festungswache, die ihn zum Antritt  seiner Strafe in den neu erbauten Kerker abführen wollte, mit wenigen Faustschlägen tot.

Jetzt vegetiert er in der Zelle, attackiert besuchende Kollegen, wirft seine Kleidungsstücke umher und zerstört die Möbel. Zon Zolthan, der Tischler, hat seine Aufgaben vorübergehend, bis zur nächsten Wahl, übernommen.

Dwarf Fortress ist ein Terrarium, eine Ameisenfarm, deren Geschicke man leitet. Die bescheidene AI der Zwerge  ist eine eigene Herausforderung, doch DF  lässt seine  Figuren durch außergewöhnliche Charakterisierung lebendig werden; ein Screenshot sagt mehr:

Man sitzt vor dem wuselnden Ding und staunt. Man verfolgt seine Zwerge bei der Arbeit, gibt ihnen neue Aufgaben. Man plant: eine Bewässerungsanlage, neue Räumlichkeiten, eine Pumpenanlage, neue Verteidigungsanlagen, komplizierte Fallen. Man trainiert Wachhunde, betreibt Ackerbau, versucht der wachsenden Katzenschar Herr zu werden.  Man setzt seine Festung aus Versehen unter Wasser, oder schlimmer noch: unter Lava. Man verhungert, weil die Händler auf dem Weg von Tieren angegriffen wurden und schon zwei Winter nicht kommen. Man stöhnt über ankommende Einwanderer, die verköstigt und beherbergt und beschäftigt werden müssen. Man erträgt die Kapriolen der einwandernden Adeligen, die Sonderwünsche über Sonderwünsche äußern.

Man übersieht die letzte, nicht fertiggestellte Lücke in der neu errichteten Außenverteidigung und muss in den Korridoren seiner Festung gegen belagernde Trolle kämpfen. Man gräbt zu tief nach wertvollen Erzen und sieht sich mit grotesken Unterweltbestien konfrontiert, deren giftiger Atem Stollen um Stollen verpestet. Man verliert Zwerge an einen unbekannten Vampir, der sich geschickt als normaler Zwerg getarnt hat. Man stirbt tausend Tode.

Das offizielle Motto des Spiels? "Losing is fun." Und ja, es macht Spaß: Es gibt kein Spielziel, aber unendlich viele Möglichkeiten , zu scheitern. Und dann beginnt man von Neuem, mit neuen Ideen, bewährten Strategien und ausgefallenen Architekturideen.  Und jedes, wirklich jedes Spiel ist anders.

Die Zukunft des Spielens, so darf man hoffen, liegt in Sandbox-Spielen wie DF, die es verstehen, in unendlicher Variation immer neue Herausforderungen zu generieren, und das auf mittlere Sicht im Massively-Multiplayer-Genre - und mit dieser Meinung bin ich nicht ganz allein. DF ist noch im Alpha-Stadium; ab der Beta soll es vielleicht mehr Grafik, aber sicher bessere Bedienbarkeit geben. Im Endeffekt soll das Spiel eine gesamte Welt mit Geschichte, verschiedenen Zivilisationen und dynamischer Politik werden - ein ehrgeiziges Ziel, das man dem Zweimann-Entwicklerteam aber nach dem bisher Gebotenen voll Ehrfurcht zutrauen kann.

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Die Brüder Zach und Tarn Adams arbeiten fernab aller Studios seit Jahren allein an dem Projekt; Zach hat vor etwa fünf Jahren seinen Job als Mathe-Professor an einer texanischen Uni gekündigt und lebt seitdem von Spenden aus der DF-Community. Sein Zeitplan für die Fertigstellung des Wahnsinnsprojekts ist ebenso realistisch wie ernüchternd: 20 Jahre wird es wohl noch dauern. Bis dahin bieten aber die Alphaversionen ein Spielerlebnis, das einzigartig ist.

Protip: Anfängern sei das Lazy Newb Pack ans Herz gelegt, das mit vorinstallierten Grafiksets und Tools den Einstieg erleichtert.

 
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