Verrückt spielen: Korsakovia

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Anlässlich dieses aktuellen Interviews mit Dan Pinchbeck, Macher von Dear Esther, fällt es schwer, auf die neuen Projekte des Games-Experimentators aus Portsmouth zu warten. Vielleicht eine gute Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf Pinchbecks zweites, weitaus weniger beachtetes Mod-Projekt Korsakovia zu lenken, das schon 2009 veröffentlicht wurde. Wenige Spiele haben es jemals so gekonnt geschafft, die Wahrnehmung des Spielers so meisterhaft in Besitz zu nehmen wie dieses Experiment. Die Tag-Line sagt, worum es geht: "Trapped in the splintering fragments of a destroyed mind". Ein kurzer Abstecher zu einem der unterschätztesten Spielexperimente der letzten Jahre.

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Die Gänge des Krankenhauses sind leer und nur flackernd beleuchtet, die Plakate an den Wänden zeigen Augenoperationen und in den Ecken türmt sich dunkler Rauch. Schmerzhaftes Rauschen aus dem Lautsprecher, und dann, ganz nah, eine sanfte Frauenstimme: "Do you know where you are, Christopher? You are in a hospital. Do you know why you’re here? Christopher, do you understand that you are blind?"

Schon von Beginn an zeigt sich in Korsakovia, der Eigenbeschreibung zufolge "a survival horror First-Person Shooter", dass hier nicht alles ist wie sonst im Videospiel. Das Setting ist zumindest zu Beginn aus anderen Spielen vertraut: Wie so oft wandert der Spieler durch ein Krankenhaus, Kulisse unzähliger anderer Spiele, doch die hartnäckige Stimme aus dem Off, die uns bei der Erforschung der leeren, unheimlichen Gänge begleitet, lässt uns immer mehr zweifeln. Ist alles, was wir hier sehen, nur eine Halluzination? Leiden wir, wie uns die Stimme unserer Ärztin in den vielen Dialogen aus dem Off immer wieder versichert, eigentlich an einer Wahnvorstellung und alles, was wir hier im altbekannten Gewand eines First-Person-Shooters sehen, ist nur das Produkt unserer psychischen Krankheit, des Korsakow-Syndroms? Bei dieser  Form der Gedächtnisstörung werden Erinnerungslücken durch Fantasieinhalte ausgefüllt - eine berühmte Fallstudie findet sich in Oliver Sacks' Sachbuch "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte".

 

Korsakovia erzählt keine lineare Geschichte im traditionellen Sinn, sondern entlässt den Spieler in eine verunsicherte (und verunsichernde) Welt des Wahnsinns, wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet und überlässt die Interpretation des vieldeutigen Kammerspiels, das sich als Dialog zwischen Ärztin und Patient entfaltet, dem Spieler selbst.

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Der Spieler wird konsequent der Wahrnehmung seiner Figur ausgeliefert, und diese ist, so machen die Dialoge aus dem Off und auch die immer surrealer werdende Spielwelt klar, wahrscheinlich nur ein Hirngespinst, in dem wir als Spieler verloren sind. Wo Filme und Literatur "den Wahnsinn" nur zeigen und beschreiben können - im Film etwa in Christopher Nolans Memento oder bei David Lynch -, lässt uns Korsakovia  durch seine zersplitterte Erzählung die Desorientierung und Verunsicherung im Gewand des Spiels tatsächlich erfahren

Korsakovia zeigt uns etwas, was bisher einzigartig ist und was kein anderes Medium auf diese Weise leisten kann: wie es sich vielleichtanfühlen könnte, die Welt durch die verunsicherte Wahrnehmung psychischer Krankheit zu erfahren. Korsakovia ist demnach kein Spiel über eine psychische Krankheit - sondern in gewisser Weise deren Simulation.

Drei Jahre nach dem Erscheinen von Korsakovia (2009) feiert Dan Pinchbeck mit dem Remake von Dear Esther zu Recht kritische und finanzielle Erfolge; sein aktuelles Projekt, A Machine for Pigs, verspricht in seiner Zusammenarbeit mit den Machern von Amnesia so einiges an subtilem Horror. Die albtraumhafte Verunsicherung der Realität, wie sie Korsakovia vorführt, ist im Medium aber wenn nicht einzigartig, so doch auf wenige, experimentelle Titel beschränkt. Der allen Spielen zugrundeliegende Pakt, dass dem auf dem Monitor Gezeigten getraut werden kann, wird, wenn überhaupt, üblicherweise nur in "Traumsequenzen" unterlaufen, die klar vom "richtigen" Spiel abgegrenzt sind.

286Halber Nachfolger im Geiste: Souvenir

Dan Pinchbeck kann sich nach dem Erfolg von Dear Esther auf zu neuen Spielen machen. Vielleicht kommt es ja in Zukunft doch auch noch einmal dazu, dass auch Kosakovia mit neuem Anstrich und anständigem Bugfixing in neuem Glanz aufersteht; lohnen würde es sich auf jeden Fall. Bis dahin bleiben aber zum Glück auch aktuell noch andere Experimente, die auf ähnliche, wenn auch nicht ganz so radikale Art und Weise mit unserem Bild von Erinnerung, Realitätswahrnehmung und Wahnsinn spielen - besonders auf das grandiose Souvenir sei in diesem Zusammenhang hingewiesen. Doch so großartig und auf seine Weise originell dieses abstrakte Experiment auch ist: Korsakovia bleibt das große, unbekannte "zweite Album" von Pinchbecks TheChineseRoom. Und das ist nicht nur für Sammler interessant.

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