Fünf Stadien des Sterbens: A Mother's Inferno
Glückliches Dänemark: DADIU, die "National Academy of Digital, Interactive Entertainment", führt dänische Universitäten und Kunstschulen im Rahmen der (experimentellen) Games-Entwicklung zusammen. Ziel ist es, ähnlich wie im Film durch inhaltliche und ästhetische Experimente der dänischen Games-Industrie ein akademisches Versuchslabor zur Verfügung zu stellen.
Die Spiele, die im Rahmen der Abschlussarbeiten an dieser Institution entstehen, sind schräge Experimente, die es sich ohne jeden kommerziellen Druck erlauben können, das Feld zwischen Games, Kunst und virtuellen Erfahrungen abzuwandern. Die allesamt kostenlos spielbaren sechs Abschlussarbeiten im Herbstsemester 2011 sind in sechswöchigen Workshops entstanden und reichen von originellen surrealistischen Puzzle-Spielen bis hin zu infernalen Rennspielen im Roberto-Rodriguez-Style.
A Mother's Inferno ist ein kurzes Stück First-Person-Survival-Horror, das in psychedelischen Bildern und fragmentierter Erzählweise auf höchst intelligente Art und Weise zur Interpretation auffordert. Wegen der kurzen Spieldauer (maximal 30 Minuten) ist es sicher sinnvoll, das Games-Experiment vor dem Weiterlesen selber zu erleben. Download hier!
Ein Zug, eine Mutter und ihr Sohn: Schon in den ersten Sekunden von A Mother's Inferno wird der eigene Sohn von übernatürlichen Mächten entführt, der (Alb-)Traumlogik folgend hetzt der Spieler in der First-Person-Perspektive durch den sich in ein Höllenszenario verwandelnden Zug. Bewaffnet mit einer Glasscherbe sieht man sich zunehmend grotesker werdenden Dämonen gegenüber, folgt traumwandlerisch den bizarren Anweisungen der Unterweltbewohner und verliert zunehmend den Boden der Realität unter den Füßen. A Mother's Inferno ist auf den ersten Blick weniger Spiel als vielmehr interaktiver Albtraum, der sich zunehmend surreal, düster und verstörend gibt; ähnlich wie Tale of Tales' The Path steht die Erfahrung der Narration im Vordergrund, während die spielerischen Elemente zurücktreten.
Als Erstes beeindruckt - ebenso wie bei The Path - die gelungene Atmosphäre, sowohl in Sounddesign als auch Grafik: Der durch eine Höllenlandschaft rasende einsame Zug wird von vorbeihuschenden Lichtern eindrucksvoll schlaglichtartig erleuchtet, das Abgleiten vom Alltäglichen, Realen ins psychedelisch Groteske vollzieht sich schrittweise, aber immer rasanter. Die Grafik, zu Beginn noch am Realismusanspruch etwa eines Half-Life 2 zu messen, wird mit düsteren Post-Processing-Filtern zunehmend dunkler, schemenhafter, unschärfer, um schließlich ganz ins invertierte Negativ umzuschlagen, in dem man sich nur vage orientieren kann - wie die eigene Spielfigur, die sich, der Albtraumlogik folgend, die Augen ausgestochen hat, um den Weg zu ihrem Sohn zu finden.
A Mother's Inferno erklärt wenig, verwirrt den Spieler mit für Sekundenbruchteile aufblitzenden Erinnerungen und kryptisch erscheinenden Hinweisen, lässt aber auch durch die Unmöglichkeit des Game Over das Trial and Error zum Teil der Spielerfahrung werden. Die Begegnungen mit den fünf Dämonen, die sich der Mutter auf dem Weg zu ihrem verschwundenen Sohn in den Weg stellen, sind auf den ersten Blick grotesk, surreal und jenen aus Größen des Mediums wie Silent Hill 2 verwandt. Auf den zweiten Blick aber zeigt sich, dass hier mit großem Mut und Selbstbewusstsein an etwas ganz anderem gearbeitet wird.
Die große Leistung von A Mother's Inferno liegt in seiner handfesten Symbolik, die sich schrittweise bis zum Ende mit Schrecken enthüllt. Die Reise in diese innere Hölle lässt sich bei näherem Hinsehen durchaus entschlüsseln: A Mother's Inferno handelt nicht nur oberflächlich vom Verlust und wie damit umgegangen wird, sondern nimmt mit den Mitteln des Spiels kaum verrätselt tatsächlich die fünf Stadien des Sterbens nach Kübler-Ross als narratives Gerüst: Es ist der Weg jeder Trauer, der von Verleugnung, Wut, Verhandeln und Depression bis hin zur Akzeptanz des Verlusts führt. Im Spiel wird jede dieser Phasen durch einen Dämon verkörpert, die sich dem Spieler in den Weg stellen.
Dabei gelingt A Mother's Inferno eine beeindruckende Visualisierung eines abstrakten Konzepts der Psychologie: Der Dämon der Verleugnung ist ein monströses Huhn, das auch ohne Kopf weiter herumläuft, der Dämon der Verhandlung (Bargaining) verlangt das Augenlicht der eigenen Spielfigur, und die Depression ist eine riesige Schnecke, die uns träge und nur schemenhaft erkennbar nach sich herzieht.
Die Umsetzung dieser Konzepte in eine spielerische Albtraumwelt wäre schon beeindruckend genug, doch im Kampf mit dem letzten Dämon, der Akzeptanz, dreht sich A Mother's Inferno förmlich in den Händen des Spielers: Die riesige Albtraumgestalt, die es zu bekämpfen gilt, ist eine monströse Mutterfigur, der innere Kampf richtet sich tatsächlich gegen die verzweifelt nach ihrem Kind suchende Mutter selbst. Hier fügen sich auch die nur scheinbar unzusammenhängenden Erinnerungsblitze ins Bild, die vage und andeutungsweise von Gewalt der Mutter gegen das Kind erzählen. So steht am Schluss des Spiels auch nicht die Wiedervereinigung der beiden; vielmehr bleibt die Kamera auf Abstand, bleibt das Kind außer Reichweite; es gibt keinen Entführer.
Im Gegensatz zu The Binding of Isaac, das ebenfalls mit den Themen Kindesmisshandlung und Elternschaft spielt, findet sich der Spieler hier nicht in der Figur des Kindes und seiner Fluchtfantasie, sondern in der Rolle einer Täterin, die sich dieser Täterschaft aber erst im und durch das Spiel bewusst wird - und die Spieler mit ihr. Starker Tobak also, und auch stilistisch ein überzeugendes narratives Experiment. A Mother's Inferno lässt mehr aus Dänemark erwarten - sehr schade, dass derartige Kreativschmieden mit staatlicher Unterstützung nicht öfter zu finden sind.