Indie-Bredouille: The product
Es ist ein seltsamer Punkt erreicht, wenn den Sprechern auf einer Indie-Games-Veranstaltung wie der AMAZE Indie Connect in Berlin das Wort "game" weniger oft über die Lippen kommt als das Wort "product". Und genau jetzt befinden wir uns wohl tatsächlich an einer seltsamen Weggabelung im Leben des seltsamen Dinges, das allgemein mit dem Nichtbegriff "Indie Games" gemeint ist: Nie zuvor richtete sich das Augenmerk einer so großen interessierten Öffentlichkeit auf das alternative Games-Business, das seinen Namen ohnedies nur der Beschreibung seines Geschäftsmodells verdankt: Indies, das sind per Definition jene Entwickler, die keinem großen Publisher verpflichtet und damit unabhängig sind. Dass diese Definition Ein-Mann-Eigenbrötler wie Tarn Adams ebenso umfasst wie Games-Größen à la Valve, macht klar, wie unbrauchbar der Begriff Indie geworden ist. Braucht es neue Schubladen?
Schon die Keynote am Eröffnungstag der erwähnten AMAZE Indie Connect machte klar, dass der globale Erfolg der Independent-Games auch seine Schattenseiten hat. Jonatan Söderström, besser bekannt als Cactus und seit Jahren hyperproduktives Chaos-Wunderkind der Independent-Szene, zeichnete gleich zu Beginn ein ernüchterndes Bild: Die Freeware-Tage, so Cactus fatalistisch, in denen Indie-Developer ihre Spiele im Geiste der kostenlosen Verbreitung gratis zum Download zur Verfügung gestellt hätten, seien als Folge von Kommerzialisierung und Verbreiterung der Szene vorbei. Der auch kommerzielle Erfolg der Subkultur bedrohe dabei die Kreativität: "When money becomes an issue, uncreative types get in - to make money."
Klar sei sein nächstes Spiel auch "for money", und, ja, zugegeben, soo viel besser waren die Indie-Games dann auch zu Zeiten allgegenwärtiger Freeware-Angebote nicht, aber dennoch: Seit Minecraft, seit F2P und Micropayments ist Indie eben weniger Philosophie als Geschäftsmodell. Cactus, dieser so wahnsinnig junge, unkomfortabel verloren wirkende nuschelnde Eigenbrötler verkörperte die Identitätskrise, in der das Konzept "Indie" ausgerechnet zum Anlass der ersten europäischen Idependent-Games-Veranstaltung steckt.
Das war dann doch etwas deprimierend, umso mehr, als die folgenden Sprecher das mulmige Gefühl noch verstärkten: Free2Play sei der Königsweg zur Monetisierung, aber Tiny Tower würde seine Tower Bux zu günstig hergeben (O RLY?), als eigenes Start-up könne man sich nach cleverem Verhandeln mit den Majors dann auch eigene Büroräumlichkeiten leisten, in denen man - oh Gipfel der neuen Selbstständigkeit - sich dann auch selbst die Haare schneiden könne. Die Freiheit, die wir meinen?
Zum Glück konzentrierte sich der Rest des AMAZE-Programms in Workshops und Vorträgen auf Kreativität und die Weiterentwicklung des Mediums - und auf die Vernetzung der europäischen Indie-Games-Community. Und dass ausgerechnet Proteus verdientermaßen den ersten europäischen Indie-Award ever entgegennehmen durfte, ist auch ein Signal in die richtige Richtung: Experimenteller, verschrobener und avantgardistischer als das Soundexperiment zum Drinrumlaufen war kein Titel der Nominierten - es gibt sie, die Indie-Games, die das leisten, was der Mainstream in seiner Fixation auf Massentauglichkeit und Umsatz sich nicht zu tun traut.
Trotz allem bleibt der Befund einer Identitätskrise: Was sagt der Begriff "Independent" heute überhaupt aus? Es ist ein Marketingwort, eine Schublade, die weniger und weniger dazu geeignet ist, ihren Inhalt zu beschreiben. Dank digitaler Distribution sind Publisher nicht mehr zwingend nötig, und wie Anna Anthropy in ihrem Buch Rise of the Videogame Zinesters richtig ausführt, kann heute so gut wie jeder sein Spiel bauen und ins Netz entlassen. Somit ist ein gewaltiger Teil jener Do-it-yourself-Games-Kreativen, wie letztlich ja auch Cactus einer war/ist, nicht nur Independent - also von Publishern unabhängig -, sondern befindet sich großteils ganz abseits von dem, was man als Games-Business bezeichnet. Es ist eine Szene von Kreativen, Idealisten, begabten Dilettanten, Experimentierern, die manchmal von ihren Spielen leben können - meist jedoch nicht. Und es ist zu vermuten, dass sie von ihren Spielen nicht als the product sprechen.
Wer heute eine interessante Grundidee in der Source-Engine verwirklicht - wie etwa letztes Jahr prominent David Wreden mit seinem famosen The Stanley Parable - fällt streng genommen aus der rein wirtschaftlich orientierten Schublade Indie Games heraus. Eigentlich würde er ähnlich wie Dan Pinchbeck erst dann wieder als "Independent" gelten können, wenn er seine Mod als Standalone-Titel veröffentlichen würde - um dann mit anderen von Vlambeer bis Zynga (ja, auch die sind Indie) das zu bilden, was abseits von Call of Duty XIII: Shooting more brown People eben nicht im Saturn-Regal zu finden wäre.
Das Medium Games ist in einer paradoxen SItuation: Von außen betrachtet, also in den Augen all jener, die sich davon fernhalten, ist alles von "Killerspielen" bis zu Spider Solitär, ein homogenes, letztlich infantiles Feld an simpler Unterhaltung als Entertainment-Konsumartikel: the product, zu kaufen und zu konsumieren, vielleicht manches Mal mit Warnschildchen, ein anderes Mal als Zwischendurch-Snack für die Wartepause an der Bushaltestelle.
Für Beobachter von innerhalb der Szene tut sich hingegen paradoxerweise ein riesiges, bis zur Absurdität inhomogenes Feld an Subkulturen auf, in dem selbst Spezialisten untereinander wenig Anknüpfungspunkte finden. Eine Abtrennung der Welten in Mainstream und Indie - so sieht der bisherige Ansatz aus, der Vielfältigkeit begrifflich zu begegnen - war so lange plausibel, wie Produkte zu beschreiben waren. Die Unterschiedlichkeit dieser einzelnen Artefakte greifbar zu machen, ja, nur sie so weit einzuteilen, dass es irgendeinen Hinweis auf die Art des Erlebnisses, des digitalen Games überhaupt gibt - das schafft der Begriff Indie längst nicht mehr; zu groß ist das Feld, zu heterogen die Ansätze. Und das nicht nur zwischen Mainstream und Indie, sondern durchaus im Feld Indie selbst: Was hat Super Meat Boy mit SpellTower zu tun? Wo ist das Gemeinsame von Proteus und Fez? Was verbindet den Angry Birds-Enthusiasten mit dem Sadomaso-Club von Dwarf Fortress?
Was fehlt? Jedenfalls kein Label, das die Spielhaftigkeit seiner Vertreter abstreitet. Braucht es neue Schubladen, um den kommerziellen Zweig der Indie-Games-Szene vom fröhlichen Untergrund abzuheben? Wenn ja, welche? Avantgarde Games? Art Games? Experimental Games? Punk Games? Stoner Games? Hippie Games? Es geht nicht primär um "Kommerz vs Kunst" - aber "Independent" vs. "vom Publisher vertreten" kann wohl 2012 keine plausible Unterteilung mehr sein.