Idealer Leser im Todeslabyrinth

Dieser Essay erschien zuerst in der WASD9 und im Anschluss auf Wired.de

Videospiele sind Widerstand. Sie stemmen sich gegen ihre Spieler, fordern zur Überwindung heraus und sind gemacht, um nach eigenen Regeln erfahren zu werden. Die Spiele von Hidetaka Miyazaki – Demon’s Souls, die Dark Souls-Reihe und Bloodborne – verlangen ihren Spielern auf mehreren Ebenen alles ab – und eine davon, die erzählerische, lässt sich nur von denen in ihrer Größe wahrnehmen, die sich lange nach der Meisterung ihrer legendär strengen Spielmechanik in ein ganz anderes Labyrinth herabwagen, das jenseits der fordernden Kämpfe und komplexen Rollenspielelemente liegt.

Anders gesagt: Wer den dunklen und letztlich rätselhaften Ereignissen der Erzählung dieser Spiele folgen will, muss mehr überwinden als Gegner, Umwelt und die eigene Frustrationstoleranz.

Umberto Eco hat darüber geschrieben, wie er sich mit den schwierigen ersten hundert Seiten seines Romanes „Der Name der Rose“ einen in seinen Augen „idealen Leser“ erschaffen wollte:

„Was bedeutet es, sich einen Leser vorzustellen, der die Hindernisse der ersten hundert Seiten bewältigt? Es bedeutet hundert Seiten zu schreiben mit dem Ziel, sich einen Leser zu erschaffen, der für alles Folgende geeignet ist. Welchen idealen Leser wollte ich? Einen Komplizen, auf jeden Fall, einen, der mein Spiel mitspielen würde … Aber zugleich wollte ich mit aller Macht einen Typ von Leser erschaffen, der nach der Initiation ein Opfer werden würde, oder eher: das Opfer des Textes – und der glauben würde, er wolle nichts außer dem, was der Text ihm anbietet.“

Geschenkt bekommt man in diesen Spielen nichts – auch keine Erzählung.

Hidetaka Miyazaki hat ebenfalls einen Mechanismus erschaffen, sich den idealen Leser seiner düsteren, vielschichtigen Erzählungen zu formen und ihn sich zum Opfer zu machen, und dieser sind seine Spiele selbst. Es sind Spiele, deren Protagonisten stets so verwirrt sind wie wir vor dem Bildschirm: wiedergängerische Untote, verdammt, nach jedem Tod aufs Neue aufzustehen; Jäger im Halbdunkel zwischen Traum und Wachsein; Fremde in unbekannten Ländern allesamt, und um ihren Geisteszustand steht es nicht zum Besten. Was sowohl die Spieler als auch die Helden von Dark Souls und Bloodborne über die Welt, in der sie leiden, sterben und wiederkehren, erfahren, muss in Blut, Schweiß und Tränen erarbeitet werden; und meistens ist der Lohn für die Mühen nur ein weiteres Puzzlestück für einen stetig anwachsenden Berg an Fragmenten, die sich nur schwierig zu etwas großem Ganzen zusammenstellen lassen. Geschenkt bekommt man in diesen Spielen nichts – auch keine Erzählung.

Miyazaki verwendet kaum Cutscenes, und die kurzen Filme, die uns am Beginn der jeweiligen Spiele sowie zumeist vor einzelnen, besonders schweren Gegnern erwarten, sind rätselhaft und lassen sich oft erst im Nachhinein deuten. Auch jene Figuren, die uns nicht feindlich gegenüberstehen, geben nur wenig von sich preis und verfolgen ihre eigene Agenda; und allzu oft ist ihnen gegenüber auch Misstrauen angebracht. Die verlässlichsten Informationen über die Welt, unsere Aufgabe in ihr und ihre nicht selten Jahrhunderte oder gar Jahrtausende alte Geschichte finden sich in Handfesterem, nämlich den Gegenständen, Waffen und Dingen, die wir finden, benutzen und konsumieren.

In den Beschreibungen dieser Gegenstände findet sich der Schlüssel zu dem, was sich um uns in der Welt verbirgt. Ein Gegenstand in Bloodborne wird etwa so beschrieben: „Runenschmied Caryll, Student in Byrgenwerth, transkribierte die unmenschlichen Äußerungen der Großen in das, was wir heute Caryll-Runen nennen. Provost Willem wäre stolz auf diese Runen gewesen, da sie sich nicht auf die Kraft des Blutes verlassen.“ Wer Provost Willem ist, wer die Großen sind oder waren, und warum es von Bedeutung ist, dass Blut bei der Verwendung der Runen keine Rolle spielt, sind Fragen, die sich nur dem stellen, der aus eigenem Antrieb weiter nach Bedeutung sucht; spielentscheidend ist ihre Beantwortung nämlich nicht. Dass die Beschreibungen mehr sind als bloßes Ornament, dass es Antworten gibt auf die Fragen, die die Welt, die Figuren und auch Gegenstände aufwerfen, macht die erzählerische Größe dieser Spiele aus; wie sie gegeben werden, macht sie einzigartig.

„Show, don’t tell“ ist die große goldene Regel des Erzählens, und Miyazakis erzählerische Labyrinthe sind Denkmäler dieser Maxime. Wer etwas gezeigt bekommen will, muss aber auch mit offenen Augen durch die Welt gehen, denn – wer hätte es gedacht – an der Hand wird man auch bei der Suche nach Antworten nicht gehalten. Als Lohn dafür überlässt Miyazaki wie wenige andere Weltenbauer dafür in seinen Spielen nichts dem Zufall, wird jeder kleinste Stein, jedes kleinste Detail mit Bedacht gesetzt. Byrgenwerth ist ein Ort, den wir erforschen werden; Provost Willem und sein Schicksal werden uns in einer Vielzahl von Andeutungen und schließlich in Person begegnen; und die Gefahren des Blutes zeigen sich in hunderten Details, die dem aufmerksamen Spieler fortan ins Auge fallen, dem achtlosen aber entgehen. Wie es überhaupt ein Merkmal dieser Spiele ist, dass sie Achtsamkeit belohnen und denjenigen, der sie ohne genau zu schauen durchläuft, mit tausend Toden bestrafen und auch an ihrem Ende ratlos zurücklassen. Es ist kaum eine Übertreibung, zu sagen, dass kaum mehr als eine Handvoll Spieler auf der ganzen Welt ihre Geheimnisse erschöpfend ergründet haben.

Kaum mehr als eine Handvoll Spieler auf der ganzen Welt haben auf eigene Faust die Geheimnisse dieser Spiele vollends ergründet.

Dass auch Normalsterblichen diese Untiefen zugänglich gemacht werden, ist der Community geschuldet. Nur wenige Spiele werden liebevoller in Videos und Wikis dokumentiert, und bei den wenigsten wird diese Mühe derart reich belohnt. Unzählige Forenthreads, Kommentarseiten und Fan-Communitys diskutieren auch heute, teils Jahre nach Release, leidenschaftlich die letzten Geheimnisse und Funde in diesen schier unerschöpflichen Labyrinthen. Für einige wenige ist dieses Scholarentum sogar zur Lebensgrundlage geworden: Dank Patreon-Kampagne finanzieren über 800 Gönner mit Kleinbeträgen etwa die Videos des Australiers Michael Samuels, der unter dem Namen VaatiVidya die Geheimnisse der Souls-Reihe sowie Bloodbornes akribisch sammelt und in Videos dokumentiert. Ganze 30 Minuten lang dauert etwa seine Rekonstruktion der Handlung sowie der Vorgeschichte von Bloodborne, die in unzähligen Details, Gegenstandsbeschreibungen und Hinweisen im Spiel verborgen liegt.

Das Erzählen Miyazakis erschöpft sich aber nicht im trockenen Aneinanderreihen von Fragmenten einer Hintergrundhandlung, sondern lässt sich durch unsere Handlungen verändern und erzählt dabei, ganz abseits von den letztlich banalen Fantasy- und Horrortropen, auch von Menschen und ihrem Ringen mit dem Menschsein in diesen düsteren Welten. Ihre Geschichten verleihen nicht zuletzt diesen dunklen Erzähllabyrinthen ihre charakteristische tragische Note. Da ist die Kriegerin, der bei jeder weiteren Begegnung sowohl Menschlichkeit als auch Erinnerung im ewigen Kreislauf von Tod und Untod entgleiten; da ist die eifersüchtige alte Jungfrau, die, vielleicht von uns gänzlich unbemerkt, zur Mörderin wird; da ist die nur in Hinweisen entschlüsselbare Geschichte eines Mädchens, das ihren zum Monster gewordenen Vater vergeblich zurückzugewinnen sucht und ein trauriges Ende findet. Eine passend „Prepare to cry“ betitelte weitere Videoserie von VaatiVidya bündelt diese im Spiel versteckten kleinen Dramen zu kurzen Filmen, die diese erstaunliche Bandbreite an Charakterporträts und Schicksalen beeindruckend vor den Vorhang holen.

Wie kein anderes Medium bieten Videospiele Raum für neue Verträge zwischen Erzähler und Publikum.

Wie kein anderes Medium bietet die Interaktivität von Videospielen Raum für erzählerische Experimente, für neue Verträge zwischen Erzähler und Publikum. Ein ganz neues, anderes Erzählen abseits von Linearität und oft nur vom Film geborgter Präsentation, das den Leser als nachforschende, aber auch gestaltende Kraft ernst nimmt; ein auch anstrengendes, forderndes, aber gerade deshalb belohnendes Erzählen, das sich selbst als Widerstand zwischen den Leser und seine Geschichte stellt.

Hidetaka Miyazakis Spiele, berüchtigt und berühmt für ihre spielerische Härte, sind nicht nur kultisch verehrte, beinahe perfekte Prüfungen unserer Geschicklichkeit und unseres Durchhaltevermögens; sie sind auch Meisterklassen ebendieses, nur in diesem Medium möglichen neuen Erzählens. Alleine dafür lohnt es sich, sie zu spielen.

Bilder von deadendthrills

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