In Space, no one can hear your schlechtes Gewissen: Mass Effect 3
Superlative über Superlative, "episch" im Wortsinn, erwachsen, auf Hochglanz poliert, und doch: Mass Effect 3 will alles für alle sein und ist doch irgendwie ein Spiel für eine ganz kleine Zielgruppe. Allen anderen macht es ein schlechtes Gewissen. Ein paar Gedanken nach 15 Stunden Spielzeit.
Ja, ich habe Teil 1 und 2 gespielt; an den ersten Teil, vor fünf Jahren releast, kann ich mich nur mehr undeutlich erinnern. Teil 2, 2010 erschienen, ist mir etwas besser im Gedächtnis geblieben - aber leider nicht genug, um jetzt den Durchblick zu haben. Cerberus, klar, da war doch was - die Collectors, aha, ja, da dämmert's - die Rachni? Tja, hm, ausgestiegen. Allerorts liest man den empathischen Aufruf, man solle jetzt, zum Start des finalen Teils der Weltraumsaga, doch bitte unbedingt die beiden Vorgänger noch mal durchspielen, denn so hätte man am meisten von Biowares epischer Space Opera.
Das glaub ich gern, aber: im Ernst? Danke, ohne mich. Es ist eine Sache, sich bei Erscheinen des neuen Riddick-Films die bisherigen Filme nochmal anzusehen, aber knappe 100 Stunden Spielzeit lassen sich kaum an einem gemütlichen Wochenende vor Release unterbringen.
Und das ist wirklich schade, denn das ME-Universum ist handfeste Science-Fiction, die wirklich motivierte Fans verdient hätte. Fans, die sich wie Trekkies oder Star-Wars-Fanaten in die dunkelsten Ecken der Lore vertiefen. Fans, die über die Feinheiten der Beziehungen zwischen Krogans, Turianern und Salari Bescheid wissen. Fans, die aus dem Stegreif die Vorgeschichte zu ME1 referieren könnten, und Fans, die ihre emotionale Bindung zu den Charakteren aus den ersten beiden Teilen über die lange Wartezeit von insgesamt fünf Jahren konservieren konnten. Mit einem Wort: ME3 verdient ein anderes Zielpublikum als mich.
Wie sieht er aus, der ideale ME3-Spieler? Dass er die beiden ersten Teile präsent hat, ist obligatorisch, aber wahrscheinlich schadet es zur völligen Auskostung des epischen Titels nichts, sich auch die vier Romane und sieben Comics zum Spiel besorgt zu haben. Es ist sicher von Vorteil, in jedem Teil auch die Hausaufgaben erledigt zu haben - sprich: jeden Funken Information aus den ellenlangen Background-Texteinträgen im Spiel präsent zu haben. Wahrscheinlich ist es sogar sinnvoll, sich in einer Art Tagebuch Notizen zu den einzelnen NPCs gemacht zu haben, inklusive der Entscheidungen, die man in Bezug auf sie getroffen hat.
Für solche Spieler ist Mass Effect 3 gemacht. Wegen dieser Spieler verzichtet ME3 auf ein "Was bisher geschah ...", wegen solcher Spieler geht es bereits in den ersten Spielminuten so unvermittelt in die Vollen, dass man, als nicht ganz so vorbildlicher ME-Spieler mit ohnedies schlechtem Gewissen, eigentlich mit Schulterzucken reagieren muss: Wie, das Council ist neu besetzt worden? Wer ist nochmal der militärische Heini im Holodeck? Weshalb bin ich nochmal suspendiert? Was war da nochmal mit dem Illusive Man ...?
Nur: Ich weiß, dass ich nicht der Einzige bin, der ein schlechtes Gewissen haben muss. Mass Effect 3 ist ein Triple-A-Titel mit Megabudget, der sich sonst bemüht, möglichst alle anzusprechen: die Actionspieler, die Rollenspieler, SF-Fans sowieso, aber auch all jene, die sich einfach wie im Kino von Bombast-Epik unterhalten lassen wollen. Der Konversationsanteil ist so hoch, dass man beinahe von einer Abart von Interactive Fiction reden könnte, wäre dieser Begriff nicht von Textadventures besetzt (Übrigens, ein Aufruf: Können wir bitte diesen schönen Begriff in Zukunft wieder genereller verwenden und einfach Textadventures sagen?), und so scheint sogar die Sims-Crowd in Reichweite, die wenig Wert auf Ballerorgien, aber viel Wert auf hübsch geschnittene Dialoge mit der Option auf heiße Mensch-Alien-Romantik legt.
Und genau wie ich sollten die alle ein schlechtes Gewissen haben. Denn leider bleibt für alle, die ME3 nicht die angemessene Zeit gewidmet haben - siehe oben -, vieles verworren und seltsam blutleer. Es ist viel von den "schweren Entscheidungen" die Rede, von den "tragischen Wendungen", die die Story zu bieten hat - an mir aber gleitet bislang alles ab. Bekannte Gesichter aus Teil 1 und 2 tauchen auf, lösen diffuse Déjà-vu aus und treten mehr oder weniger tragisch wieder ab: Da war doch was ...? Klar, die erwachsene Härte dieses Finales beeindruckt; doch emotional nahe geht mir das bislang nicht.
Vielleicht ändert sich das ja noch im Rest des Spiels. Es ist ja nun nicht so, dass ich mich schlecht amüsiere, denn ME3 ist als Triple-A-Vehikel trotz dem Gesagten immerhin auch ein Spiel für Neueinsteiger in die Reihe. WIe es denen geht, kann ich mir aber nur schwer vorstellen: Die klicken sich dann wohl halbherzig durch nicht voll verstandenes Hintergrundgebrabbel (Genophage wer? Aria häh?) und begnügen sich mit Action und SF-Glamour. Und wahrscheinlich haben die auch so Spaß an der Sache. Klar kann man sich anbahnende Nebenmissionskonversationszweige kalt abwürgen, nicht jeden dahergelaufenen NPC nach seinen Interessen fragen und Aufleveln sowie Ausrüstung der Automatik überlassen. Kurzum: Man kann viel - man muss aber nicht.
Mein schlechtes Gewissen aber ist da. Es erscheint angesichts der seitenlangen Hintergrundinfos in meinem Computer an Bord der Normandy, die ich ignoriere. Es kommt auf, wenn ich mich dabei ertappe, mir statt der begehbaren Normandy ein schmuckloses Menü zu wünschen, statt zum 100. Mal vom War Room durch die Sicherheitsschleuse laufen zu müssen - immerhin sprechen die beiden Security-Damen scheinbar bei jedem Vorbeilaufen andere Dialogzeilen mit Bezug zu aktuellen Ereignissen. Hab ich zugehört? Kaum. Das schlechte Gewissen kommt auf, wenn ich die Zitadelle achtlos nach den markierten Gesprächspartnern durchstreife, anstatt den vielen zufälligen Dialogen ihrer Bewohner zu lauschen.
ME3 ist so voll mit Details und Hintergrund, dass es nach einem Publikum schreit, das fanatisch ist, nach dem perfekten Spieler, der dieses Riesenmosaik aus Atmosphäre, Design, Hintergrund und Story mit Liebe und Begeisterung zusammensetzt. Der sich die Zeit nimmt, die Aussicht zu genießen, den Dutzenden Stunden NPC-Dialog zu lauschen, die Dossiers zu lesen, mit allen Crewmitgliedern zu plaudern. Solche Spieler hätte ME3 verdient. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil: Ich bin das nicht.
Entschuldigung.