Digitaler Determinismus

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Erst kürzlich habe ich Korsakovia als Mod-Experiment erwähnt, bei dem spannende neue Fragen zum Thema Spielen gestellt werden; da ist fast es unvermeidlich, auf ein weiteres Ausnahmespiel hinzuweisen, auch wenn auch dieses schon etwas älter ist. Letztes Jahr hat die Half-Life 2-Mod The Stanley Parable meine Synapsen zum Anspringen gebracht. Und während es in Korsakovia um die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung geht - ein klassisches SF-Thema -, geht The Stanley Parable noch philosophischer zur Sache: Egal, ob es die Realität gibt oder nicht - können wir uns überhaupt frei entscheiden?

Links oder rechts? Brust oder Keule? Ja oder nein? Gut oder Böse? Sein oder Nichtsein? Ganz schön viele Fragen, ganz schön viele Entscheidungen. Ein Spiel, so lautet Sid Meiers klassische und (von mir) oft bis zur Ermüdung zitierte Definition, ist "eine Reihe interessanter Entscheidungen". Welche Entscheidungen das sind, ist Sache der Spieldesigner, und die Bandbreite der Entscheidungsfreiheit ist so groß wie das weite Feld Games selbst. Von reflexhaften, fast unwillkürlichen Entscheidungen im Twitch Gameplay bis hin zu ausgetüftelten,monatelangen Intrigen in Strategiespielen reicht die Palette, mit allen Abstufungen, die sich von Moorhuhn bis Civilization ergeben.

Und dann gibt es noch narrative Spiele, also solche, die im Gegensatz etwa zu reinen Action- oder Sandbox-Strategiespielen eine Geschichte erzählen - doch wie verträgt sich die Idee des Autors mit der Entscheidungsfreiheit des Spielers? Anhand Bioshock und Prince of Persia lässt sich dieses Dilemma des "digitalen Determinismus" näher beleuchten - wie direkt The Stanley Parable damit umgeht, sollte allerdings jeder für sich selbst herausfinden.

 

Bioshock: Die Illusion des freien Willens

Kaum ein Titel hat sich - oberflächlich betrachtet - derart mit dem Dilemma der Entscheidungsfreiheit befasst wie 2K Games' Bioshock-Reihe. Es sind moralische Entscheidungen, die in dem gelungenen und extrem erfolgreichen Spiel aus dem Jahr 2007 im Zentrum stehen sollen. Und doch, so könnte man provozierend feststellen, stolpert der Triple-A-Titel trotz aller Ambition über sein philosophisch heimtückisches Thema. Wie in Peter Molyneux' Fable-Reihe oder in Black & White beeinflussen die Entscheidungen über die jeweilige Spieltaktik oder über Gedeih oder Verderb der Little Sisters den Fortgang der Spielhandlung nur unwesentlich - am Ende des linearen Spiels stehen, ganz Genrekonvention, lediglich drei verschiedene Endvarianten. Selbst narrative State-of-the-Art-Titel wie Heavy Rain sind so betrachtet nur elektronische Varianten des "Choose Your Own Adventure"-Prinzips.

Bei Bioshock zeigt sich aber ironischerweise der narrative Höhepunkt des Spiels (hier zur Erinnerung auf YouTube), der Plot-Twist um die Fernsteuerung des Spielers durch die hypnotische Phrase "Would you kindly ...?", streng genommen als vertane Gelegenheit, das philosophische Thema des Spiels - und die Nichtexistenz der Entscheidungsfreiheit innerhalb eines erzählerischen und spielmechanischen Gerüsts - handfest zu beweisen: Ausgerechnet hier nimmt Bioshock zum Wohl des Narrativs dem Spieler die Kontrolle über die Aktion der Spielfigur aus der Hand und zeigt in einer Cut-Scene, was wir sowieso früher oder später wohl von selbst, aus eigenem Antrieb, um das Spiel voranzutreiben, getan hätten - Moral hin oder her. Als Spieler stecken wir immerhin in einem linearen Irrgarten mit nur einem Ausgang, der zum Weitergang der Handlung führt. "A man chooses - a slave obeys", wie Andrew Ryan in seinem Monolog formuliert - doch der Spieler gehorcht in Bioshock eigentlich nicht dem Bösewicht Atlas, sondern dem Spieldesign. Denn auch zuvor im Spiel waren es effektiv nicht hypnotische Befehle, die uns wie ferngesteuert durch Rapture geführt hatten, sondern die impliziten Regeln eines linearen Irrgartens. Es bleibt also der Autor, der regiert. Denn der Spieler läuft letztlich auf Schienen - freiwillig.

288Dooming the world for the 100% achievement.

Prince of Persia: Weltuntergang als Option

Umso verblüffender ist es als Gegenbeispiel, ausgerechnet in einem besonders linearen Spiel wie Prince of Persia (2008) überraschend ganz zum Schluss vor eine wirkliche Wahl gestellt zu werden (etwas zusammengekürztes Video hier). Der Bösewicht ist besiegt, doch die Begleiterin Elika ist tot - und während der Abspann läuft (!), können wir den Prinzen, mit Elikas leblosem Körper in Armen, nach draußen steuern. Um sie wiederzubeleben, müssen wir den gesamten Erfolg des Hauptspiels zunichte machen - und zwar nicht per Ja/Nein- Entscheidung oder gar per Cutscene. Mühsam und vom Spiel unkommentiert kann sich der Spieler dazu entscheiden, alle zuvor geretteten Lebensbäume zu vernichten und so die Welt der Zerstörung preiszugeben, um Elika zu retten. Wer will, könnte hier, so suggeriert der bereits völlig abgelaufene Abspann, auch einfach Escape drücken und das tragische Ende akzeptieren.

Anders als Bioshock, das sich den freien Willen als Thema wählt und seine spielmechanisch vorgegebene Linearität durch den Hypnose-Twist legitimiert, überrascht das ansonsten wegen seiner nur vorgetäuschten Nichtlinearität und seines "One-Button"-Gameplays gescholtene Prince of Persia just am Ende mit einem interessanten Dilemma: Soll ich die Welt rettten - oder das Mädchen? Klar ist das im Kanon des Erzählens und unserer an Hollywood geschulten Weltsicht eine "No na"-Frage, doch immerhin kann sie der Spieler selbst beantworten - und einfach das Spiel verlassen. So betrachtet bietet Prince of Persia eine interessante Pointe, die allerdings, wie offene Enden generell, vom Zielpublikum eher weniger geschätzt wurde: Was machbar ist, wird gemacht - und tatsächlich endet das Spiel so mit eben der Katastrophe, die man als Spieler verhindern sollte. Anders gedacht: Nur durch das Nichtspielen, durch das Beenden und das bewusste Auslassen des weiterhin vorhandenen Contents, ließe sich Prince of Persia "gewinnen".

The Stanley Parable: Decisions, decisions

Warum nun der lange Umweg in die Wühlkiste der Games-Geschichte? Es ist ein Grundproblem des rezensionslastigen Journalismus: Wie bei Molleindustrias Depressions-Flashgame Every Day The Same Dream lässt sich auch über The Stanley Parable selbst wenig sagen, ohne das Spielerlebnis zu beeinflussen oder gar zu zerstören. In der Gestalt Stanleys, eines anonymen Büroarbeiters, der völlig zufrieden mit seinem monotonen Dasein ist, wird der Spieler mit einer außergewöhnlichen Situation konfrontiert: Eines Tages scheint einfach jedermann in Stanleys Büro verschwunden. Kommentiert von einem Erzähler aus dem Off macht sich Stanley daran, herauszufinden, was passiert ist

Die gratis downloadbare Mod für Valves Source-Engine ist weniger Spiel als vielmehr ein faszinierendes narratives Experiment. Und im Unterschied zu Bioshock und Prince of Persia, die beide das Dilemma des freien Willens des Spielers innerhalb eines linearen Gerüsts letztlich nur halbherzig behandeln, bringt es die Frage nach der Möglichkeit freien Entscheidens und die Art, wie wir Spiele spielen, beeindruckend auf den Punkt. Der Macher der Mod, der 22-jährige US-amerikanische Filmstudent David Wreden, nennt im Interview mit Wired ausdrücklich ein Ziel seines Projekts: "Mess with the player’s head in every way possible".

Das ist gelungen. Es dauert nur eine knappe Stunde, bis man The Stanley Parable mehrere Male durchgespielt und alle variablen Enden gesehen hat, doch Wredens Antworten auf die Fragen nach der Entscheidungsfreiheit im linearen Irrgarten digitalen Spielens sind ebenso überraschend wie pointiert und unterhaltsam. Spielefreunde mit Hang zur Reflexion sollten unbedingt einen Blick riskieren. Wers ausprobiert, kommt zu einem Schluss: Im interaktiven Geschichtenerzählen sind noch längst nicht alle Pfade beschritten.

Eine kürzere Version dieses Text erschien 2011 ursprünglich für fm4.

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