Turm der Verdammten
Es ist fast so etwas wie Ironie des Schicksals, dass Ausnahmetitel wie Dear Esther sich die Frage gefallen lassen müssen, ob sie denn eigentlich überhaupt Spiele sind, während andere Titel nicht nur selbstverständlich als solche rezipiert werden, sondern darüber hinaus noch für Millionen ansonsten gar nicht einmal Games-affine Zeitgenossen selbstverständlich als die Spiele schlechthin gelten. Die Rede ist von jenen "Simulationen", die in Form von meist niedlich-comichaften Social Games millionenfach auf Facebook oder diversen Smartphones ihre Anhänger finden. Wer bereits einmal den Mechanismen dieser Spiele verfallen war, wird die folgende Analyse bereits selbst mit Bitterkeit angesichts beträchtlicher Mengen verschwendeter Lebenszeit getroffen haben. Für alle anderen gilt: Tiny Tower macht sehr schnell abhängig. Fangen Sie gar nicht damit an.
Tiny Tower hat alles, was Freunde von Farmville oder Sims Social von ihrem Lieblingsgenre erwarten. Es ist niedlich, es lässt sich nebenbei, aber dafür tage- oder wochenlang spielen - und es nimmt seine Spieler sofort in einer gnadenlosen Suchtspirale gefangen. Das ist kein Zufall, sondern vielmehr das Ergebnis trockener Psychologie. Nichts ist Zufall in dieser so täuschend niedlichen Puppenhauswelt, das gezielte Auslösen einer obsessiven Suchtspirale ist von Anfang an wohlkalkuliert, ebenso wie die direkt darauf folgende gezielte Frustration seiner Opfer. Denn Tiny Tower ist zwar gratis, verdient aber, wie viele seiner Artgenossen, Geld mit In-App-Purchases. Wahrscheinlich haben zu Spielbeginn nur die allerwenigsten Spieler die Absicht, jemals Geld in einem Casual Game auszugeben; warum zahlen, wenn man auch umsonst spielen kann? Die Antwort auf diese Frage liegt im gnadenlosen Spieldesign - sie wirft aber zugleich jene andere eingangs angesprochene Frage auf: Ist ein Programm, das ausschließlich dazu designt wurde, durch anfängliche Suchtproduktion und daran anschließende Frustration reale Mikrotransaktionen zu generieren, überhaupt ein Spiel?
Tim Rogers vielbeachteter Text "Who killed Video Games? A ghost story" hat letztes Jahr zu diesem Thema Essenzielles festgehalten: Titel wie Farmville, Sims Social oder eben auch Tiny Tower werden von hochspezialisierten Teams aus Psychologen und Mathematikern zu genau einem Zweck entworfen: Monetisierung. Der Weg dorthin führt über mehrere verhaltenspsychologische Stadien, beginnend beim "leichten Einstieg", über die anfangs kontinuierliche Belohnung und darauf einsetzende Suchtspirale bis hin zur absichtlichen Frustration seiner früher oder später immer mehr in der Spielwelt engagierten Spieler. Diese absichtliche Frustration ist essenziell, denn sie bringt den Spieler dazu, die Brieftasche zu zücken.
Tiny Tower nimmt auf unangenehme Weise Besitz von seinen Spielern
Polemisch zugespitzt könnte man das Tiny Tower zugrundeliegende Konzept so beschreiben: Auf eine Phase der "Einschmeichlung", in der Tiny Tower tatsächlich am meisten Spiel ist, folgt die von nun an das gesamte Spiel an Intensität zunehmende Phase der absichtlichen Frustration. Will man zu den anfangs erfahrenen Freuden des unfrustrierenden Spiels zurückkehren, muss man entweder buchstäblich stundenlanges, absichtlich langweiliges "Gameplay" und zunehmend wachsende Wartezeiten über sich ergehen lassen - oder aber bezahlen.
In Tiny Tower gilt es, einen Wolkenkratzer zu bauen und mit Bitizens, niedlich im 8bit-Stil animierte virtuelle Bewohner, zu bevölkern, die in unserem Turm leben und arbeiten. Die Mini-Interaktionen, die stressfrei und nebenbei etwa im Minutentakt ihr altbekanntes psychologisches Spiel mit regelmäßiger Belohnung und anfangs zügigem Fortschritt treiben, schaffen eines mit Bravour: Hat man erst einmal die beginnenden, durchaus kurzweiligen ersten 30 Minuten mit seinem Turm verbracht, hat einen die altbekannte Suchtspirale fest in ihren Klauen. Spätestens seit Diablo ist es kein Geheimnis, dass menschliche Gehirne durch eine wohldosierte Abwechslung von Kurzzeitzielen und wiederkehrender Belohnung verlässlich dazu angeregt werden, immer und immer wieder den Kick des kleinen Endorphinausstoßes zu suchen - auch wenn das Ganze unweigerlich auf kurz oder lang von den Spielern selbst als unangenehm obsessiver Zwang empfunden wird. Immer und immer wieder zieht es einen zu seinem Turm, um "nur kurz" kleinste Abstimmungen vorzunehmen, nach seinem Geldstand zu sehen oder in den Shops Produkte in Auftrag zu geben. Tiny Tower nimmt Besitz von seinen Spielern,
Es gibt zwei Währungen in Tiny Tower: das von unseren Bitizens ständig, auch während unserer Abwesenheit vom Spiel erwirtschaftete Gold, und Tower Bux. Letztere kann sich der Spieler gegen reales Geld im Shop kaufen oder aber durch aktive Beschäftigung mit dem Spiel verdienen. Sie sind die eigentlich wichtige Währung, denn nur mit Tower Bux lassen sich die mit steigender Turmhöhe astronomisch anwachsenden Wartezeiten verkürzen. Je höher das Stockwerk, desto länger dauert es, bis etwa der Lagerstand der dort ansässigen Shops aufgefüllt werden kann - ab dem zehnten Stock sind reale Wartezeiten von über zwei Stunden die Regel. Pro Tower Buck lässt sich eine Stunde Wartezeit vermeiden, doch die Erwirtschaftung dieser Währung ist konsequent an Spielerfrustration gebunden. Tower Bux lassen sich sofort in-Game in Gold umwandeln - wäre das auch umgekehrt möglich, wäre Tiny Tower tatsächlich ein Spiel. Doch die Konversion des automatisch auch in Spielpausen generierten Goldes in die Wartezeiten verkürzende Währung Tower Bux bleibt uns verwehrt. Dafür kann man sie kaufen - gegen echtes Geld.
Natürlich muss man das nicht tun. Wer seine Tower Bux ohne reale Geldüberweisung aufstocken will, ist allerdings gezwungen, Liftboy zu spielen und im Minutentakt eintreffende Bitizens zum Stock ihrer Wahl zu befördern. Mit etwas Glück bekommt man von ihnen Trinkgeld in Form von Tower Bux, oder man bekommt nach einer zufälligen Anzahl dieser uninspirierten und sich tatsächlich wie Arbeit anfühlenden Sinnlostätigkeit die Chance, durch einen "VIP" diverse Produktionsvorgänge zu beschleunigen. In einer Stunde öden Liftfahrens, in der Tiny Towers peinlich vermeidet, etwaige Spaßanreize zu setzen, kann man so etwa 10 Tower Bux verdienen. Allerdings macht sogar das Ausfüllen der Steuererklärung mehr Spaß.
Warum tut man sich das an? Es ist das perfekte Pacing, das den Spieler langsam, aber sicher hineinzieht in diese Welt der niedlichen Turmbewohner und der unsichtbaren Mathematik. Und es ist ein Grundsatz der Spieltheorie: Je mehr Zeit ein Spieler mit "seinem" Turm, "seinen" Bitizens verbracht hat, umso größer der Widerwille, die bereits investierte Zeit als verloren anzuerkennen, umso größer die Verlockung, die sich exponentiell erhöhende Wartezeit durch den Kauf von Tower Bux zu verkürzen. Immerhin: 10 Stück kosten die lächerliche Summe von 79 Cent, 100 Tower Bux kosten 3,99€, 1000 "nur" 23,99€. Um 1000 Tower Bux lassen sich schwindelerregende Türme in Minuten bauen, ist die Puppenhauswelt so heil, dass sogar die "Missions", die nur für fortgeschrittene Turmbauer in Betracht kommen, in Reichweite sind. De facto würde es wohl Hunderte Stunden des spaßbefreiten Grindings, des stupiden Liftfahrens und konstanter Aufmerksamkeit benötigen, um Ähnliches ohne das Zücken der Geldbörse zu erreichen.
Tiny Tower und seine Kollegen, so könnte man böswillig schlussfolgern, sind gar keine Spiele, sondern perfekt ausgeklügelte psychologische Anreizsysteme, Geld auszugeben. Sie nutzen ihre scheinbare "Spielhaftigkeit" dazu, in ihren Spielern Suchteffekte auszulösen, nehmen diese "Spielhaftigkeit" aber konsequent nach einer einleitenden Phase zurück, um ihre Opfer durch gezielte und ansteigende Frustration zum Shop zu locken. Das Perfide ist, dass dieses System rein mit simplen, spielmechanischen Logiken und Mechanismen sein Auslangen findet und dabei meisterhaft die menschlichen Psyche manipuliert.
Es gibt kein Game over in Tiny Tower; es gibt auch keinen Sieg, kein Spielziel außerhalb des sich selbst genügenden weiter, höher, größer. Es ist eine Aufgabe fast Sisyphus'schen Ausmaßes, und ebenso sinnlos. Denn irgendwann kommt auch für den Abhängigsten aller Casual-Games-Verfechter, für den ultimativen Tower-Head die Erkenntnis, dass er oder sie genau so in den Fängen dieses Turms der Verdammten gefangen ist wie seine Bitizens, die in ihrer oberflächlichen bunten Welt aus Konsum, Geld und endloser Wiederholung feststecken.
Wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, sollte man den Turm der Verdammten verlassen - und künftig einen weiten Bogen um niedliche Freemium-Games machen, die hinter ihrer harmlosen Oberfläche mit den Abgründen der menschlichen Psyche ihr Geschäft machen. Wer sich traut und die nötige Härte besitzt, sich selbst durch Deinstallation wieder von Tiny Towers Fluch zu befreien, findet in dem Titel ein Lehrstück der Gamespsychologie - allerdings von der dunklen Seite der Macht.