Pile of Fame #4

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Der Berg an neuen Spielen wächst so rasant wie noch nie - und damit auch die Anzahl an bemerkenswerten Spielen, die im Dauerfeuer der Hypemaschinerien untergehen. Grund genug, dem allgegenwärtigen Pile of Shame zumindest ein wenig Ehre zuteil werden zu lassen und Spiele vor den Vorhang zu holen, die auch ein bisschen Fame verdient hätten - auch diesmal wieder mit fast vergessenen Kleinoden, halbneuen Nischenperlen und alten Spielen, die ihr immer schon mal spielen wolltet. Der vierte Pile of Fame ist ein wenig anders: Herr Zurschmitten, vor kurzem noch desillusioniert und dem Schreiben über Spiele allgemein abspenstig werdend, konnte sich angesichts seines ausgewählten Spiels nicht wie verlangt kurz fassen und bespielt somit in Kürze einen eigenen Artikel mit seinem Beitrag. Gast diesmal dafür der Herausgeber der WASD und Allround-Spaßkanone Christian Schiffer.

Christian - Omnibus Simulator

„Happiness is reality minus expectations“ hat irgendwer einmal gesagt und dieser irgendwer hat natürlich recht: Ein Spiel, bei dem denkt, es wird scheiße und das dann nur halb scheiße ist, kann manchmal mehr Spaß machen als ein Spiel, auf das man sich monatelang freut, das dann aber doch nur sehr gut ist. Genau das trifft für den Omnibus-Simulator zu. Das Spiel ist eigentlich eines dieser klassischen Simulationsspiele, bei denen man sich denkt: „Oje, das ist doch schon wieder eines dieser klassischen Simulationsspiele!“. Man geht also davon aus, dass das Spiel ein billiger Fuckup ist, nur dazu gemacht, irgendwelchen 43-jährigen Familienvätern das Geld aus der Tasche zu ziehen, die sich im Mediamarkt eigentlich nur einen neuen Drucker kaufen wollten, aber jetzt mit dem Holzfällersimulator 2014, dem Müllabfuhrsimulator 2013, dem Abschleppwagensimulator 2010, dem Eisenbahnsimulator 2018, dem Industriesaugersimulator, dem Kehrmaschinensimulator, dem Eisenbahnsimulator 2017 und dem Fahrsimulator 2009 nach Hause gehen und das alles nur, weil sie 1991 in den Sommerferien mal eine schöne Zeit mit dem Flugsimulator 4.0 von Microsoft hatten.

Aber der Omnibus-Simulator ist kein billiger Fuckup, der Omnibus-Simulator ist ein wirklich gutes Spiel. Wirklich. Der Omnibus-Simulator gibt sich Mühe, realistisch Omnibisse zu simulieren und zwar nicht nur einen, sondern gleich mehrere: Man kann mit dem MAN SD 200 Passagiere durch Berlin kutschieren, mit dem MAN SD 202 auch und sogar mit dem MAN NL 202! Und das beste: Sogar Fahrscheinverkauf wird simuliert! Im Feld der Simulationsspiele ist der Omnibus-Simulator, der übrigens 2011 erschienen ist, somit das, was Stephan Effenberg Anfang der 90er beim FC Bayern war: der Einzige, der etwas taugt. Oder zumindest fast der Einzige.

Das erstaunliche am Omnibus-Simulator: Das Spiel hätte vermutlich gar nicht so gut sein müssen, auch einen schlechten Omnibus-Simulator hätten die 43-jährige Familienväter natürlich mit eingepackt. Aber offenbar wollten die Macher einfach wirklich ein gutes Spiel machen, sie wollten halt einen guten Omnibus-Simulator machen. Dort, wo man oft mit Scheiß zufrieden ist, wollten sie etwas qualitativ Hochwertiges schaffen. Das ist in etwa so, wie wenn man sagen würde, dass man eine gute Hairmetal-Band gründen möchte oder in die FDP eintritt, um gute Politik zu machen: Es handelt sich um ein Unterfangen, das bestenfalls belächelt wird. Wie schön ist es aber, dass es Leute gibt, die so etwas trotzdem immer wieder versuchen. Der Omnibus-Simulator ist das beste Beispiel dafür, dass so etwas so gut wie nie klappt. Aber manchmal dann eben doch.

Joe - Kittens Game

Idle Games dürften wohl das einzige Genre sein, das erst Spec Ops: The Line hervorgebracht hat und im Anschluss Call of Duty. Die ersten Vertreter dieser minimalistischen Gattung waren Parodien wie Progress Quest, die das Rechenmodell aufs Korn nahmen, auf dem nach wie vor der Großteil unseres Mediums beruht: die Vorstellung von endlosem Wachstum, eines ewigen Gleichgewichts aus härteren Gegnern, größeren Waffen und besseren Belohnungen. Womit diese Vorläufer auch einen prophetischen Ausblick auf die Zukunft des nackten Zahlenspiels lieferten, das auf Smartphones inzwischen von ironieresistenten Entwicklern nach Strich und Faden gemolken wird, indem Spieler_innen zur Vervielfachung hypothetischer Werte echtes Geld bezahlen.

Auf der anderen Seite finden sich aber nach wie vor Ableger, die die auf das Wesentliche reduzierte Optik und Mechanik in den Dienst ehrbarer Ziele stellen, wie etwa das charmante Space Plan, das sich die exponentielle Wachstumskurve im Zentrum des Spiels zunutze macht, um die gewaltigen Maßstäbe kosmischer Distanzen zu veranschaulichen. Mein persönlicher Favorit ist aber Kittens Game, ein Spiel, das einen trotz niedlicher Thematik mit der komplexen Aufgabe betraut eine ganze Katzenzivilisation auf ihrem Weg von der Steinzeit bis zur Besiedelung des Weltalls zu verwalten.

Interessanterweise liefert das Spiel damit eine Bottom-Up Variante der üblichen Historiensimulationen. Anstelle Geschichte wie in Civilization als Abfolge großer Ideen und großer Persönlichkeiten darzustellen, stehen in diesem abstrakten Setting alle Ressourcen und Leistungen gleichberechtigt nebeneinander. Natürlich ergibt sich Fortschritt trotzdem nicht organisch: sobald ich genügend Wissenschafts-Punkte gesammelt habe, erfinde ich mit einem Klick die Philosophie und von einem Moment auf den anderen fangen meine schnurrenden Staatsbürger an sich existentielle Fragen zu stellen. Aber dieser Moment erfährt in dem reduzierten Interface des Spiels gleich viel Fanfare wie der Bau einer neuen Scheune, nämlich gar keine. Die Vielzahl an unterschiedlichen Ressourcen, die Kittens Game nebeneinander auflistet, zeigt uns welche Beiträge nötig sind um die großen Meilensteine zivilisatorischen Fortschritts zu ermöglichen. Bevor unsere Katzengelehrte die Philosophie erfinden können muss erst eine Bibliothek gebaut werden, muss erst Holz gefällt werden, muss erst Futter für die Holzfäller angebaut werden, etc. etc.

Robert - Retro Game Crunch

In einer Welt, in der Games-Klassiker aus den 80ern und 90ern alle paar Jahre neu für aktuelle Spielsysteme verlegt werden und neuerdings immer öfter sogar alte Hardware in Form von Gimmick-Geräten (“40 Spielehits sind schon mit dabei!”) ein weiteres Mal auf den Markt kommen, tut Abwechslung not. Doch abseits der ewigen Neuauflagen ist die Bezugnahme auf vergangene Games-Zeiten und das interaktive Retro-Zitat gar nicht so einfach. Eine Möglichkeit ist, dem Look and Feel von damals mehr oder weniger Tribut zu zollen und sich beim Gamedesign an den Klassikern zu orientieren, aber sie nur als Grundlage zu nehmen. Eine andere Möglichkeit ist das technisch akribische, native Entwickeln für längst überholte Systeme, die man dann als User aber auch besitzen sollte oder sich zumindestens mit Emulationssoftware herumschlagen muss.

Eine elegantere, dritte Lösung hat ein Retrogames-Trio entwickelt, das sich 2012 bei einem Game Jam (Ludum Dare 24, Thema “Evolution”) formiert hat. Das Ergebnis war Super Clew Land, ein drolliger Platformer, bei dem man einen kleinen Kriecher durch eine fortlaufende Evolution führt: je komplexer der Organismus wird, desto mehr Fähigkeiten bekommt die Figur. Der Jam und der damit zusammenhängende 72-Stunden-Crunch hat Rusty Moyher, Shaun Inman und Matt Grimm so motiviert, dass sie das wieder machen wollten - die Idee für Retro Game Crunch war geboren. Eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne später macht sich das Team an sechs weitere, diesmal privat organisierte Game Jams. Zuerst wird immer drei Tage lang gecruncht. Nach einer kurzen Erholungszeit wird das jeweilige Spiel anschließend noch einen Monat lang perfektioniert. Nach einem halben Dutzend Wiederholungen war es Mitte 2014 dann soweit: Die Spielesammlung Retro Game Crunch erscheint. Es ist eine Art “Games That Never Were”-Füllhorn, mit dem markanten Unterschied, dass diese Titel nun eben doch sind: Da ist das Zeitreise-Metroidvania Paradox Lost, der hündische Puzzle-Platformer Wub-Wub Wescue, das Karten-Kampfspiel Brains & Hearts, ein Martial-Arts-Shmup namens Shūten, der vertikale Brawler GAIAttack!, der brillante Suizid-Puzzler End of Line (mit einer Art lebensmüdem Mega Man), und eine überarbeitete Version des Erstlingswerks - Super! Clew Land Complete.

In jedem der sieben Games sind Nostalgie, Herausforderung und Umfang perfekt ausbalanciert. Audiovisuell wirkt es so, als käme alles direkt aus einem NES. Spielerisch wird man verblüffend authentisch in vergangene Zeiten zurückgebracht: Die Games sind somit fordernd, doch das vielfach frustrierend bis unfair gestaltete Gamedesign vieler alter Titel ist hier nicht am Werk. Und obwohl die Titel von Retro Game Crunch inhaltlich überschaubar sind, bieten sie erstaunlich viel Tiefgang. Alle sieben Spiele abzuschließen (bzw. Brains & Hearts zu beherrschen) dauert in etwa so lange, wie ein gängiges Vollpreisspiel durchzuspielen. Doch die Wahrscheinlichkeit, bei einem bunten Strauß kleinerer Games gelangweilt zu werden, ist auffallend geringer als beim unentwegten Abgrasen diverser Open-World-Missionen der Marke 08/15. Retro Game Crunch ist Retrogaming, wie wir es uns wünschen - stellenweise übrigens sogar mit Multiplayer-Modi.

Rainer - Unexplored

Unexplored ist ein Spiel, dessen Lob exakt ich letztes Jahr im Februar auf allen Kanälen hätte singen müssen, denn es gibt sich alle Mühe, genau die richtigen Knöpfe bei mir zu drücken: Es ist ein Rogue-lite, das weitaus mehr Rogue als lite ist, es macht interessante Sachen mit prozeduraler Generierung, es kümmert sich um narrative Kunststücke und es sieht schick aus. Keine Ahnung, warum es damals an mir vorbeigegangen ist, vermutlich habe ich For Honor und “Tides of Numenera* stattdessen gespielt - ich weiß es nicht.

Was ich weiß, ist allerdings, dass ich keines der beiden Genannten heute noch eines Blickes würdige, doch Unexplored wird meine Festplatte nicht so schnell verlassen. Schon alein Unexplored würde somit die Existenz der “Pile of Fame”-Reihe ausreichend rechtfertigen, denn mal ehrlich: Es ist viel zu schade, einfach unerwähnt und unbesungen bestenfalls als Insiderspiel der Insider ein hipsteriges Dasein fristen zu müssen. Als einäugiger, nunja, Pfeilvogel (Copyright: Sohn) begebe ich mich aus der Vogelperspektive wieder und wieder in zufallsgenerierte Dungeons, und zwar ziemlich unterschiedliche, wie Alex Wiltshire in seiner roßartigen Spielmechanik-Erklärbärserie “The Mechanic” hier näher ausführt. Der Kampf passiert in Echtzeit, Monster und Fallen sind fies, das UI für ein Rogue-like unverschämt poliert und die Abenteuer mindestens so unterschiedlich wie tödlich.

Zum Glück dürfte mein Übersehen dieser kleinen Perle letztes Jahr ihrem relativen Erfolg nicht gar zu viel im Weg gestanden sein, denn der sympathische Entwickler hat drei DLC-Packs nachgeworfen - und das kostenlos. Eines davon, der “Ripley Run” ist die Blaupause für ein von krabbeligen Aliens überranntes Abenteuer wie in - exakt - “Aliens”, und alleine das sollte jeden vernünftig denkenden Menschen sofort in Verzückung versetzen. In Kürze kommt Unexplored übrigens für die Switch. Ein bescheidener Rat: Kauft es alle.

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