Die Sandkiste ist zu voll
Es ist anscheinend ziemlich einfach, das kollektive Gamerblut in Wallung zu bringen. Neben den Dauerbrennern Sexismus oder Gewalt locken aber auch "ungerechte" Wertungen verlässlich hunderte wütende Kommentatoren aus der Reserve. Fast Über 1000 Kommentare finden sich derzeit unter dem Test zu Far Cry 3 auf 4players.de. Bei derartigem Massenandrang muss irgendwo ein Skandal versteckt sein, und so ist es: Autor Benjamin Schmädig wagt es, einem der heiß ersehnten Shooter des Jahres nur 66 % zu geben. Seine Gründe dafür sind allerdings wohlüberlegt und einleuchtend.
Far Cry 3 verspricht [...] einen intensiven Thriller, den es spielerisch ad absurdum führt. Zum puren Selbstzweck hat Ubisoft die Inselwelt mit allem überladen, was spielerisch möglich ist: Sammeln, Schießen, Fahren, Onlineherausforderungen – Far Cry 3 ist das rücksichtslose Durchregieren sämtlicher Stichpunkte, die die Marktforschung den Entwicklern vorbetet. Hauptsache, der Spieler kann überall jederzeit alles tun, was ihm in den Sinn kommen könnte. Diesem Motto opfert Ubisoft den Aufbau einer glaubwürdigen Welt. Es ist der ultimative "Offene Sandkasten" – das Wörtchen "Welt" hat darin keinen Platz mehr.
Im Grunde ist Schmädigs Enttäuschung eine solche im Wortsinn: Eine Täuschung verschwindet. In diesem Fall ist dies das im PR-Vorfeld gegeben Versprechen, dass Far Cry 3 ein atmosphärisch dichter Thriller mit glaubwürdigen Figuren und völliger Immersion in die riesige Inselwelt sein würde.
Im Spiel selbst, und das ist der Hauptkritikpunkt von Schmädigs Artikel, geht diese Immersion sofort verloren, und das zunächst wegen des ebenfalls auf kaum einem der Screenshots sichtbaren User-Interfaces, das beinahe von Anfang an den Blick auf diese Welt penetrant zukleistert: Minimap, Gesundheitsanzeige, endlos aufpoppende Tipps und schwebende Missionsmarker vermiesen jedem hoffnungsfrohen Entdecker sofort jegliche Illusion, hier nicht ein Spiel zu spielen, sondern sich tatsächlich in einer fernen Inselwelt zu bewegen.
Ein UI, so muss man zugeben, lässt sich ausblenden; viel schwerer wiegt allerdings das, was Schmädig mit seiner titelgebenden Zirkusmetapher meint: Anstatt adrenalintreibender Thrilleratmosphäre erwartet den Spieler ein ganzer Bauchladen voller Minispiele, Zusatzmissionen, Ablenkungen und reinem Zeitvertreib. Als "Ausgleich" dazu ist die Story hanebüchen, unlogisch und fahrig erzählt und spart auch nicht mit teils peinlichen Klischees vom weißen Mann im wilden Dschungel. Das spannende, düstere Abenteuer, das Trailer und Hintergrundstory erwarten ließen, ist nur mehr nebensächlicher, seidendünner roter Faden, der das ganze Sammelsurium notdürftig verbindet - hier sei mal an den fantastisch atmosphärischen Trailer zu Dead Island erinnert, der auch substanziell anderes versprach, als dann geboten wurde.
Es gibt einen verhängnisvollen Trend zur Gamification der Spiele selbst
Far Cry 3 ist nach den späteren Assassin's Creed-Titeln, Dead Island und Rage ein weiteres Opfer eines verhängnisvollen Trends: der Gamification der Spiele selbst. Dass dieser Trend von den PR-Abteilungen befördert wird, die konsequent Zielgruppenoptimierung durch maximale Streuung statt Konzentration betreiben, glaube ich ebenso wie Benjamin Schmädig. Das große Vorbild, dem alle Open-World-Spiele seit Jahren nachhecheln, ist natürlich die GTA-Reihe, doch hat dort eine stark ironisierte, von der satirischen Vision ihrer Autoren lebende Story vom amerikanischen (Alb-)Traum alles so zusammengehalten, dass nur selten der Eindruck entstand, man wandere von einer atemlosen Schaubudenattraktion zur nächsten.
Feature Creep, so heißt die grassierende Manie, Spielgerüste mit optionalen Zusatzelementen so lange zu überlasten, bis selbst der aufmerksamkeitsdefizitärste Zehnjährige mit der Konzentrationsspanne eines dementen Kolibris sich wegen der absurden Überfülle an Ablenkungsangeboten nicht mehr über Leerlauf beklagen kann. Dass sich auf einem derartigen Jahrmarkt an Ablenkungen keine Dramaturgie entfalten, keine Spannung aufbauen kann, ist nur logisch: So brenzlig kann die von der Main-Quest herbeibemühte Situation gar nicht sein, dass sich auf dem Weg zum nächsten Hauptziel nicht noch ein paar Dutzend Blumen pflücken, einige Minispiele erledigen oder noch ein paar Crafting-Ziele erreichen lassen.
Und noch eine weitere Unart hat sich im Feld der Open-World-Spiele eingebürgert, die ein GTA nicht nötig hatte: die Anreicherung der Spiele mit Quasi-RPG-Elementen. Weder Rage noch Dead Island haben durch die künstliche Aufpropfung derartiger Leveling-, Talent-, Inventory- und Crafting-Konstrukte Wesentliches dazugewonnen; eingebüßt haben sie alle dafür an Kohärenz, Straffheit und Spannung. Far Cry 3 ist hier keine Ausnahme.
Vielleicht ist dies das bestimmende Dilemma aller Sandbox-Spiele, das bislang nur von wenigen Titeln zufriedenstellend gelöst werden konnte: Wenn eine durchgehende Handlung erzählt werden soll, leidet deren Dramaturgie unweigerlich durch die vielfachen anderen Handlungsmöglichkeiten. Auch Skyrim ist hier ein Paradebeispiel: Am schönsten ist die Fantasywelt zu Beginn, wenn man staunend und ohne großen Auftrag durch die Landschaft zieht. Nach einigen Spielstunden jedoch ist das Quest-Buch so voll, dass einem in Buchhaltermanier nichts übrig bleibt, als Punkt um Punkt abzugrasen und tunlichst jeden NPC-Kontakt zu vermeiden, um nicht noch eine weitere Fetch-Quest aufgebrummt zu bekommen.
Je dramaturgisch stärker, also festgelegter, desto linearer werden die Spielewelten; Schlauchlevels wie jene der CoD-Reihe behalten die erzählerischen Zügel straff in der Hand, lassen dem Spieler dazu aber kaum Wahlmöglichkeiten. Die Alternative dazu sind reine Sandkisten, die ganz ohne Story auskommen. Der Mittelweg ist schwer; mir selbst fällt tatsächlich nur das recht offene, von seiner Atmosphäre lebende STALKER als gelungener Titel ein, der beide Welten zu ihrem Recht kommen lässt.
Auf einem derartigen Jahrmarkt an Ablenkungen kann sich keine Dramaturgie entfalten, keine Spannung aufbauen
Wie schön wäre es, ein Dead Island zu spielen, in dem man ohne RPG-Klamauk die Zombieapokalypse durchstreifen könnte; wie pur wäre ein Rage, das nur aus seinen id-typischen Ballerlevels besteht; wie konsequent wäre ein Skyrim, das nur vom Erforschen seiner Welt und einer Hundertzahl sinnvoller Nebenmissionen leben würde? Auch Far Cry 3 würde zumindest mir besser gefallen, wenn es nicht derart schamlos an jeder Ecke mit lustigem Zeitvertreib, sondern düsterer Thrillerspannung und psychologischen Abgründen aufwarten würde. Dafür würde ich, als Fan des viel geschmähten zweiten Teils der Reihe, auch durchaus ein wenig Leerlauf in Kauf nehmen, in dem ich mich dann selbstständig und mit eigenen Zielen durch die beeindruckende Umwelt bewegen könnte - ganz ohne alle zwanzig Meter von einer weiteren Jahrmarktsattraktion aus meinem Inselabenteuer herausgerissen zu werden.
So befremdlich die 4players-Wertung auf den ersten Blick - und vor allem angesichts der vor Lob explodierenden anderen Tests - erscheint: Far Cry 3, so viel kann ich nach wenigen Stunden sagen, ist nicht das Spiel, das man sich angesichts der Versprechungen erhoffte. Dass es an diesen Erwartungen gemessen wird, ist eigentlich selbstverständlich; dass Prozentwertungen auch dafür untauglich sind, ist eine andere Geschichte.