“Es ist nur ein Spiel”: Eine Ausrede, die nicht mehr gilt

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Dieser Kommentar erschien zuerst für den GameStandard.

Fast endlos breitet sich Bolivien vor mir aus. Berge, Täler, Flüsse, Regenwald, kleine Dörfer und größere Ansiedlungen. Man merkt es “Ghost Recon: Wildlands” an, dass viel Sorgfalt und Liebe in die möglichst realitätsgetreue Abbildung dieses paradiesischen Fleckchens Erde gesteckt wurde, dass Satellitenkarten, Fotos, Natur und Architektur des südamerikanischen Landes von talentierten Grafikern und Gestaltern mit Geduld zur passend exotisch-rauen Sandbox gestaltet wurden. Realismus, das wissen sowohl die Entwickler als auch die Fans, ist wichtig, um das Eintauchen in die grimmige Welt der Tom-Clancy-Thriller möglichst lebensnah wirken zu lassen - in Sachen Hightech-Waffen, Ausrüstung, Militärjargon und Umgebung.

Dass der auf Coop getrimmte Taktikshooter an anderer Stelle den Realismus großzügig links liegen lässt, geht bei so viel Detailgenauigkeit leicht unter. Die mexikanischen Drogenkartelle, die dieses Bolivien bevölkern und großflächig “eliminiert” werden müssen, sind wohl eher wegen ihrer Bedeutung in US-amerikanischen Film- und Serienhits und, vermutlich, wegen ihrer durch Trump bedingten Medienpräsenz die Bösewichte in einem Land, dessen Hauptstadt immerhin über 5000 Kilometer von Mexico City entfernt liegt. Egal - der virtuelle “War on Drugs” schert sich nicht um solche Details. Bolivien ist aus der Sicht der Spielemacher für den durchschnittlichen Videospielkonsumenten wohl sowieso nur ein weiterer beliebiger Hinterhof der USA, ein hübsches, aber suspektes Schwellenland, in dem Verbrechen und Armut regieren. Kein Wunder, dass die bolivianische Regierung sogar auf diplomatischem Weg Protest gegen diese Darstellung eingelegt hat.

“Richard Nixons einst ausgerufener ‘War on Drugs’ scheint 45 Jahre später noch genauso umstritten wie aussichtslos zu sein. Die Gefängnisse quellen zwar über, harte Drogen sind aber so weit verbreitet und für die Kartelle so lukrativ wie eh und je. Für die schärfsten Kritiker des US-Drogenkriegs war und ist er nicht mehr als ein Propagandavehikel, um im Ausland mit imperialistischer Schlagkraft politische Interessen durchzusetzen”, bemerkt Kollege Zsolt Wilhelm treffend in den einleitenden Worten zu seinem Review des Spiels. Für “Wildlands” und seine Spielerinnen und Spieler existiert dieses Hinterfragen allerdings nicht. Die bösen Kartelle und ihre bösen Handlanger werden von guten amerikanischen Helden militärisch effizient und in Massen ausgeschaltet - dass am Spielende alles doch ein bisschen komplexer gewesen sein soll, ist kaum mehr als ein halbherziger Epilog.

Spätestens bei diesem Befund stehen gewöhnlich so manche Spielefreunde voller Empörung auf. Military-Shooter wie jene der Tom-Clancy-Reihe sind eben kein Seminar über amerikanische Außenpolitik, sondern schlicht Unterhaltung. Ist doch nur ein Spiel! Wichtig ist sowieso nur der Spielspaß, man muss nicht jedes Unterhaltungsprodukt problematisieren und überhaupt solle man das alles nicht so ernst nehmen. Gegenüber Reuters erklärte im Gefolge der erwähnten diplomatischen Querelen ja auch der französische Hersteller Ubisoft, dass es sich bei “Wildlands” um ein fiktives Werk handele und man auf der Suche nach einer pittoresken Kulisse Bolivien nur aufgrund seiner "fantastischen Landschaft und Kultur" ausgesucht habe. "Wenngleich das Spiel eine fiktive Geschichte erzählt, die nicht die Realität in Bolivien widerspiegelt, hoffen wir, dass unsere Spielwelt der wunderschönen Topographie des Landes gerecht wird", heißt es in einer Stellungnahme. Na also! Es ist “nur ein Spiel”.

“Es ist nur ein Unterhaltungsprodukt. Es hat eigentlich überhaupt keine politische Botschaft.”

Mit etwa denselben Argumenten versuchte man vor etwa einem Jahr bei einem weiteren großen Tom-Clancy-Vehikel die Wogen zu glätten. Als vor Release von “The Division” die Frage gestellt wurde, ob und inwiefern das von Unruhen, Terror und Bombenanschlägen verwüstete New York des Spiels irgendwie mit den Bildern von den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in Beziehung zu setzen wäre, reagierte Julian Gerighty, Creative Director des Spiels, mit blankem Unverständnis. Ein New York in Chaos, mit Straßen voller Toter und verwüsteten Häuserblöcken, eine menschengemachte, die Zivilisation erschütternde Katastrophe - wieso, bitte, solle man da Parallelen zu 9/11 sehen? “Schlussendlich ist es nur ein Videospiel”, erklärte Gerighty mit entwaffnender Naivität. “Es ist nur ein Unterhaltungsprodukt. Es hat eigentlich überhaupt keine politische Botschaft.”

Das sahen einzelne Kritiker durchaus anders. In einem weiteren vielbeachteten Artikel für KillScreen bescheinigte Gareth Damian Martin “The Division” gar eine “perverse Ideologie” : Die Gegnerschaft bestehe aus “Plünderern”, die in Slang und Aussehen unverkennbar nach Jugendlichen aus der (schwarzen) Unterschicht modelliert waren, andere Gegner sind Gefängnisinsassen, aber auch ehemalige Stadtbedienstete. Die Spielerinnen und Spieler halten die “Ordnung” aufrecht, indem sie letztlich jene Art Klassenkampf führen, der - gerade in rechtskonservativen Kreisen der USA - ständig als paranoide Angstfantasie beschworen wird: wir mit Besitz gegen die “da unten”, gegen eine kriminelle Unterschicht, die bereits da ist und nur auf den Zusammenbruch von Law and Order wartet. Dass mit den “Cleaners” auch frühere städtische Arbeiter zur zu eliminierenden Gegnerschaft gehören, erklärt sich übrigens durch deren reale historische Stellung als Bollwerke der amerikanischen Gewerkschaftsbewegungen.

Keine politische Botschaft? Nur ein Unterhaltungsprodukt? Dem würde der vor vier Jahren verstorbene Tom Clancy wohl vehement widersprechen.

Der Bestsellerautor Tom Clancy, dessen Name schon 42 Spiele als Franchise schmückt, war mehr als nur begabter Politthrillerautor. Obwohl er selbst niemals im Militär oder Geheimdienst tätig war, wird er vor allem wegen seiner technischen Detailgenauigkeit geschätzt; er selbst positionierte sich politisch stets eindeutig als konservativer Republikaner. Kritik an der interventionistischen Außenpolitik der USA oder an anderen republikanischen, im europäischen Kontext durchaus rechts zu nennenden Positionen haben weder er noch seine Romanhelden jemals geäußert.

Der glühende Fan von Ronald Reagan - dieser outete sich übrigens umgekehrt als Leser seiner Romane - meldete sich zum Beispiel auch nach 9/11 mit der Anklage zu Wort, demokratische und linksliberale Politiker trügen wegen ihrer ablehnenden Haltung zu den Geheimdiensten entscheidend Mitschuld am Terroranschlag. Für Clancy war der massive finanzielle Ausbau des militärisch-industriellen Komplexes und damit der Militärmacht der USA stets der eigentliche Grund für den Sieg der USA im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion gewesen; die Faszination für Waffen, von Schusswaffen bis hin zu Flugzeugträgern und Atom-Ubooten, überträgt sich auf die Leser seiner Romane.

Tom Clancy, Namenspate von 42 Spielen, positionierte sich politisch stets eindeutig als konservativer Republikaner.

Sein Faible für Technik reichte übrigens bis ins Medium Videospiele: Seit über einem Vierteljahrhundert ist sein Name auch Spielern ein Begriff. Clancy vermarktete aber nicht nur seinen Namen und seine Bücher im neuen Medium, sondern gründete 1996 sogar ein eigenes Entwicklerstudio, Red Storm; sein Feedback und seine Gameplay-Ideen sollen der Legende nach in die ersten Spiele direkt mit eingeflossen sein.

Tom Clancys Politthriller - ob als Literatur oder im Spiel - tragen ihre strukturelle, letztlich reaktionäre, US-imperialistische Weltsicht und Ideologie nicht offensiv als Statement am Revers - wie man sieht, geht es sogar bisweilen durch, ihnen eine politische Agenda ganz abzusprechen. Stattdessen ist, auch bedingt durch die obsessive Faszination für militärtechnische Details, stets von “Realismus” die Rede: ein Realismus der Technologie, der Waffen, im Fall von “The Division” im hyperrealistischen Nachbau von New York, im Fall von “Wildlands” in jenem eines genau nachgestalteten exotischen südamerikanischen Schauplatzes.

Bei all diesem”Realismus” ist diese Ideologie dennoch da - als unhinterfragte Kulisse des “War on Drugs” in dem einen, als paranoide Bürgerkriegs-Apokalypse mit dem Aufstand der “Unterschichten” in dem anderen. Das sollten auch gewohnheitsmäßige Verteidiger von Spielen als “unpolitische” Unterhaltungsprodukte zumindest wahrnehmen können. Es ist nur ein Spiel? Eine politische Botschaft ist weder beabsichtigt noch gewollt? Warum dann nicht die reaktionäre Ideologie rauslassen, wenn sie sowieso nur als Tapete gedacht ist? Oder, alternativ, dazu stehen, dass man wie genug andere Unterhaltungsprodukte mit Absicht eine - eben konservativ-reaktionäre - Weltsicht propagiert?

Stattdessen: alles eigentlich ganz unpolitisch. Das betrifft natürlich nicht nur Spiele, auf denen Clancys Namen prangt. “Bioshock: Infinite” stellt vordergründig Rassismus und US-Nationalismus in einer fiktiven Paralleldimension an den Pranger, reproduziert aber zugleich Stereotype und kann sich letzten Endes nicht einmal dazu durchringen, den Widerstand gegen diese Diktatur nicht als irgendwie ebenso böse hinzustellen.

“Deus Ex: Mankind Divided” brüstet sich mit Marketingschlagworten von “mechanical apartheid” als angeblich gesellschaftskritisch, verschenkt aber diese Chance, indem es den nur oberflächlich analogen Konflikt um letztlich wirklich gefährliche, übermenschlich starke Cyborgs mit der Unterdrückung realer Minderheiten gleichsetzt. Dass auf einem Artwork für den Cyberpunk-Shooter der politische Slogan “Black Lives Matter” durch “Augs lives matter” ersetzt wurde, zeigt, welchen Stellenwert politische Themen in den meisten Blockbustern haben: Sie sind eine Tapete, die Bedeutung, “Realismus” und Zeitgeistigkeit vorgaukeln sollen - eine tatsächliche politische Position beziehen die großen Studios aber schon deshalb nicht, um keine Kunden zu vergraulen. Die Standardreaktion, wenn darauf hingewiesen wird? “It’s just an entertainment product.”

Ironischerweise muss man dem größten Blockbuster der Military-Shooter-Nische, der “Call of Duty”-Reihe, hier sogar anerkennend zugestehen, dass er zumindest zeitweise in seinen Storylines die Gefahren der militärischen Übertechnisierung oder von privaten Sicherheitsdienstleistern thematisiert hat - auch wenn im Befehlsempfängerdasein als Spieler der Kampagne kaum etwas davon zu spüren ist. Am ernsthaftesten versuchte sich das ansonsten mittelprächtige “Mafia 3” an einer Auseinandersetzung mit seinem realen historischen und gesellschaftlichen Material: Vor Spielbeginn weisen die Entwickler darauf hin, dass sie den abstoßenden Rassismus im Spiel auch deshalb ungeschminkt darstellen, weil er so nach wie vor real existiert. Nur ein Spiel? Ja, aber eines, das dies nicht als Ausrede dafür benutzt, keine Position zu beziehen.

Natürlich: Ein Shooter ist nicht a priori politisch, und Spielen macht nicht automatisch zum reaktionären Militaristen. Aber anzuerkennen und auszusprechen, dass die in vielen Spielen transportierten Weltbilder nicht wertfrei und apolitisch sind, wäre ein Fortschritt. Weg von der sturen Weigerung, diese Dimension überhaupt sehen zu wollen, hin zu einer Ehrlichkeit, die einem Kulturgut und wichtigen Medium angemessen wäre. Denn diese Dimension ist da - auch wenn Studios und viele Spielerinnen und Spieler noch so sehr beteuern, dass sie für sie irrelevant sei.

Wer “Realismus” will, kommt an Ideologie nicht vorbei.

Spiele, die politische Themen behandeln und sich in Details um größtmöglichen Realismus und Nähe zur realen Welt bemühen, können nicht anders, als ideologische Aussagen zu treffen. Die Ausrede, “es ist ja nur ein Spiel” und man habe sich eigentlich gar nichts überlegt, sollte man sich angesichts der Millionenbeträge, die in die Gestaltung der jeweiligen Titel fließen, eigentlich nicht mehr anhören müssen. Es wäre höchste Zeit, dass die Publisher dazu stehen, dass sie mehr als “nur Unterhaltungsprodukte ohne jegliche politische Botschaft” erschaffen. Ob sie es wollen oder nicht - und auch, ob sie es wissen oder nicht. Aus politischer Überzeugung reaktionäre Weltbilder zu festigen, ist argumentierbar; dies unabsichtlich und unüberlegt zu tun, allerdings nicht.

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