The Joy of ASCII: Brogue
Na gut, vielleicht muss man ein kleines bisschen krank sein. Vielleicht auch ein gutes Stück masochistisch. Möglicherweise schadet es auch nichts, einen gewissen Hang zum Obskuren zu haben, zum weniger Gefälligen, zu allen Dingen, die nicht sofort alle cool und super finden. Und nein, davon wird man weder blind noch bekommt man Kopfweh. Und ja, es macht einfach Spaß, wenn man sich nicht zu gut ist, einen ganzen Haufen Tastaturkommandos zu lernen und gefühlte tausend Mal zu sterben, ohne speichern zu können. Und das alles ganz ohne das verdammte Ding jemals durchzuspielen.
Die Rede ist vom seltsamen Reiz der Roguelikes, die mich faszinieren, seit ich im Jahr 1986 auf dem Amiga Rogue verfallen bin. Damals hatte ich noch keine Ahnung davon, dass das nur das Remake einer Spielidee war, die schon damals fünf Jahre alt war. Und noch weniger hätte ich mir damals gedacht, dass ich 26 Jahre später noch immer regelmäßig meinem Zwang zur Dungeon-Erkundung in sparsamster Grafik verfallen würde, als hätte ich eine Form digitaler Games-Malaria, die immer wieder mal ausbricht.
Aktueller Anlass: Brogue, ein Roguelike, das in seinem Style so minimalistisch wie schön ist.
Für all jene, die von diesem speziellen esoterischen Zweig der Gamesgeschichte keine Ahnung haben (shame on you!), eine kurze Vorab-Definition aus der Wiki:
Als Rogue-like, das heißt "ähnlich wie Rogue", bezeichnet man rundenbasierte Computer-Rollenspiele, bei denen man den Spielercharakter im Textmodus mittels der Tastatur durch ein Abenteuer steuert.
Die minimalistische Präsentation steht dabei oft im Gegensatz zur Komplexität der Spiele. Der Verzicht auf Grafik und Sound war zunächst von den technischen Möglichkeiten in den 1980er Jahren verursacht. Mittlerweile wird er ganz bewusst beibehalten, weil für die Entwicklung im Rahmen von nicht-kommerziellen Freizeitprojekten der Aufwand für Grafik und Sound doch sehr hoch ist. Die Schwerpunkte bei der Entwicklung liegen stattdessen auf den taktischen Rollenspielsystemen und Abenteuern.
Viele Rogue-ähnliche Spiele übertreffen dabei mit ihrer Spieltiefe kommerzielle Computer-Rollenspiele bei weitem. Es ist nicht selten, dass neue Spieler Monate oder Jahre bis zu ihrem ersten Spielgewinn benötigen.
Um es mal ganz kurz auf den Punkt zu bringen: Rogue-likes sind die Urahnen von Diablo. Oder andersrum: Diablo ist nichts anderes als ein grafisch aufgepepptes, aber dafür extrem vereinfachtes Roguelike.
Brogue ist insofern einsteigerfreundlich, als das Interface und manche traditionelle Aspekte radikal entschlankt sind. Es gibt viel weniger verschiedene Monster, mit der "Potion of Strength" steigert man seinen Charakter (für den es keine eigenen Klassen gibt), mit "Scrolls of Enchantment" verbessert man seine Waffen. Das wars auch schon - einfacher und eleganter war bisher kein Roguelike. Ganz Skeptische können das Spiel sogar zur Gänze mit der Maus bedienen.
Ein Hauptcharakteristikum der Roguelikes ist die prozedurale Zufallsgenerierung jedes neuen Spiels: Zum Spielstart werden jedes Mal komplett neue Levels, Gegenstände und Monster generiert. So bleibt jede Partie interessiert und es gibt keine Wiederholungen. Das ist auch nötig, denn eine weitere Tradition ist die anachronistische Härte eines altehrwürdigen Konzepts namens Permadeath: Der Tod des eigenen Charakters lässt sich auch nicht vom Speicherplatz wieder rückgängig machen. (Pst! Wehleidige wie ich schummeln seit jeher, indem sie Sicherungskopien der Savegames anlegen.)
Was Brogue außerdem bietet, ist ein äußerst bequemes Autoplay-Feature: Per Tastendruck auf "Auto-Explore" stapft der eigene Charakter computerkontrolliert durch die Hallen und fragt nur bei Sichtung von Gegnern nach - ein Feature, das ich inzwischen nicht mehr missen möchte. Noch weniger Handlungsbedarf bietet der "Autoplay"-Modus, bei dem sich das Spiel quasi von selber spielt - Automatic for the people, sozusagen.
Die Hauptrolle in Brogue spielt die Spielumgebung: Ganz traditionell steigt man Ebene um Ebene in einen finsteren Kerker hinab, um wieder einmal das Amulett von Yendor zu erbeuten. Waren die Dungeons in älteren Roguelikes oft simple rechteckige Kästen, bietet Brogue aber abwechslungsreiches Terrain mit Abgründen, Seen, Lava und Sumpfgebieten samt Pilzwäldern. Was das Spiel dabei auszeichnet, ist seine "Grafik". Es mag dem ein oder anderen unverständlich sein, wie ein Spiel, das nur aus dem ASCII-Charakterset besteht, ästhetisch punkten kann - immerhin ist nach wie vor der Spieler ganz traditionell durch ein @-Zeichen dargestellt, Goblins als "g" und Zaubertränke als "!". Durch clevere Farbgebung und ein dynamisches Beleuchtungssystem wirkt die Umgebung aber trotz dieser Beschränkung atmosphärisch und lebendig.
Beispiele gefällig? Zombies (wie könnte es anders sein werden sie als "Z" dargestellt) verströmen eine übelkeitserregende Wolke von kränklich-gelben Verwesungsgasen, Lava und Feuer tauchen die Wände und Figuren in oranges Licht und beim versehentlichen Schlucken von halluzinogenen Tränken (oder beim Kampf gegen Kröten ...) beginnen die Wände in allen Regenbogenfarben zu schillern. Dass man nur sehen kann, was im direkten Gesichtsfeld des Charakters liegt, gehört schon fast zum Standard neuerer Roguelikes; live im Spiel sieht der Aufbau dieses Line-of-Sight-Modells wegen der abwechslungsreichen grafischen Gestaltung wirklich beeindruckend aus.
Kein Wunder, dass inzwischen bei der Verteidigung von Roguelikes gegenüber Nicht-Eingeweihten immer wieder ein Zitat aus Matrix auftaucht, um den Reiz dieser Art Minimalismus zu beschreiben. Es ist die Szene, in der Neo zum ersten Mal den Quellcode der Matrix sieht:
Neo: Is that...
Cypher: The Matrix? Yeah.
Neo: Do you always look at it encoded?
Cypher: Well you have to. The image translators work for the construct program. But there's way too much information to decode the Matrix. You get used to it. I...I don't even see the code. All I see is blonde, brunette, red-head...
Es spricht für die Unverwüstlichkeit und den Charme eine Spielkonzepts, wenn es stolze 31 Jahre lang liebevoll weiterentwickelt und gepflegt wird und trotzdem seine anachronistischen Eigenheiten und Traditionen beibehält. Umso erfreulicher ist es, wenn das Interesse an einem derart esoterischen Nischenphänomen sogar wächst. 2011 war irgendwie das Jahr der Roguelikes: Es gab interessante Adaptionen wie The Binding of Isaac oder Desktop Dungeons, grafische Neuentwicklungen wie Dungeons of Dredmor und Hardcore-Zombievarianten wie Rogue Survivor.
Brogue ist neben Dungeon Crawl: Stone Soup das einsteigerfreundlichste Roguelike, und eines der allerhübschesten noch dazu; am anderen Ende der Komplexitäts- und Unbedienbarkeitsskala steht wie immer Dwarf Fortress, das im Lauf der nächsten Wochen übrigens mit einem neuen Release aufwarten wird.
Brogue gibt's hier zum kostenlosen Download, aber Vorsicht: Roguelikes sind wie Malaria. Einmal angesteckt, erfolgen alle paar Monate wieder Rückfälle. Und dann verfällt man ihr immer und immer wieder aufs Neue - der Lust am schönen ASCII.