Kulturkritik vs. Kritikkultur

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Es ist ganz angenehm, sich neben der deutschsprachigen Spielkritik auch in der englischsprachigen zu bewegen. Das Publikum ist größer, ebenso der Kreis an Kritiker_innen, wodurch eine größere Vielfalt von Themen abgedeckt wird, die auch stets neuen Gesprächsstoff liefern. Was ich aber im Vergleich zu hiesigen Gegebenheiten am meisten daran genieße, ist, dass sich in der Community längst ein Konsens gebildet hat, über gewisse Themen einfach nicht mehr reden zu müssen. Anstatt sich ewig mit banalen Grundsatzdiskussionen aufzuhalten, wird lieber an der eigenen Methodik und dem eigenen Fokus gearbeitet.

Hierzulande sind wir da wohl noch ein paar Jahre hinterher, wenn selbst eine so absurde Frage, wie die, ob kulturelle Kritik von Videospielen sinnvoll ist, erst noch groß diskutiert werden muss. Das Thema der Woche gabs dabei zunächst als Facebook-Diskussion, die zu einem Artikel führte, der zu einem Video führte, das zu einem Podcast führte. Keiner dieser einzelnen Schritte ist an dieser Stelle wirklich von Belang, sondern allein die Tatsache, dass eine solche Sinnfrage überhaupt das Potenzial hat, zur großen Kontroverse zu werden.

Die offensichtliche Antwort lautet: Ja, es ist sinnvoll Videospiele, ebenso wie alle anderen Medien auch, auf kultureller Ebene zu durchleuchten. Gerade Menschen, die sich gerne für frei von jeglicher Ideologie halten, sollten Interesse daran haben, zu erfahren was den Medien, die sie konsumieren, zugrunde liegt, anstatt fehlende Objektivität oder vermeintliche Zensur zu beklagen. Da es aber wenig Sinn macht, an derartig unsinnigen Positionen kopfschüttelnd zu verzweifeln, folgen einige Klarstellungen zu Funktion und Stellung kultureller Kritik. Eine Einschaltung im öffentlichen Interesse, präsentiert vom kulturkritischen Serviceblog Video Game Tourism.

Kulturelle Spielkritik im deutschsprachigen Raum gibt es so gut wie nicht

Beschwerden, dass kulturelle Kritik überhand nimmt oder andere Texte verdrängt, sind hanebüchener Unfug. Mag sein, dass es jetzt mehr davon gibt als früher, oder sie wenigstens prominenter in Erscheinung tritt, aber “mehr” ist ein relativer Begriff. Nach meiner Beobachtung als Auslandskorrespondent für Critical Distance sind mindestens 90% der deutschsprachigen Texte zum Thema Reviews oder Previews. Oder Messeberichte, oder News, oder Interviews mit Entwickler_innen, oder sonst irgendwas, das darauf abzielt, Leuten zu sagen, welche Spiele sie sich jetzt und in Zukunft anschauen sollen.

Daran ist auch erstmal nichts verkehrt. Mit Kurzrezensionen zu Indie- und Gamejam-Spielen, die sonst kaum Aufmerksamkeit bekommen, füllt etwa Superlevel eine enorm wichtige Nische, von den großartigen Artikeln mal ganz abgesehen (für ihre Arbeit solltet ihr sie übrigens entlohnen ). Dass es aber nur wenige Seiten und Autor_innen gibt, die sich explizit der Bedeutung von Spielen anstatt deren Qualität widmen, bleibt eine gewaltige Lücke im lokalen Diskurs. Wie es möglich ist, sich durch die wenigen Ausnahmen gestört, ja sogar angegriffen zu fühlen, ist unerklärlich, beziehungsweise unfreiwillig komisch, wenn gleichzeitig der Vorwurf kommt, Kritiker_innen wären ja nur auf der Suche nach etwas, über das sie sich aufregen können.

Kulturelle Spielkritik interessiert sich keineswegs nur für Plot und Charaktere

Sicher wird die Geschichte von Spielen mittlerweile auch in traditionellen Reviews detailliert behandelt - schlicht und einfach weil sich herumgesprochen hat, dass das eigene Publikum diese keineswegs nur als schmückendes Beiwerk empfindet -, aber wer dahinter die Agenda von Kritiker_innen vermutet, die Spielen ihren literaturwissenschaftlichen Stempel aufdrücken wollen, enthüllt mangelndes Verständnis für die Analyse von Spielen. Gerade die Mechanik, die hier angeblich zu kurz kommt, stellt ein hochgradig bedeutungsgeladenes Element dar, an dem sich Kritiker_innen mit Vergnügen abarbeiten.

Das beste Beispiel für derartige Analysen ist die Arbeit von Chris Franklin, der in seinen Video-Essays haargenau betrachtet, wie die Systeme von Spielen ineinander greifen, welche Annahmen in den Parametern ihrer Simulation stecken und welches Weltbild dadurch transportiert wird. Dabei geht er genauer auf Mechaniken, Interfaces und die von ihnen erzeugten Spielkreisläufe ein, als das ein Launch Day Review je könnte.

Kulturelle Spielkritik macht bei allen Spielen Sinn

Aus der Tatsache, dass Mechaniken Bedeutung transportieren, ergibt sich in Folge, dass sich kein Spiel dem Rahmen kultureller Kritik entzieht. Ein Spiel muss sich nicht so explizit bedeutsam präsentieren wie etwa The Beginner’s Guide, damit Interpretation Sinn macht. Es ist sogar unmöglich, ein Spiel so abstrakt und simpel zu gestalten, dass kein Interpretationsspielraum bleibt. Tetris gilt oft als Beispiel für pure Mechanik ohne Bezug zur Realität, und lässt sich doch von Janet Murray mühelos als Darstellung der vielen Belastungen eines gestressten Alltags lesen.

Selbst wenn der Inhalt des Spiels beiseite gelassen wird, bleibt es dennoch als gesellschaftliches Phänomen relevant.

Selbst wenn der Inhalt des Spiels beiseite gelassen wird, bleibt es als gesellschaftliches Phänomen relevant: der kommunistische Designerfolg, der vom Kapitalismus vereinnahmt wird und dort den Konsum der Unterhaltungselektronik antreibt. Wenig überraschend ist der Anwendungsbereich kultureller Kritik ebenso breit wie der des Kulturbegriffs selbst. Spieleentwicklung hat eine eigene Kultur, einzelne Spiele haben eine eigene Kultur, und manche Spielefans haben leider auch ihre ganz, ganz eigene Kultur. Und die kritikwürdig zu nennen, wäre sicherlich noch untertrieben.

Kulturelle Spielkritik will nichts verbieten

Genau genommen ist es ein Fehler, sich überhaupt auf diese Zensur-Rhetorik einzulassen, ist es doch die besorgte Gamerschaft selbst, die bemüht ist, die kreative Freiheit von Entwickler_innen einzuschränken. Etwa wenn diese sich entschließen, eine Transperson in ihr Spiel einzubauen. Oder eine Siegespose wieder daraus zu entfernen. Oder die Nachladedauer einer Waffe um Milisekunden zu verändern. Es erfordert schon einen spektakulären Willen zur Realitätsverweigerung, in kultureller Kritik eine Form von Zensur zu sehen, während dergleichen reaktionäre Tobsuchtsanfälle als traurige Normalität der Spieleentwicklung gelten.

Aber um es klarzustellen: Kritiker_innen geht es nicht um Verbote. Außerhalb absurder Verschwörungstheorien haben wir auch gar nicht die Möglichkeit, auf Spiele derartigen Einfluss auszuüben. Was die Beschäftigung mit einem Thema wie Sexismus leistet, ist darzulegen wie dieser, teils unbewusst, teils unhinterfragt, teils ungehemmt in Spielen reproduziert wird. Eine solche Analyse der transportierten Werte und Ideologien ermöglicht einerseits einen bewussteren Medienkonsum, aber auch einen bewussteren Schaffensprozess. Wenn sich Entwickler_innen tatsächlich dazu entschließen, eine Design-Entscheidung aufgrund solcher Kritik zu überdenken, so nur, weil sich ihnen durch diese eine neue Perspektive anbietet, die ihre eigenen Überlegungen bereichert. Es ist kein Zeichen von Zwang, sondern eines gelungenen Dialogs zwischen Spielkritik und Spieleentwicklung.

Solange solche Änderungen in ihrem Sinn sind, werden sie von der selbsternannten Zielgruppe nicht nur geduldet, sondern auch vehement eingefordert. Aber wehe, sie sieht sich dadurch aus dem Zentrum des Universums gerückt, dann wird die Vision der Entwickler_innen, die eben noch wegen jedes verbliebenen Bugs als unfähig beschimpft wurden, ganz schnell für heilig erklärt. Dieselbe Heuchelei steckt übrigens in der Forderung, doch neue Spiele zu finden oder zu machen anstatt immer an ihnen herumzukritisieren.

Kulturelle Spielkritik liefert keine simplen Antworten

Eigentlich sollte auf der Hand liegen, dass bei der nuancierten Beschäftigung mit komplexen Themen selten ein einfaches Ja oder Nein herauskommt, aber für mehr bietet das binäre Weltbild vieler Menschen offenbar keinen Platz. Sie fordern klare Urteile: Ist Spiel/Figur/Element X jetzt sexistisch oder nicht? Nun, das lässt sich eben nicht immer sagen. Bayonetta stellt etwa einen bekannten Streitfall dar: Einerseits geht die Figur im eigentlichen Spiel selbstbewusst und selbstbestimmt mit ihrer eigenen Sexualität um, andererseits ist dies eben doch keine eigene Entscheidung, sondern Teil der Gestaltung durch den männlichen Designer Hideki Kamiya, aber auch der Designerin Mari Shimazaki. Wie diese beiden Seiten gegeneinander abzuwägen sind, dazu gibt es unterschiedliche Ansichten.

Die Existenz solch unterschiedlicher Standpunkte, die ohne Kenntnis der dahinterstehenden Überlegungen widersprüchlich scheinen, dient oft als Rechtfertigung für absoluten Relativismus, also die Annahme, dass sich sowieso jeder Standpunkt irgendwie erfolgreich argumentieren lässt. Leider ist diese Annahme absoluter Unfug. Nur weil sich etwa darüber streiten lässt, wie genau gesunde Ernährung aussieht - auch weil das, wie bei sexistischen Spielelementen, stark vom individuellen Kontext abhängt - heißt das noch lange nicht, dass sich deswegen auch Fliegenpilze als Superfood verkaufen lassen. Sich einem breiten theoretischen Kontext zu verweigern, ist keine legitime Gegenposition, sondern schlichte Ignoranz.

Kulturelle Spielkritik macht Spiele nicht kaputt

Wer einerseits kulturell ernstgenommen werden will, kann nicht andererseits den Schutzschild der Belanglosigkeit beanspruchen.

Die Devise lautet: Ruhe bewahren! Auch wenn kulturelle Kritik auf den ersten Blick seltsam anmuten mag, lässt sie sich doch mit Leichtigkeit umgehen oder mit dem eigenen Spielkonsum in Einklang bringen. Entgegen landläufiger Meinungen ist es durchaus möglich, geöffnete Artikel wieder zu schließen, ohne sie erst lesen zu müssen, und auch das Abgeben eines Kommentars ist nicht verpflichtend. Nach entsprechendem mentalen Training lässt sich der Sog des Kommentarbereichs sogar gänzlich vermeiden.

Wer trotz sämtlicher Vorsichtsmaßnahmen mit kultureller Kritik in Berührung gekommen ist, mag befürchten nun mit Spielspaßverlust konfrontiert zu sein, aber auch hier handelt es sich um einen Irrglauben. Auch nach Belastung durch kulturelle Kritik lassen sich Lieblingstitel uneingeschränkt genießen, lediglich im Falle verdrängter Zustimmung kann es zu Zähneknirschen und Schulterzucken kommen. Hier schaffen Kommentare wie “Objektiv falsch!“ und “Ist ja nur ein Spiel” kurzzeitige Linderung.

Kulturelle Spielkritik ist. Punkt.

Lange, lange Jahre wurde gefordert, Spiele mögen doch endlich als Kunstform und Kulturgut anerkannt werden. Nun endlich ist das Ziel erreicht, und das hat seine Folgen. Wie jedes andere Medium auch werden Spiele zum Gegenstand vielfältiger Betrachtungen, feuilletonistischer wie akademischer, feministischer wie postkolonialistischer. Nun, da mit dem Medium intensiver ins Gericht gegangen wird, wird aber auch der Wunsch nach der handzahmen Testerei früherer Zeiten laut. Aber beides auf einmal geht halt nicht. Wer einerseits kulturell ernstgenommen werden will, kann nicht andererseits den Schutzschild der Belanglosigkeit beanspruchen.

Je früher also Spieler_innen Frieden mit kultureller Kritik schließen, oder gar lernen, dieser offen gegenüberzustehen, desto besser für alle Beteiligten. Dann müssen wir diese Unterhaltung in Zukunft hoffentlich auch nie wieder führen.

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