Mantel, Degen, Meuchelmord: Dishonored

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Dunwall ist eine sterbende Stadt. Die düstere Metropole, die einem dunklen London des 19. Jahrhunderts nachempfunden ist, leidet unter einer verheerenden Pestepidemie, die Straßen sind voller Leichen und Rattenschwärme allgegenwärtig, manche Stadtteile sind nach Dammbrüchen unter Wasser oder liegen als Massengräber hinter hohen Quarantänemauern. Und während die Armen in ihren billigen Zinshäusern hungern und sterben, feiert die dekadente Oberschicht in streng bewachten Palästen opulente Maskenbälle.

Schon zu Beginn entführt uns Arkanes First-Person-Spiel Dishonored in eine desolate Welt, und natürlich kommt es dann auch noch schlimmer: Die rechtmäßige Herrscherin wird vor unseren Augen feige ermordet, ihre Tochter entführt, und wir, als Leibwächter und Vertrauter Corvo Attano, kommen als Sündenbock für diese Verbrechen den machtgierigen Palastrevolutionären gerade recht. Man muss keinen Alexandre Dumas studiert haben, um zu wissen, dass dies der geradezu klassische Auftakt für einen methodischen Rachefeldzug ist. Die Story um Verschwörung und Rache ist solide, doch wenig originell; die Hauptrolle spielt sie in Dishonored aber ohnedies nicht.

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Seit Bioshocks  Rapture hat kein virtueller Ort mehr so geatmet und fasziniert
 

Es ist ein übles Klischee im Spielejournalismus, doch selten trifft es so zu wie hier: Es ist die Spielewelt selbst, die die Hauptrolle in "Dishonored" innehat, und seit Bioshocks Unterwasserstadt Rapture hat kein virtueller Ort mehr so geatmet und fasziniert. Mit dem faulen Modewort "Steampunk" lässt sich die hier für uns errichtete Welt nur unvollständig beschreiben; mit ihren starken Anklängen an die fantastischen Städte von Jeff Vandermeer, Thomas Ligotti oder China Miéville müsste man dem ambitionierten fiktiven Universum am ehesten das Label des "New Weird" verpassen, doch braucht Dunwall diese Schubladen eigentlich nicht.

Die Welt von Dishonored, durch die wir uns in der First-Person-Perspektive bewegen und von deren Hintergrund wir in unzähligen im Spiel verstreuten Büchern und Dialogen erfahren, ist liebevoll detailliert, verstörend trist und zugleich modern dystopisch; und die Bewegung durch die Architektur dieser Stadt, die wir in einzelnen Missionen Stück für Stück erleben, ist zugleich das zweite Highlight eines Spiels, das als neue Marke, ganz ohne Zahl im Namen ein gelungenes kreatives Wagnis darstellt.

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Richtig gelesen: Selten war die Bewegung in der Egoperspektive in einem First-Person-Titel flüssiger, selten die Spielarchitektur eines erzählenden Titels natürlicher auf freie Spielerentscheidung angelegt, wie man sich durch diese Welt bewegen möchte. Wer einmal die akrobatische Flucht über Dächer und Balkone sowie halsbrecherische Sprung- und Teleportationsmanöver intuitiv beherrscht, sieht sich eher an eine Idealversion von Mirror's Edge als an andere Vertreter des First-Person-Genres erinnert, in denen man in Schlauchlevels von Deckung zu Deckung taumelt.

Klar: Die Vergleichstitel, die hier von Relevanz sind, sind ohnedies andere - immerhin versteht sich Dishonored merkbar als Stealth-Spiel, in dem unbemerktes Schleichen besonders gefragt ist. Wer die klassische Thief-Reihe kennt, wird sich besonders schnell in der Welt des vorsichtigen Pirschens einfinden und - Ironie - trotz der enormen und verlockenden Bewegungsfreiheit viel Zeit mit Warten verbringen: Warten darauf, dass die Wache uns den Rücken zudreht; Warten auf den perfekten Moment, um an einem Soldaten vorbeizuschleichen; Warten, dass unser Opfer den Raum betritt, in dessen Gebälk wir mit blitzender Klinge zum Äußersten bereit sind.

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Und auch wenn uns das nervenzerfetzende Warten durch unzählige Dialoge der nichtsahnenden Belauerten amüsant verkürzt und eigentlich erst bei den härteren - und dafür auch lohnenderen - Schwierigkeitsgraden eine Notwendigkeit wird: Gezwungen wird man dazu nicht. Nichts hält ungeduldige Spielernaturen davon ab, mit gezücktem Säbel und einer Spezialisierung in Kampfzaubern als brachialer Haudrauf eine Spur der Verwüstung durch Dunwall zu ziehen und Schleichen, Verstecken und Vorsicht in den Wind zu schlagen.

Das wäre allerdings aus mehreren Gründen schade: Zum einen, weil sich durch diese Hauruck-Methode die Spielzeit erheblich verkürzt, zum anderen, weil einem dann unweigerlich all jene versteckten Details, Nebenmissionen, Charaktere und Szenen entgehen, die sich auf dem umständlichen, aber dafür gewaltfreieren Schleichgang durch die Gemäuer Dunwalls nebenbei eröffnen. Stets gibt es auch einen Weg, seine Ziele ganz ohne Tote zu erreichen oder gar wie ein Geist nicht einmal gesehen zu werden, ein Vorgehen, das vom Spiel auch mit weniger aggressiven Gegnern und einem freundlicheren Ende belohnt wird. Man sieht: Auch maskierte Rächer können Pazifisten sein, und ihnen erschließt sich Dishonored ganz besonders.

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Dishonored überzeugt als Glücksfall dieses Spielejahres nicht nur durch originelles und liebevolles Artdesign, sondern auch durch seine solide Spielmechanik, die Abwechslung und alternative Herangehensweisen ins Zentrum rückt. Immer gibt es mehrere Wege, um an sein Ziel zu gelangen, und die wählbaren Zusatzzauber machen wiederum neue Vorgehensweisen möglich, darunter durchaus abgefahrene Varianten: Wer mag, kann später im Spiel etwa auch kurzzeitig die Zeit anhalten, um ungesehen voranzukommen, im Körper einer übernommenen Ratte durch Abflussrohre an sein Ziel gelangen oder aber ganze Schwärme der widerlichen Nagetiere auf seine Widersacher loslassen - und auch spektakuläre Kombinationen dieser Hexereien sind selbstverständlich möglich.

Allein durch diese Vielfalt lohnt sich das Wiederspielen ganz besonders: Mit den wählbaren Zaubern ändern sich sowohl Herangehensweise wie auch Spieltempo, und die außergewöhnliche Liebe zum Detail verspricht auch noch beim zweiten Mal bislang unbekannte Entdeckungen.

Kurzum: "Dishonored" beweist, dass sich das Wagnis, weniger ausgetretene Pfade zu begehen, lohnt - für den Spieler ebenso wie (hoffentlich) für den französischen Entwickler Arkane, dem hier ein besonderes, ein außergewöhnliches Spiel gelungen ist. Ich sag's: Schon jetzt ein Spiel des Jahres.

Dieser Text erschien zuerst auf fm4.

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