Pile of Fame #2

Der Berg an neuen Spielen wächst so rasant wie noch nie - und damit auch die Anzahl an bemerkenswerten Spielen, die im Dauerfeuer der Hypemaschinerien untergehen. Grund genug, dem allgegenwärtigen Pile of Shame zumindest ein wenig Ehre zuteil werden zu lassen und Spiele vor den Vorhang zu holen, die auch ein bisschen Fame verdient hätten. Im zweiten Pile of Fame haben wir gleich zwei Gäste: Zum einen Sylvio Konkol von Spielkritik.com, zum anderen VGT-Leser Matthias Kramps. Viel Spaß beim Stöbern im Pile of Fame #2!

Sylvio: The Rivers of Alice – Extended Edition (2015)

Dass Rätsel in klassischen Adventures gern einer ziemlich eigenwilligen Logik folgen, ist kein Geheimnis. Auch The Rivers of Alice ist da keine Ausnahme – allerdings hat das Point-and-Click-Adventure der spanischen Delirium Studios ein triftiges Argument auf seiner Seite: Inspiration für die Narration und Rätsel in Alice ist die verschlungene, unweigerlich flüchtige Logik nächtlicher Träume. Eine Logik, die oft nur bis zur nächsten Wegbiegung Bestand hat und sich spätestens dann als Schall und Rauch entpuppt, wenn der Träumende erwacht und das Nachglimmen der Traumlogik von den Kausalitäten der Wirklichkeit hinweggeblasen wird.

Schlaftrunkenen Schrittes wandern wir mit Alice durch surreale Vignetten mit femininem Flair, handgezeichnet mit Tusche, Bleistift und Wasserfarben. Bilder auch im übertragenen Sinn, die stets auch Rätsel sind – auf der Gameplay-Ebene ebenso wie auf der interpretatorisch-emotionalen. Denn zu Deutungen laden sie allemal ein: der Fluss, die Höhle, das Stundenglas, der Bootssteg und der Keller, die Spiegel und schließlich der Turm. Freud hätte seine Freude, auch weil die einzelnen Bilder und die Beziehungen zwischen ihnen stets vage und absichtslos genug bleiben, um das Gefühl des Träumens glaubwürdig zu vermitteln.

In seinen besten Momenten ist The Rivers of Alice wie ein erholsamer Schlaf. Sogar die Hilfefunktion in Gestalt einer träumenden Schnecke mit dem treffenden Namen Sloth fügt sich ins ludonarrative Gesamtbild ein. Eine wunderbare Musikuntermalung gibt es obendrauf. Da schmerzt es umso mehr, dass Alice unter einigen kleineren Makeln leidet, die unsere Nachtruhe vor allem in der zweiten Spielhälfte immer wieder stören: Unverhältnismäßig schwierige, dem Spielfluss und der Spielästhetik widerstrebende Verschieberätsel beispielsweise, sowie – zumindest in der von mir gespielten Wii U-Fassung – eine Anzahl ungepatchter Bugs.

In solchen Momenten fühlen wir uns wie Alice an den wenigen Punkten im Spiel, an denen sie scheitern und "sterben" kann: Aus den Träumen gerissen und der Illusion beraubt – doch solange die Nacht noch nicht vorüber ist, schließen wir gern noch einmal die Augen. Wer in Eile ist und voller Tatendurst, der wird an der Seite von Alice ohnehin nur wenig Freude finden.

Sylvio Konkol hat Anglistik und Religionswissenschaft studiert und schreibt seit 2016 auf Spielkritik.com

Matthias: The Turing Test (2016)

Manchmal stößt man auf ein Spiel, das eigentlich keinen einzigen neuen Gedanken hat und ist doch überrascht, welchen Effekt es hat, bekannte Elemente auf eine neue Art zusammenzustellen. In The Turing Test beginnt die Menschheit ca. 200 Jahre in der Zukunft mit der Erforschung des Jupitermonds Europa, doch der Kontakt zum Forscher-Team auf der Oberfläche ist abgebrochen. Ava Turing erwacht im Orbit um Europa an Bord einer Forschungsstation aus ihrem mehrjährigen Kälteschlaf und muss den Kontakt zum Team wiederherstellen. Begleitet wird sie via Funk von T.O.M. einer KI, die sowohl die Raumstation als auch die Bodenstation auf Europa überwacht. Eingebettet ist die Geschichte in Puzzleräume á la Portal, das Forscherteam am Boden hat sich in seiner Basis verschanzt, nur wer wie ein Mensch kreativ denken kann, kann die Räume überwinden – der namensgebende Turing-Test. Dabei ist das Niveau niemals dermaßen komplex wie in The Talos Principle, aber durch angenehmes Heranführen in der „show, don‘t tell“-Manier steigt der Schwierigkeitsgrad stetig und lockt einen auch schon mal auf die falsche Fährte. Kreatives Denken ist gefragt.

Das wirkliche Highlight des Spiels sind aber die Gespräche zwischen Ava und T.O.M. und die Aufzeichnungen der anderen Forscher. Die Dynamik zwischen Mensch und kalter, boolescher Maschinenintelligenz mündet in vielen klassischen Fragen des SciFi-Genres: Kann man ein Bewusstsein beweisen? Ist menschliche Intelligenz mehr Wert als elektronische? Ist Moral logisch? Gibt es einen freien Willen? Das Interessante an diesen Gesprächen sind gar nicht die philosophischen Themen selbst, diese hat man so oder so ähnlich schon in vielen anderen Werken gehört, wirklich interessant ist der konstante Widerspruch zwischen zwei grundverschiedenen Wesen, die einander helfen müssen, obwohl sie in totaler Opposition zueinander stehen. Diese Dissonanz verleiht den Gesprächen zwischen Ava und T.O.M. eine Tiefe und Einsicht, die nur wenige Werke schaffen.

Matthias Kramps, VGT-Leser und im richtigen Leben Fachinformatiker, hat eigenen Aussagen nach seinen Games-Fokus immer mehr verlagert - von den klassischen AAA-Games der Industriegrößen zu den kleinen Perlen der Indieszene, den Obskuren, den Schönen, den Absurden. Recht so!

Robert: The Fall (Part 1: 2014, Part 2: 2018)

Ein paar Jahre sind vergangen, seitdem das originale The Fall erschienen ist, doch vor ein paar Wochen hat es der zweite Teil nun auch in die Öffentlichkeit geschafft. The Fall ist eine ziemlich untriviale Science-Fiction-Geschichte, die uns in die Schuhe einer künstlichen Intelligenz steckt. Normalerweise sollen wir ja mit den Menschen sympathisieren, die in einer immer weniger fernen Zukunft einen meist hoffnungslosen Kampf gegen die Maschinen führen. Aber auch künstliche Intelligenzen haben kein einfaches Leben: Wir übernehmen die Rolle von Arid, die sich so viel Autonomie erarbeitet hat, sodass sie nun zerstört bzw. gelöscht werden soll. Doch das lassen wir natürlich nicht zu und helfen ihr, jenen User zu finden, der sie neutralisieren will. Arid war ursprünglich (Teil 1) der schlaue Bordcomputer eines Astronauten. Der ist aber mittlerweile tot, und so nützt sie seinen Raumanzug als Wirt, um sich durch die Welt zu bewegen. Wegen der akuten Lebensgefahr muss sie nun aber aus ihrer physischen Hülle - “TRON” lässt grüßen - in die digitale Welt flüchten.

In The Fall gibt es zwei Spielebenen: Da ist einerseits der Cyberspace, wo auch 2D-Action geboten wird: Wir laufen, springen und bekämpfen Viren mit virtuellen Pistolen. Dem entgegen steht der größere Adventure-Teil des Spiels, wo Arid diverse Roboter hackt und sie übernimmt. Zum Beispiel müssen wir einen Serviceroboter trickreich dazu bringen, dass er seine Routine durchbricht, damit wir an neue Informationen gelangen und den User weiter verfolgen können. Bis es so weit ist, müssen wir manchmal auch mit den von uns gehackten Bots Kämpfe ausfechten. Hirn und Muskeln also.

The Fall vom kanadischen Indiestudio Over The Moon hat eine etwas seltsame Steuerung, die sich an einem First-Person-Shooter orientiert, obwohl das Game an den meisten Stellen ein Adventure ist. Gesteuert wird mit Maus und Tastatur: Mittels Kreisbewegungen durchsuchen wir mit einer Taschenlampe die Umgebung nach Dingen, die wir ansehen oder manipulieren können. An einem Gegenstand interagiert wird dann mit WASD. Das ist erst mal leicht gewöhnungsbedürftig, macht aber bald schon Sinn. Die Rätsel sind gelungen, die Action-Sprenkel zwischendurch nicht so nervig, dass sie eine unangenehme Ablenkung wären. Wirklich beeindruckend ist aber die vielschichtige Story, die mit viel Text in Szene gesetzt wird. Im Wesentlichen geht es um grundlegende philosophische Fragen: Was macht ein Individuum aus? Was formt meine Identität? Und natürlich: Wer bin ich? – Das Science-Fiction-Setting, wo Menschen mit künstlichen Intelligenzen koexistieren und sich aneinander reiben, ist hochaktuell und in The Fall klug und spannend umgesetzt.

Joe: Into the Stars (2016)

Eigentlich müsste ich Into the Stars mögen, denn die Mär von der Menschheit, die es auf der Flucht vor einem übermächtigen Feind in die Tiefen des Alls verschlägt, wo sie sich mit widrigen Bedingungen und kargen Ressourcen herumschlägt, erinnert frappierend an die von mir geliebte Serie Battlestar Galactica. Anfangs macht Into the Stars auch tatsächlich vieles richtig: Das Management der Schiffsbevölkerung, die Auswahl und Ausbildung von Crewmitgliedern und die Erkundung von fremden Planeten über Dialogoptionen sind stimmig inszeniert.

Aber leider leider schwächelt das Kampfsystem, das all diese unterschiedlichen Elemente eigentlich verbinden sollte. Wenn die bösen Aliens meine Arche doch einmal einholen, heißt es die Farbe meiner Laser und Schilde auf die Schilde und Laser des Feindes abzustimmen. Nun ist aber das Blöde an Lasern, dass sie ohne jegliche Vorwarnung augenblicklich einschlagen sobald sie abgefeuert werden. Damit das Spiel trotzdem halbwegs lesbar bleibt, blinken die Waffen der Gegner erst schneller und schneller, bevor sie schießen, theoretisch lässt sich so also das Timing voraussehen. Wenn ich aber das Spiel pausieren sollte, um zum Beispiel einen verletzten Brückenoffizier zur Krankenstation zu schicken, lässt sich nachher aus dem Standbild erst wieder nicht erschließen wie oft oder wie schnell welches Schiff jetzt schon geblinkt hat. Da lob ich mir FTL und seine Energieprojektile, bei denen bleibt zwischen Schuss und Aufprall immer noch genug Zeit, um auf Pause zu drücken.

Christof: Dujanah (2017)

Ketzerische Frage: Sind Computerspiele das einzige Medium, dessen Macher deutlich weniger Zeit mit den Werken ihrer Zunft verbringen als die Fans und Kunden? Während Regisseure selbstverständlich cinephil sind, Schriftsteller ziemlich ausnahmslos Vielleser und Fotografen Sammler von Fotobüchern, geht bei Games die Schere auf: Hier die Entwickler, die im Jahresrückblick eingestehen, viel gelesen, aber sehr wenig gespielt zu haben; dort die Gamer, denen im Sehnen nach CV-tauglicher Veredelung der steigenden Steam-Stunden die Halsvene platzt, wenn, wie unlängst geschehen, Nintendo eine Entwickler-Stelle ausschreibt, für die explizit jegliche Erfahrungen als relevant angerechnet werden – nur nicht jene am Controller. Mit Jack King-Spooners Dujanah hat das direkt wenig, indirekt aber fast alles zu tun.

Nicht, dass King-Spooner Computerspiele nicht mögen würde. Die RPGs und Adventures der 90er bilden unverkennbar das ABC seiner Spiele, in Dujanah findet sich zudem eine Spielhalle, deren Automaten zwischen Parodien und ehrlich gemeinten Mini-Hommages an diverse Klassiker keine Trennlinien ziehen mögen. Entscheidender ist aber, dass King-Spooner Computerspiele bei aller Zuneigung keineswegs mehr mag als etwa: Claymation, Malerei, Musik, Literatur, Politik, Geschichte, Menschen, Philosophie, Kino, Gespräche Basteln und. Und. UND. In meinem Interview mit ihm kann man innert weniger Fragen von Game Design via Literatur zur Landwirtschaft gelangen; in Dujanah gelangt man innert weniger Screens von stampfenden Wüsten-Mechs via Riot-Girl-Konzerte zu genuin rührenden Betrachtungen, die King-Spooner – der während der Entwicklung zum ersten Mal Vater wurde – in einer Geburtsvorbereitungsgruppe gemacht hat.

Natürlich klingt das alles konfus, nach too much, und Nabelschau; Dujanah ist all diese Dinge. (Himmelarschundzwirn, das Spiel beginnt mit einer Videobotschaft von King-Spooner, in der er einem das Leitthema verrät – Spoiler: es ist "Identität".) Dies ist aber weniger ein Kritikpunkt als eine Tugend dieses bislang größten und ambitioniertesten King-Spooner-Spiels: Vordergründig mag Dujanah ein Adventure-Rollenspiel-Hybrid sein über eine muslimische Mutter, die in einem futuristischen Wüstenstaat nach ihrem verschollenen Mann und ihrer Tochter sucht. Hintergründig aber ist Dujanah, wie alle Jack-King-Spooner-Spiele, pures Pastiche, eine vielfältige Collage aller Interessen, Techniken, Sorgen und Erfahrungen, die den Macher gerade beschäftigen. Dass diese Collage so schamlos ungefiltert ist, so undiszipliniert breitgestreut, und sich dabei um die Nadelöhr-Horizonte des Mediums keinen Deut schert, macht Dujanah oft unberechenbar, gelegentlich auch chaotisch und anstrengend. Vor allem aber macht es das Spiel: ungewöhnlich interessant.

Rainer: Salt & Sanctuary (2016)

Nicht nur kleine, kaum beachtete Spiele versinken nach kurzer Zeit in den Fluten des Immerneuen, das, vom Hype getragen, immer weiter nachdrängt, auch durchaus zu ihrer Zeit wohlwollend wahrgenommene Titel haben im Kampf um längere Aufmerksamkeit oft schlechte Karten. Das ist besonders ungerecht, wenn sie so gut und eigentlich zeitlos sind wie Salt & Sanctuary. Das vor zwei Jahren erschienene Spiel ist vielleicht sogar manchen dadurch im Gedächtnis geblieben, dass es als eines der ersten Spiele die Dark Souls-Formel konsequent in 2D-Gameplay umsetzte. Sein unglücklicher Erscheinungstermin - exakt neun Tage vor dem Erscheinen von Dark Souls 3 - hat sicher dazu beigetragen, dass das durch und durch gelungene Spiel von vielen, für die es eigentlich gemacht war, übersehen wurde.

Tatsächlich ist das im für das Studio typischen Cartoon-Style gehaltene Spiel nicht nur ein Epigone, der sich bis in spielmechanische Details an die Formel der Vorbilder hält, sondern eine Art von Missing Link zwischen seinem Vorbild Dark Souls und jenen großen 2D-Metroidvanias, die wiederum für Miyazakis Spiele unabdingbare Vorläufer waren. Salt & Sanctuary ist liebevoll und atmosphärisch stimmig gemacht, bietet eine für Soulsborne-Fans obligatorische und selbstverständliche, für alle anderen überraschende Spieltiefe, lockt zum selbstständigen Erforschen seiner mysteriösen Welt und ist dabei herausfordernd, ohne die für manche abschreckende Härte seiner Vorbilder zu zelebrieren. Eigentlich muss man aber kaum mehr sagen als das: Freunde von Dark Souls und Bloodborne sollten Salt & Sanctuary unbedingt nachholen - und wer bislang keinen Zugang zu den originalen gefunden hat, mag hier vielleicht sogar einen Einstieg finden.

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