Workification: Warum Computerspiele immer mehr wie Arbeit werden

Dieser Essay erschien zuerst für den GameStandard

Wir leben in einer “Hochleistungsgesellschaft”. Effizienz hat höchste Priorität, und wer seine Ressourcen nicht “richtig” nutzt, verschwendet sie. Die moderne Welt ist - auch dank Vernetzung und Globalisierung - ein Ort, an dem (Arbeits-)Leistung und die Identifikation mit seinem Beruf gesellschaftlich immens wichtig sind. Dass die Beschäftigung mit Computerspielen dabei von vielen immer noch verächtlich als “Lebenszeitverschwendung” geringgeschätzt wird, steht ihrem weltweiten Erfolg entgegen. Mehr Menschen als je zuvor verbringen ihre arbeitsfreie Zeit mit Computerspielen. Zeitverschwendung, ganz abseits des Effizienzdrucks des “richtigen” Lebens, ist offenbar ein Luxus, der geschätzt wird.

Das seit Jahren gehypte Schlagwort “Gamification” beschreibt, wie Mechanismen aus der Welt der Spiele in anderen Bereichen gewinnbringend zum Einsatz kommen können. Belohnungsspiralen und andere psychologische Tricks aus dem Gamedesign können, so die Autorin und Gamedesignerin Jane McGonigal, die 2011 den Begriff mit ihrem Buch “Reality is Broken” (zu Deutsch: “Besser als die Wirklichkeit”) ins Zentrum des medialen Interesses rückte, in Marketing und PR, im Gesundheitswesen, am Arbeitsplatz, aber auch in Politik und Bildung zur Anwendung kommen.

Während die mediale Euphorie in Sachen Gamification auch in Anbetracht von lauter werdender Kritik allerdings seit Jahren merklich abflaut, lässt sich zunehmend etwas Erstaunliches beobachten: Viele, gerade erfolgreiche Spiele übernehmen umgekehrt Mechanismen und Ideale aus der Arbeitswelt - und lassen so das vermeintliche Rückzugsgebiet Computerspiel zum weiteren Schauplatz ganz klassischer gesellschaftlicher Handlungsangebote werden.

Workified Games”, so nennt der US-amerikanische Künstler und VGT-Autor Eron Rauch in der kürzlich hier veröffentlichten Long-Read-Essayserie dieses Phänomen . Die Ausgangssituation klingt bekannt: Nach einem anstrengenden Arbeitstag vor dem Monitor sieht man sich strukturell in Computerspielen wie zum Beispiel MMOs zunehmend denselben Aufgaben gegenüber wie im realen Arbeitsalltag - nur bunt verpackt. Wer seinem Avatar bessere oder besondere Ausrüstung kaufen will, muss oft Stunden monotoner Tätigkeit in Kauf nehmen - beinahe so wie im richtigen Leben.

In Computerspielen spiegelt sich die “richtige” Welt und ihr Hochleistungsideal.

Modernes Spieldesign setzt oft auf zeitintensive, einfache Aufgaben wie Grind oder “Farming”, verstrickt Spielerinnen und Spieler in Hamsterräder von Looting und Crafting, zwingt zur Absolvierung bestimmter Tasks, um Achievements, Gegenstände oder Upgrades freizuschalten oder - ganz grundlegend und allgegenwärtig - macht seine Spielerinnen und Spieler ohne Alternative zu Befehlsempfängern und Laufburschen seiner Fantasywelten. Sowohl in der unhinterfragten Rollenverteilung als auch in der ganz selbstverständlichen Konzentration auf Effizienzsteigerung als Gameplay-Ziel spiegelt sich die “richtige” Welt und ihr Hochleistungsideal.

Zum Teil lassen sich die Strukturen dieser “workified games” durch die menschliche Natur erklären: Ehrgeiz, Wettbewerbsgeist und das Bedürfnis nach dem fast meditativen “Flow” einfach von der Hand gehender Aufgaben sind ein tragfähiges Gerüst, das kaum wegzudenken ist. Auch kleine Kinder “spielen” Arbeiten nach - dass sich größere feierabends als virtuelle Bauern oder Lastwagenfahrer die Freizeit vertreiben, scheint da nicht bemerkenswert. Arbeit als sinnvolle Tätigkeit, die auch erfüllt - warum nicht auch im Spiel? Oft jedoch zeigt sich diese spielerische “Arbeit” als monotone, mäßig spannende Hürde auf dem Weg zum nächsten Punkteanstieg auf dem Charakterblatt.

Wie sehr sich das Bedürfnis nach den vertrauten Mikro- und Makrostrukturen des Arbeitslebens aber auch in andere Spiele eingenistet hat, zeigt zum Beispiel die Entwicklung des soeben erschienenen Multiplayer-Shooters “Overwatch”: Nach der Betaphase sah sich Blizzard wegen lautstarker Kritik aus der Community veranlasst, ein Progressions-System einzubauen, das durch Unlocks und Aufstiegsleitern jene Spieler belohnt, die besonders viel und lange spielen. Mit anderen Worten: Die Beta-Spieler wollten mehr Grinding. Waren bei gar nicht so alten Multiplayer-Spielen wie “Left 4 Dead” oder “Counter-Strike” ursprünglich abseits des eigentlichen Spiels keine Elemente zur stufenweisen Optimierung des eigenen Charakters vorhanden, kommt 2016 anscheinend kein einziges mehr ohne ein derartiges Belohnungssystem aus.

Die “Gamification”, so könnte man behaupten, kehrt also nach ihrem Ausflug in die Welt der wirtschaftlichen Effizienzoptimierung als “Workification” zurück in die Spiele - das war wohl nicht im Sinne des Erfinders. Das Ziel dieser Mechanismen ist stets, eine höhere Identifikation und Bindung zu erwirken. Waren es zunächst die großen, an monatliche Gebühren gebundenen MMOs wie “World of Warcraft”, die ihre Spieler quasi unbeschränkt binden wollten, so folgten mit dem Aufstieg von Free2Play tausende verschiedene Entwickler diesem Modell, um durch clevere Abwechslung von Euphorie und “fun pain” Millionen zu fesseln. Die Spielmechanismen, die von “Clash of Clans” und “Hearthstone” abwärts mal mehr, mal weniger subtil zum Einsatz kommen, sind akribisch ausgetüftelte psychologische Belohnungsmaschinen, die ihre Spielerinnen und Spieler möglichst lange halten wollen.

Die “Gamification” kehrt also nach ihrem Ausflug in die Welt der wirtschaftlichen Effizienzoptimierung als “Workification” zurück in die Spiele.

Eron Rauch findet ein passendes Vergleichsphänomen zur Obsession mit dem Grind, den er nicht nur diesen Gratisspielen, sondern auch vielen anderen modernen Spielen attestiert. “Wie gehetzt leben diese Menschen ein Leben wie im Hamsterrad, fixiert auf irgendein ehrgeiziges Ziel oder eine besondere Errungenschaft. Früher oder später zählt nichts anderes mehr. Sie sind besessen von ihrer Leistung und süchtig nach dem Adrenalinkick. Sobald ein Ziel erreicht ist, stecken sie sich schon das nächste, noch ehrgeizigere. Auf demselben Level zu bleiben, sehen sie schon als Versagen.” Dieses Zitat, das Rauch heranzieht, beschreibt allerdings nicht Spieler, sondern es ist Teil eines klinischen Krankheitsbildes - jenes des Workaholismus, der Sucht nach Arbeit, oder besser: der Sucht nach fortwährender Bestätigung, die das Arbeitsleben für Workaholics zu bieten scheint.

Da passt es auch ins Bild, dass die Videospielbranche ein ganz spezielles Verhältnis zur Überarbeitung und damit zum Workaholismus pflegt. Erst vor kurzem sorgte der Kommentar eines prominenten Entwicklers für Diskussionen, der die 80-Stunden-Woche und die “Crunch-Time”, also das branchenübliche exzessive Arbeiten am Ende der Entwicklung als essentiell und positiv hervorhob - der GameStandard hat berichtet. Dass eine Unterhaltungsindustrie, die in ihrem Wesenskern die Ideale langen, exzessiven Arbeitens so hochhält, vielleicht sogar ohne Absicht diese Ideale in die DNA ihrer interaktiven Produkte schreibt, scheint naheliegend. Dass eine 80-Stunden-Woche unter Umständen weniger produktiv ist als eine halb so lange, spiegelt sich in gewisser Weise auch in manchen Spielen, die durch endlose Wiederholungen, Grind, Farming und Füllmaterial so lange gestreckt werden, bis entweder der Vollpreis oder eine monatliche Abogebühr gerechtfertigt sind.

Das Missverständnis hinter diesen an Workaholismus erinnernden Strukturen ist folgendes: Wenn seine Arbeit zu erledigen, ein erfüllendes Erlebnis ist, ist doch sicherlich ein endloser Nachschub an Arbeit auf endlose Art und Weise erfüllend - oder? Durch die strukturelle “Arbeitifizierung” von Spielen kolonisieren Elemente wie Permagrind, Loot-Spiralen und endlose Crafting- und Progressionsbäume aber auch Spiele und Genres, die auch ohne diese Elemente auskommen würden. Die Sucht nach endloser Bestätigung, das immerwährende Laufen im Hamsterrad nach immer neuen Zielen ist zum so fixen Bestandteil vieler großer Spiele geworden, dass es den meisten bereits als selbstverständlich vorkommt.

Statt als Ausgleich zum wachsenden Druck der Hochleistungsgesellschaft zu dienen, wie ihn viele Spielerinnen und Spieler in ihrem Medium suchen, baut die Branche zunehmend auch in den nur scheinbare spielerischen Gegenentwurf zur dauernden Effizienzjagd Hürden ein, die das freie, mehr oder weniger absichtslose Spielen zerstören: Auch die Open-World- und Sandboxspiele neuerer Machart verstellen ihren Spielerinnen und Spielern mit dem Zwang zum Grinden, Sammeln und Craften die angeblich grenzenlose Freiheit ihrer offenen Welten. Muss auch im Spiel Effizienz immer höchste Priorität haben? Haben nicht Spiele auch das Potenzial, uns aus den Zwängen der “Hochleistungsgesellschaft” zu entführen?

Muss auch im Spiel Effizienz immer höchste Priorität haben?

Es wäre schön, wenn dieser Trend zur Effizienzmaximierung, zur kontinuierlichen Arbeit, zum ständigen spielmechanischen Optimieren, kurz: zur Workification zumindest vor manchen Spielen Halt machen würde. Denn dann könnte man seine Freizeit wieder vermehrt dem Luxus widmen, sie einfach so zu verschwenden. Das Leben ist hart genug.

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