Ceci n'est pas un Mountain

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Ich habe auch auf fm4 Allgemeineres zu Mountain geschrieben; wer also gar nicht weiß, wovon ich hier schreibe, möge dort beginnen. 

Schon anlässlich Dan Pinchbecks Spielen - hauptsächlich Dear Esther und Amnesia: A Machine for Pigs - habe ich anerkennend von den Qualitäten eines Spiels gesprochen, das seine Rezipienten nicht an der Hand nimmt und ihnen die "richtige" Interpretation zeigt, wie es, von Christof damals zu Recht beklagt, etwa Gone Home zu tun müssen glaubte. An Mountain, diesem seltsamen kleinen Faszinosum, zeigt sich nun erneut eine Eigenschaft, die im Medium Videospiele selten zu finden ist: Offenheit.

Umberto Eco versteht "Das offene Kunstwerk" als grundlegendes Phänomen der "neueren" Kunst seit dem Barock. Dabei geht es nicht unbedingt um die - banale - Tatsache, dass jeder Betrachter, Leser, Rezipient ein Artefakt subtil für sich anders interpretiert, sondern vielmehr um eine Aufforderung des Künstlers an das Publikum, das Werk für sich selbst erst zu vollenden. Offene Kunst lebt, "wenn das Kunstwerk als grundsätzlich mehrdeutige Botschaft nicht mehr nur unthematisiert hingenommen, sondern zum Programm erhoben wird. Nun wird es zur Aufgabe, aktiv zu vermeiden, daß ein einziger, bestimmter Sinn sich in den Vordergrund drängt."1

Dass sich Mountain - ebenso wie die erwähnten Spiele Pinchbecks - einer eindeutigen Interpretation aktiv entzieht, sich absichtlich den "normalen" Rezeptions- und Entschlüsselungsgewohnheiten seiner "Spieler" verweigert, macht sicher Teil der Faszination aus, die viele Rezipienten unbestimmt verspüren. Dass David O'Reillys "Mountain Simulator, Relax em' up, Art Horror etc", wie er selbst schelmisch das Genre umreißt, keine eindeutige Antwort auf die simpelsten Fragen bereit hält, stellt auch sicher, dass jeder Spieler Gelegenheit hat, sich selbst in der Atmosphäre auszubreiten, die den kleinen Berg umhüllt.

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Ian Bogost argumentiert in seinem ausführlichen Essay entlang des Fingerzeigs seines Schöpfers und deutet Mountain tatsächlich als Simulation - und zwar als Simulation eines maximal fremdartigen Bewusstseins - "You are Mountain", immerhin: 

Mountain breaks the mold of video games not by subverting its conventions through inactivity, but by offering an entirely different kind of roleplay action as its subject. It presents neither the role of the mountain, nor the role of you the player-as-master, nor the absence of either role. In their place, Mountain invites you to experience the chasm between your own subjectivity and the unfathomable experience of something else, something whose “experience” is so unfamiliar as to be unimaginable. What is a mountain, exactly? It is a stand-in for the intractability of ever understanding what it’s like to be something else. Mountain offers a video game version of a philosophical practice I call alien phenomenology—a sustained and deliberate invitation to speculate on what it’s like to be a thing.

Dass das "Problem" Mountain damit nicht gelöst, die Fragen nicht beantwortet sind,  zeigt sich etwa in der bei jedem völlig anders gearteten Praxis des "Spielens"; ein Text, der mir leider abhanden gekommen ist, beschreibt den Berg als I Ching, als Hosentaschen-Orakel; ein anderer argumentiert, dass bei Mountain etwa umweltphilosophische Fragen im Zentrum des Spiels stünden, dass man als Berg sozusagen die Natur verkörpere. Und so weiter. Jedem sein Berg.

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Michael McMaster argumentiert wiederum in seinem sehr lesenswerten Text zuallererst gegen Ben Kuchera, der sich kleingesitig-misstrauisch,  gar von Mountain verarscht fühlte. McMaster stellt das Spiel in eine Tradition experimenteller Performancekunst und sieht - hier stimme ich übrigens zu - diese Art des Experiments als Zukunftshoffnung für ein neues Sprechen über Videospiele.

Just to be clear: Mountain is not a text. It shouldn’t be treated as one. Mountain is best understood as an exercise in form — it’s a small, contained work that depicts and explores a mountain as an object. It’s not aspiring to anything greater. It’s iconography. This is fine. [...] 

So, the problem: in the vernacular of games criticism, it’s difficult to discuss games in terms that aren’t either technical or analytical, which leaves purely formal works like Mountain regarded with suspicion and derision. [...]  The solution, then, is through more works like Mountain: self-assured exercises in tone and constraint, that don’t overreach conceptually or aspire to make complex statements. The solution is through a formalist approach to videogames.

Man sieht: Ein Spiel, das vor den strengen Gralshütern des true gamings verächtlich nicht einmal als not-game durchgehen würde, ist durchaus in der Lage, die Synapsen weltweit zum Glühen zu bringen - wenn es mit eleganter Offenheit sein Publikum so ernst nimmt, dass es selbst seine Schlüsse  ziehen kann. Critical Distance hat übrigens hier eine Sammlung zu weiteren Diskussionsebenen zum Spiel zusammengetragen.

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Mir selbst erscheint es übrigens erstaunlich, dass noch niemand auf die augenscheinliche Verbindung zum Surrealismus hingewiesen hat, die sich sowohl thematisch als auch ikonografisch fast aufdrängt: Rene Magritte, Hochmeister des Surrealismus, hat der Welt der Kunst nicht nur viele - auch schwebende - Berge geschenkt.  Ziel des Surrealismus ist es bekanntlich herkömmliche Erfahrungs-, Denk- und Sehgewohnheiten zu erschüttern und Wirklichkeit mit Traum zu vermischen.

Den Berg als sozusagen felsenfesten Realismus, als Boden der Tatsachen, etwas so unverrückbar, tatsächlich Da-Seiendes ins Schweben zu bringen, war eine der nobelsten Aufgaben der surrealistischen Kunst, wie sie sich Magritte stellte.

Und auch das Sich-Selbst-Infragestellen, das bange - oder freche, wie man es nimmt - "What is a amountain, anyway?", das uns der Berg selbstreflexiv entgegenwirft, findet seine Entsprechung im Werk des Belgiers: "Ceci n'est pas une pipe", jenes berühmte Gemälde einer Pfeife, das seine Nicht-Pfeifenhaftigkeit gleich mit bestärkt - es sind dieselben Baustellen wie jene Magrittes, auf denen David O'Reilly seine Berge versetzt.

Ist es ein Zufall, dass sich Mountain hier inhaltlich und formal einer Tradition des Surrealismus annähert? Wenn, dann ist es ein sehr naheliegender. Leigh Alexander hat David O'Reilly gefragt:

Mountain is about a mountain instead of any other object, because mountains "defy objectification because they can't be owned or put in a museum."

Nunja, zumindest fast. Vielleicht ist es ja eine weitere falsche Fährte, wie sie ja auch The External World, O'Reillys großartiger Kurzfilm über die inneren Welten, mit Vorliebe legt. Einen Hinweis darf man aber wohl ernst nehmen: 

Mountain is a kind of visual silence. You can control parts of it, but it’s more about letting go of control.

Letting go of control, in einem Medium, das Millionen Spielern diese Illusion der Kontrolle als Opium verkauft - ein kleines Spiel, das große Fragen aufwirft und uns die Antworten selbst überlässt. Oder besser: uns - und dem Berg. "I cannot tell if my life is going in circles or if I'm making any progress" - sind wir nicht alle ein bisschen Mountain?

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