Screenshot deluxe

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Fotografie ist allgegenwärtig, ohne Kamera geht man dank Handy praktisch nicht mehr aus dem Haus. Nicht nur im Urlaub, auch im Alltag finden mehr und mehr Menschen Lust am Porträtieren banaler und außergewöhnlicher Ereignisse und Orte in ihrem Umfeld. Wenn nun aber schlichtweg überall fotografiert wird - warum dann nicht auch in virtuellen Welten?

Fast jeder Spieler hat wohl das ein oder andere Mal versucht, seine Erlebnisse beim Spielen per Screenshot als Erinnerung festzuhalten, das Geschehen auf dem Bildschirm als Bild für die Ewigkeit zu bewahren. Bei der In-game-Fotografie ist es aber auch nicht anders als im realen Leben: Ästhetisch belangloses Abfotografieren der virtuellen Sehenswürdigkeiten oder von nur für den Spieler bedeutsamen Errungenschaften lässt den Großteil der Screenshot-Sammlungen, die sich etwa auf Flickr bei der Suche nach diversen Spieltiteln ergeben, eher banal erscheinen.

Einige Pioniere haben sich allerdings auch der "virtuellen Fotografie" mit durchaus künstlerischem Anspruch verschrieben - und die Resultate sprechen nicht nur Spieler an. Das führt mich zu zwei erwähnenswerten Vertretern der In-Game-Fotografie, die auf unterschiedliche Art und Weise mit der Ästhetik der In-game-Fotografie umgehen: Steam Postcards undDeadEndThrills.

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But is it "Art"?

Auch die experimentelle Gegenwartskunst bezieht sich in ihren Arbeiten vereinzelt auf Spiel-Ästhetiken. Die "White Room"-Serie des britischen Künstlers (und Spielentwicklers!) John Paul Bichard zeigt etwa arrangierte Screenshots aus Max Payne 2 samt kunsttheoretischem Interpretationsüberbau. Bei Steam Postcards oder DeadEndThrills steht aber weniger Medientheorie als Fotografie im Vordergrund - und die Freude an der Schönheit der Spielwelten, die normalerweise zum Background verkommen.

Die Motivation ist einerseits, die künstlerische Arbeit der Spielemacher zu würdigen und zu präsentieren, andererseits aber die Grundmotivation jedes Fotografen: den subjektiven Blickwinkel zu verewigen und einen Augenblick für sich allein stehen und wirken zu lassen. Übrigens: Wer nun meint, das Fotografieren von künstlichen Objekten, die noch dazu jemand anderer errichtet hat, sei keine Kunst, möge bitte eine Diskussion zum selben Thema mit Architekturfotografen vom Zaun brechen.

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Wie sagte der legendäre Fotograf Henri Cartier-Bresson so schön: "Fotografieren bedeutet gleichzeitig und innerhalb von Sekundenbruchteilen zu erkennen - einen Sachverhalt selbst und die strenge Anordnung der visuellen wahrnehmbaren Formen, die ihm seine Bedeutung geben. Es bringt Verstand, Auge und Herz auf eine Linie."

Duncan Harris, ein Veteran des britischen Games-Journalismus, der hinter DeadEndThrills und dem gleichnamigen Flickr-Fotopool steht, kann nicht gerade als Amateurfotograf in virtuellen Welten gelten: Seine Schnappschüsse aus neuen, alten, obskuren und/oder erfolgreichen Spielen werden mit einigem technischen Aufwand geschossen und sind spektakuläre Hochglanzfotografie - obwohl er selbst seine Arbeit lieber bescheiden als "videogame tourism" bezeichnet sehen will.

Die High-End-Hardware, die gemeinsam mit von Fans bereitgestellten Texturenpacks und diversen Mods aus den Spielen die größtmögliche Detailfülle und Auflösung herauskitzelt, lässt fast vergessen, dass hier ausschließlich In-Game-Grafiken und keine vorgerenderten Promotion-Bilder zu bestaunen sind. In Photoshop wird nur mehr an Winzigkeiten nachgebessert. Das Ergebnis sind beeindruckende Architekturbilder,Actionfotos oder Porträts. Harris vergleicht seine Arbeit mit der "Still Photography" bei Filmproduktionen.

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Hochglanz oder Lomo?

Aber auch mit weitaus weniger technischem Getüftel und Optimieren lassen sich beeindruckende Bilder aus der Welt hinter dem Bildschirm mitnehmen. Iain Andrews beschränkt sich auf unbearbeitete Screenshots direkt aus den jeweiligen Spielen und lenkt den Blick auf Details, die beim normalen Spielen nicht ins Auge fallen. Seine auf "Steam Postcards"versammelten Schnappschüsse zeigen oftmals melancholisch verlassene Orte, urbane Details oder die Schönheit der virtuellen Wolkenlandschaften. Die großen Attraktionen sind nebensächlich: Die gesamte Spielwelt ist sein Motiv, auch und vor allem die toten Winkel,Ecken und Korridore, die sonst eigentlich nie im Zentrum stehen und trotzdem da sind. So gesehen rückt Iain Andrews die Nebenschauplätze in den Vordergrund und lässt die "großen Touristenattraktionen" links liegen.

 

Der Kreativität neugieriger "videogame tourists" sind fast keine Grenzen gesetzt: Die meisten Spiele, bei denen man sich durch drei Dimensionen bewegt, erlauben das Wegschalten störender Elemente wie Gesundheitsanzeige oder Ähnlichem, mit einfachen Tricks lässt sich oft auch die eigentliche Spielherausforderung - sprich Gegner oder störende Zeitlimits - überlisten. Was bleibt, sind beeindruckend ausgestaltete Umgebungen, die im Normalfall - beim Durchspielen - viel zu wenig gewürdigt werden - und die Bandbreite an Attraktionen reicht vonhistorischen Städten über lichtdurchflutete Sci-Fi-Metropolen bis hin zu unterschiedlichsten Ruinenstädten oder dem virtuellen Dschungel. Dass virtuelle Spielwelten als "Ferienziele" taugen, zeigt sich recht anschaulich im direkten Vergleich.

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Spiele als kreative Tools mehr oder weniger zweckentfremdet zu verwenden, ist spätestens seit den ersten Machinima-Tagen oder Kreativspielzeugen wie Garry's Mod nicht neu - im etwas angestaubten Second Life zählt bekanntlich In-game-Fotografie sogar zu denLieblingsbeschäftigungen der schrumpfenden Bevölkerung, und als Spielelement ist das Knipsen von Beyond Good and Evil bis Dead Rising auch bekanntes, aber nur selten genutztes Spielelement.

Der beeindruckende Fotorealismus neuerer Titel und immer detaillierter werdende Spielewelten laden aber zunehmend dazu ein, auch in eigentlich zum Spielen erbauten Welten das Gebotene einmal aus einem anderen Blickwinkel als dem des meist gehetzten Spielers zu betrachten. Die Orte, die sonst nur als Kulisse dienen, stehen dann plötzlich im Vordergrund. Als "Videogame Tourist" flaniert man dann durch die Straßen, bestaunt die Architektur und sucht den interessantesten Ausschnitt, den besten Blickwinkel, das beste Licht. Denn wenn man schon da ist, kann man auch mal ein Foto mit nach Hause nehmen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf fm4.

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