The Games That Never Were: Gene Wolfe's "Urth of the New Sun"

444(c) Bruce Pennington

Stagnation, Aufgewärmtes, Sequels: Wer sagt, dass es bei Games nicht noch Platz für revolutionär Neues, für Unerwartetes, Abwegiges oder schlicht: das Unmögliche geben darf? The Games That Never Were ist ein Gedankenexperiment: Spiele, wie es sie nie gegeben hat und so auch wohl nicht geben wird. Nummer eins auf meiner Wunschliste: Ein First-Person-Explorer im Universum des besten unbekannten SF-Autors der Gegenwart.

Eine bedrohlich fremd-vertraute Landschaft, eine Welt, so weit in der Zukunft, dass sie wieder ins Archaische abgeglitten ist, eine Handlung, die sich verzweigt, den Leser verwirrt und zum Interpretieren auffordert, und als Held ein unzuverlässiger Erzähler, der sich eines unfehlbaren Gedächtnisses rühmt, aber dem Leser nur die halbe Wahrheit erzählt: Willkommen in der Welt der Neuen Sonne, wo nichts so ist, wie es scheint.

Nein, mein Traumspiel wäre kein MMO oder RPG in dieser Welt, und auch Action-geladene Schlachten gibt Gene Wolfes Vorlage, die Tetralogie "The Book of the New Sun",  nicht her. Ich geb's zu: Mein Traumspiel wäre das Kind zweier Nischen, die als Schnittmenge möglicherweise exakt nur mich selbst ergeben würden: die hoch literarische, doppelbödige Science Fiction des genialen Gene Wolfe einerseits und die freie, meditative Erforschung einer digitalen Welt, wie sie Dan Pinchbeck in Dear Esther oder bald wohl in Everone's gone to the Rapture perfektioniert.

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Die Handlung der Bücher folgt Severian, einem Schüler der Gilde der Folterer, in eine archaisch anmutende Welt der fernen Zukunft. Fast alle technischen Errungenschaften gehören einer lange versunkenen Zeit an und die Menschheit lebt in einer komplexen feudalen, mittelalterlich-frühneuzeitlichen  Sozialordnung, während die Sonne schwächer und schwächer wird. Wolfe enttäuscht konsequent alle, die simple Handlungsstränge, große Schlachtgemälde oder einfache Charaktere erwarten würden. Vielmehr liest sich der in der Ich-Perspektive verfasste Lebensbericht Severians wie eine Mischung aus Hermann Hesses "Glasperlenspiel", den phantastischen Miniaturen eines Jorge Luis Borges und dem Detailreichtum eines Thomas Pynchon. Die Handlung, die mit philosophischen Einschüben, märchenhaften Mythen aus der technologischen Vergangenheit und sogar einem allegorischen Theaterstück (!) versetzt ist, ist mehrfach verrätselt und stellt den Leser vor faszinierende Aufgaben - Aufgaben, die sich so auch dem Spieler stellen würden.

Gene Wolfe's Urth of the New Sun wäre ein First-Person-Explorer in der Art eines Dear Esther, ein interaktives Beinahe-Hörbuch, in dem seltene Actioneinlagen und Dialoge von stundenlangem Wandern und Erzählen aus dem Off unterfüttert wären, im Idealfall von einem Erzähler, der ebenso intelligent auf den Spieler reagiert wie jener von Bastion. Zu wenig Spiel für die meisten, ich weiß, doch dem aufmerksamen Beobachter und Zuhörer erschlösse sich nach und nach die Differenz zwischen dem, was ihm erzählt wird, und dem, was er selber beobachtet. 

Urth of the New Sun wäre ein Mind-Game, ein Adventure oder Puzzler, bei dem sich die Lösung der vielen Rätsel nicht in Achievements oder einem Levelaufstieg, sondern nur im Spieler selbst, als plötzliche Erkenntnis eines bisher verborgenen Zusammenhangs ergibt. Ein Kunststück, das übrigens auch den Wiederspielwert enorm steigern würde: Wie Gene Wolfe in einem Brief an Neil Gaiman definierte: "My definition of good literature is that which can be read by an educated reader, and reread with increased pleasure." Wer Wolfes Bücher gelesen hat, beginnt sie oft gleich ein zweites Mal - erst nun ergeben Passagen Sinn, die beim ersten Lesen noch missverständlich waren.

Urth of the New Sun wäre ein Mind-Game, ein Adventure oder Puzzler, bei dem sich die Lösung der vielen Rätsel nicht in Achievements oder einem Levelaufstieg, sondern nur im Spieler selbst ergibt

Es wäre eine bizarre Welt, in der sich der Spieler, begleitet von Severians Erzählung aus dem Off (Traumsynchro: Kiefer Sutherland im heiseren Flüsterton!), durch die Erinnerung des Folterers bewegt. Wie im Buch braucht es eine zweite Ebene der Interpretation; Severian erzählt in den Worten seiner Zeit, die einen anderen Blick auf die Welt bedingt als jene des Lesers. Nur indirekt, im Buch durch Beschreibung, im Spiel anschaulicher, eröffnen sich dem idealen Spieler andere Zusammenhänge, lösen sich die Rätsel, die der Text aufgibt, durch plötzliche Erkenntnisse: Die "Zitadelle", in der Severian seine Jugend verbringt, ist wider Erwarten eigentlich kein Gebäude, sondern ein gewaltiges, gestrandetes Raumschiff, einzelne Charaktere sind auf den dritten oder vierten Blick garantiert nicht menschlich und manche Handlungsdetails widersprechen ausdrücklich dem, was Severian in seiner Erzählung behauptet. Diese Aha-Erlebnisse zu haben, diese verborgene Schicht einer zweiten Wahrheit abseits des Erzählten zu verstehen, wäre eine Herausforderung, die in Zeiten von Achievements und konstanten On-Screen-Feedbacks fast nur im Kopf des Spielers stattfände.

Man könnte befürchten, dass ziemlich viel verbissenes Grübeln gefragt wäre, doch Wolfes Genie sollte sich auf ins Spiel übersetzen lassen: Es ist nicht nötig, ALLES zu verstehen, sondern optional - auch Dear Esther besticht als "offenes Kunstwerk" durch die Übereinanderlegung von Text und Erleben, ein Element, das in Spielen bisher so gut wie gar nicht erforscht ist. Thirty Flights of Loving, jenes nur 20 atemlose Minuten lange Tarantino-Thrillerchen, geht in eine interessante Richtung auf diesem Weg, und Nathan Grayson von RPS hat in seinem Artikel dazu ebenfalls etwas Relevantes zu sagen: 

The other benefit of leaving stories just open enough is a certain sense of mystique and possibility. I don’t know everything about the world, and that’s the point. My brain fills in the gaps of what it perceives as this giant, fully fleshed out place. ... We like stories and patterns. So we seek them out even where they may not be fully formed – or even exist at all.

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Urth of the New Sun wäre ein Spiel, das die Diskussion um "Fun" und wohl auch jene um "not-Games" in Schwung bringen würde; ein Mammutprojekt, in dem im besten, völlig unwahrscheinlichen Fall die Grafikpracht und Größe eines Skyrim mit der Atmosphäre eines Journey oder Dear Esther verschmelzen würden, und all das vor dem perfid verschlossenen Rätselgenie eines genialen Erzählers, der seinen Lesern nicht nur viel abverlangt, sondern auch alles zurückgibt.

"We believe that we invent symbols. The truth is that they invent us; we are their creatures, shaped by their hard, defining edges. When soldiers take their oath they are given a coin, an asimi stamped with the profile of the Autarch. Their acceptance of that coin is their acceptance of the special duties and burdens of military life--they are soldiers from that moment, though they may know nothing of the management of arms. I did not know that then, but it is a profound mistake to believe that we must know of such things to be influenced by them, and in fact to believe so is to believe in the most debased and superstitious kind of magic. The would-be sorcerer alone has faith in the efficacy of pure knowledge; rational people know that things act of themselves or not at all." 

 

 
Vielleicht wird sich das Medium Games noch dazu aufschwingen, solche Abenteuer zu ermöglichen. Bis dahin bleibt dies mein Spiel, das niemals war - und wohl auch niemals sein wird. 
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