Brice New World
Darf ich vorstellen, Internet: Mattie Brice.
Mattie schreibt über Spiele. So weit wenig erwähnenswert, wäre sie nicht so gut darin, wüsste sie nicht die Analyse und Kritik mit ihrem eigenen reichhaltigen Erfahrungsschatz zu verbinden. Denn als schwarze Transfrau widerspricht sie quasi allen Adjektiven, mit denen sich die Autorenschaft des Spielejournalismus beschreiben lässt, und ist aufgrund ihrer außergewöhnlichen Lage natürlich besonders bemüht, mit dessen Rückschrittlichkeiten aufzuräumen.
Ich will an dieser Stelle gar nicht so tun, als könnte ich hier neutral oder gelassen bleiben: Ich halte Mattie Brice für genial. Sie hält der mal latent und mal weniger latent feindseligen Spielerkultur gekonnt den Spiegel vor, betrachtet bekannte Problematiken aus interessanten Richtungen, findet neue Ansätze in diesem festgefahrenen Feld. Kurz, sie ist das Beispiel für gelungene Meinungsvielfalt durch echte, gelebte Vielfalt. Wenn es Brice nicht gäbe, man müsste sie glatt erfinden.
Warum singe ich diese Arie ausgerechnet jetzt? Weil Frau Brice sich neben Artikeln, GDC Talks, Twine- und Videoexperimenten gerade etwas neues ausgedacht hat. Reactionzine heißt das Wunderding, ein Magazinprojekt, das genau die Art persönlicher Geschichten und experimenteller Artikel fördern soll, die auf größeren Seiten oft nur schwer unterkommen. Nach Abschluss der derzeitigen Testphase soll jeder der vielfältigen Beiträge mit 200 Dollar honoriert werden, finanziert über eine für Juni angekündigte Crowdfundingkampagne. Bei Erfolg wird die Spendensammlung im Jahresrhythmus wiederholt.
Ziel ist zwar noch keines bekannt, bei 200 Dollar pro Artikel, schätzungsweise acht Artikeln pro Monat und 12 Monaten bis zur nächsten Finanzspritze, dazu Gehälter für die Chefredaktion, Server- und Domainkosten sowie sonstigen Ausgaben, darf man wohl mit einer Summe um oder jenseits der 30.000 Dollar rechnen, und das auch nur, wenn keine teuren Anreize oder Belohnungen geplant sind.
Das ist ein Problem. Oder sagen wir lieber, das könnte zum Problem werden, denn anspruchsvolle Kritik und Kulturjournalismus verkaufen sich in der Regel nicht besonders gut. Die Finanzierung von Onlineinhalten ist ja seit Nate Thayers und Alexis Madrigals Beiträgen wieder mal Gesprächsthema. Destructoid denkt etwa gerade über Alternativen nach, Videogames Interactive hingegen stellt den Versuch, einzelne Kritiken als Ebooks zu verkaufen, wegen Misserfolg postwendend wieder ein (den verschiedenen Modellen widme ich bei Gelegenheit mal einen eigenen Artikel). Reactionzine wäre auch nicht das erste Magazin, das sich Starthilfe von Kickstarter und Konsorten erhofft.
Kill Screen etwa hat sein Glück ursprünglich dort gesucht, auch wenn die Kampagne schon so lange zurückliegt, dass sie mittlerweile vor lauter Konferenzen und Parties vergessen haben dürften, was sie ursprünglich mal vorhatten. In jüngerer Vergangenheit fand Sneaky Bastards dort mit einem sehr spezifischen Vorschlag Erfolg. Auf anderen Plattformen laufen auch publikumsfinanzierte Bücher zu Spielen ganz gut. Was diese Projekte aber alle gemeinsam haben, sind die recht bescheidenen Ziele: 3.500 Dollar für den Kill Screen-Erstling, 1.500 Pfund für Sneaky Bastards, 1.000 Pfund für Groping The Map, 2.500 Dollar für Possibility Space.
Wer nicht auf dem Rücken einer starken Marke einreitet, macht sich mit einem hohen Ziel das Leben schwer und das eigene Scheitern zur selbsterfüllenden Prophezeiung. So gesehen etwa bei Continue, eigentlich ein interessantes Projekt voller kluger Menschen, drei schöne Ausgaben haben sie sogar schon vorgelegt, aber ach, 50.000 Pfund sind eine Menge Geld und der Markt für anspruchsvollen Spielejournalismus ist recht klein, und noch dazu voller Zyniker.
Das Einzige, was sich noch schlechter verkaufen dürfte als anspruchsvolle Analyse, ist unbequeme
anspruchsvolle Analyse.
Das Einzige, was sich noch schlechter verkaufen dürfte als anspruchsvolle Analyse, ist unbequeme anspruchsvolle Analyse. Deswegen fürchte ich, dass Reactionzine mit ihrem Einjahresplan auf der Nase landen könnten, und deswegen rühre ich hier jetzt schon die Werbetrommel. Weil ich der Seite den Erfolg wirklich gönnen würde.
Nicht jeder mag da meinen Enthusiasmus teilen. Brice' persönlicher Stil ist durchaus umstritten, wir erinnern uns alle an die Kontroverse um sie, Jonas Kyratzes und Electron Dance. Mehr noch, sie gehört wohl auch zu den zurzeit so umstrittenen Zinestern, in verquerer Binärlogik das Gegenteil zu Formalisten. (Auch diese grundfalsche Debatte verdient einen eigenen Veriss - versucht es alternativ mit diesem hier.)
Schon jetzt scheint die Seite den entsprechenden Klischees gerecht zu werden und die ersten Skandälchen abzuliefern. Porpentine etwa revidiert ihren Artikel eigenmächtig, um Kritik von Emily Short zu entsprechen, die Änderungen werden von der Führung aber zurückgenommen, kurz darauf verschwindet der entsprechende Beitrag völlig aus dem Magazin und ist seitdem nur auf Porpentines eigener Seite verfügbar. Daraus muss man nicht unbedingt einen Kleinkrieg konstruieren, aber hinter den Kulissen scheint es doch zu bröckeln. Neben dem Artikel sind auch einige Namen aus der ursprünglichen Startaufstellung verschwunden und außer kryptischen Tweets gibt es dazu keinerlei Stellungnahme.
Unprofessionelle Streitereien und Gezwitscher - sieht so also die Revolution aus? Nun ja, irgendwie schon. Mit Regeln und Konventionen nehmen es Brice und Kameraden aus offensichtlichen Gründen nicht so genau: Wenn gesellschaftliche Sitten und Moralvorstellungen den eigenen Lebenswandel, ja schon die eigene Existenz abnormal heißen, bleibt kaum eine Wahl als sie zu ignorieren. Auch legitime Kritik mag diesem Schutzmechanismus zum Opfer fallen und Widersprecher werden teils vorschnell Feinde gebrandmarkt.
Solange Mainstream-journalismus so unsensibel sein darf, brauchen wir auch noch mehr Feminismus und mehr Gesellschaftskritik.
Das macht Geschriebenes subjektiv, anfällig für Fehler und Ungenauigkeiten. Das macht es auch menschlich, und damit für mich tausendmal interessanter als die reingewaschene, weichgespülte, dutzendfach redigierte Berichterstattung größerer Seiten. Wie “professionell” die hingegen mit Diskriminierungs- und Geschlechterthematiken umzugehen wissen, zeigte sich erst vor kurzem, als der (ehemalige) Destructoid-Autor Allistair Pinsof sich entschloss, sich im Namen der Wahrheit über Chloe Sagal auszulassen.
Solange sich Mainstreamjournalismus so unsensibel gibt und geben kann, brauchen wir auch noch mehr Feminismus, mehr Transthemen, mehr Gesellschaftskritik, egal wie unbequem sie ausfallen mag.
Erst vor einem Monat auf Twitter gefordert, bietet sich nun tatsächlich die Gelegenheit neue Stimmen im Diskurs um Spiele zu fördern. Tut mir den Gefallen und gebt reichlich - wenn sich das nämlich schlechter verkauft als der Penny Arcade Podcast, werd ich böse.