Time passes

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Im Alter von 10 Jahren war neben Indiana Jones and The Last Crusade und The Games: Summer Edition die Ultima Trilogy eine meiner allerersten Computerspielbegegnungen am damals noch haarsträubend sperrig zu bedienenden und gänzlich unmultimedialen PC. Die Sammlung der Strichmännchen-Rollenspiele hat mich an diesen drei Titeln damals am wenigsten interessiert, doch eine markante Erinnerung an die alten Ultimas ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: Steht man mit seinem Avatar länger in der Gegend herum, ohne etwas zu tun, quittiert das das ungeduldige Ereignisprotokoll im rechten unteren Fenster ziemlich schnell mit der ebenso lapidaren wie vorwurfsvollen Meldung "time passes" - dicht gefolgt von "more time passes". Wenige Personen - in meinem direkten sozialen Umfeld vermutlich kein Mensch - können mit dieser Referenz etwas anfangen. Es ist eine persönliche, prägnante Erinnerung aus meiner Kindheit, die mir beim Kommunizieren mit mir selbst immer wieder in den Sinn kommt - in unterschiedlichen Situationen und bei verschiedenen Tätigkeiten.

Beim Computerspielen spielt das Zeitvergehen aber eine besonders markante Rolle, und "time passes" saust mir dabei öfter durch die Synapsen. Tatsächlich vergeht kein Tag, an dem sich mein beruflicher und privater Umgang mit Videospielen und Videospielkultur nicht mit dem Thema Zeit beschäftigt. Nicht nur das soziale Miteinander, der Arbeitsalltag und Lebenshaltung wollen geplant sein, auch die Wahl der Games, die ich anspiele, länger spiele oder vielleicht sogar durchspiele, will sinnvoll getroffen sein. Heute gilt das mehr denn je - sowohl im privaten, als auch, was das allgemeine Angebot am Videospielemarkt betrifft. Es spitzt sich doppelt zu: im fortschreitenden Alter geht man gewissenhafter mit der zur Verfügung stehenden Zeit um und gönnt sich im Zweifelsfall mehr Ruhepausen als noch mit 16. Gleichzeitig gibt es da nicht nur Retail-Spiele für PC und Konsole, wie das noch vor zehn Jahren der Fall war, sondern es poppen ständig neue - oft sehr gute und interessante - Spiele im Browser, am Tablet, am Smartphone und in den Download-Kanälen von Steam bis Xbox Live auf.

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In dieser Welt des schier endlosen Stroms an neuen Inhalten, einem immervollen Füllhorn an interaktiven Möglichkeiten, wirkt es umso befremdlicher, wenn sich ein einzelnes Game als Qualitätsmerkmal auf die Fahnen heftet, möglichst viel von unserer Freizeit einnehmen zu wollen. Wer kennt sie nicht, die "100 Stunden Spielspaß garantiert!"-Aufdrucke auf der Rückseite von Spielepackungen? Die Hersteller und Vertriebe dieser Titel stecken sich damit ein besonders hohes Ziel: die Spieler/innen sollen gewissermaßen gleich viel "Gewinn" aus einem Videospiel extrahieren können wie aus einigen dicken Romanen oder über 65 durchschnittlich langen Kinofilmen. Glücklicherweise hat meines Wissens nach "Spielspaß" noch niemand wirklich klar und objektiv definieren können - davon profitieren die Werbetexter/innen der Zeitfressersätze. Es ist also gut, meinen die, wenn ein Spiel uns überdurchschnittlich lange von allem anderen abhält, was uns sonst noch so beschäftigt bzw. beschäftigen würde.

Beim Spielen wird im besten Fall keine Zeit versenkt, sondern intensiv erlebt

Nun bin ich ein Feind jener billigen Rhetorik, die sofort "Zeitverschwendung" und "unproduktive Beschäftigung" schreit, wenn es darum geht, zu bewerten, wenn sich jemand länger als zwei Stunden am Stück in einem Computer- oder Videospiel verliert. Denn das Gegenteil davon ist wahr: Beim Spielen wird im besten Fall alles andere als "Zeit versenkt" sondern es wird intensiv erlebt: du bist mittendrin in einer Geschichte, lernst neue Fähigkeiten, verschmelzt über Tastatur, Maus und Gamecontroller deinen Körper mit dem Spiel und mit der Maschine. Die Faszination über diesen Umstand ist bei guten Games kein Kick, die nur für den Moment hält, sondern ein Zustand, auf den man sich freut, wenn man am nächsten Tag zur Arbeit geht und weiß, dass man am kommenden Abend weiterspielen kann.

Doch es gibt auch das Gefühl, das einen beschleicht, wenn die Balance kippt, wenn die Euphorie ihre Unmittelbarkeit verliert und die Spieltätigkeit in ein ambivalentes Abhängigkeitsverhältnis rutscht. Bedienen sich Computerspiele psychologisch einfach gestrickter, aber umso wirksamer und perfekt umgesetzter Belohnungsmechanismen, darf das eigentliche Gameplay dahinter ruhig einfältig sein - wir werden trotzdem spielen wollen. Das gilt für FarmVille ebenso wie für Diablo III oder im Grunde jedes Game, das eine Tendenz dazu hat, sich in seinen Inhalten und Aufgaben zu wiederholen. Natürlich ist das Wahrnehmen von subtilen Zwängen, weiterspielen, weiterleveln oder durchspielen zu müssen, subjektiv und von Person zu Person unterschiedlich. Doch zweifellos fördern es manche Spielmechaniken von vornherein mehr als andere. Dass jene Titel, die laut Packungsaufdruck 50 bis 150 Stunden "Spielspaß" versprechen, eher der ersten Kategorie entsprechen, ist wahrscheinlich. Die bloße Menge war noch nie ein Qualitätsgarant, sondern sorgt stattdessen dafür, dass die Unterhaltungskurve wie ein wild wuchernder Aktienkurs verläuft und der Spaß sich nicht selten als unausgegorener Ritt zwischen Extase, Langeweile und Monotonie entpuppt.

Dieser Text ist zugleich ein Beitrag zu Zockwork Oranges "52 Games"-Projekt, in dem Texte zu einem bestimmten Thema zu einem frei wählbaren Spiel gefragt sind. Zeit war das Thema in Woche 14.