Die Spaziergänger #1: Wonders Between Dunes

Ist ein Videospiel ein Gegenstand oder ein Ort? Man könnte sagen: beides. Sie sind der Ort hinter dem Bildschirm, oder eher: viele Orte. Schöne, faszinierende, banale, unheimliche, außergewöhnliche. In manchen darf man einfach lustwandeln, ohne kämpfen, springen, rätseln, kurz: etwas leisten zu müssen. Man darf in ihnen spazierengehen.

Sebastian Standke und Rainer Sigl machen sich einmal monatlich in der neuen Serie Die Spaziergänger abwechselnd auf den Weg; den Anfang macht Sebastian.

Das Gehen – insbesondere der Spaziergang – unterscheidet sich vom Laufen primär durch drei Komponenten: Die Geschwindigkeit, die Körperhaltung und die Wahrnehmungshaltung. Beim Laufen rückt die eigene Körperlichkeit in den Fokus. Man merkt, wie der Puls steigt, das Herz pocht und möglicherweise auch der Schweiß fließt. Zu laufen bedeutet damit nicht nur im Vergleich zum Gehen schneller von A nach B zu gelangen und damit Zeit einzusparen, sondern auch einen Rückstoß auf den eigenen Leib.

Das Gehen ist eine behutsamere, sanftere, prinzipiell unökonomische Tätigkeit. Hier ist es dem Menschen erlaubt, einen eigenen Rhythmus zu finden und diesen auch wieder zu wechseln, ohne dass dies dem Körper großen Tribut abverlangt. Diese Leichtigkeit der Handlung lässt es einer Person offen, worauf sie ihren Blick verweilen lassen will, welche Eindrücke sie aufnehmen mag, worüber sie sinnieren möchte. Das dürfte auch der Grund sein, warum man vornehmlich den Begriff „Gedankengang“ nutzt anstelle des verwaisten „Gedankenlaufs“. Damit man über etwas gründlich nachdenken kann, benötigt man oft Zeit und Ruhe. Man nähert sich einem Gegenstand gemächlich an und kann ihn so in all seinen Facetten ergründen.

Im März 2017 wurde der Slow Game Jam ausgerufen, eine zweiwöchige Spieleentwicklungs-Session, in welcher alle Teilnehmenden ein Spiel kreieren sollten, das eine gewisse Form von Langsamkeit ins Zentrum rückt. Dasjenige, welches für mich am meisten herausstach, ist Wonders between Dunes, ein äußerst atmosphärisches Werk des aufstrebenden Hamburger Spielemachers Moshe Linke in einer Welt voller brutalistischer Bauten.

Hier erwacht man ohne jeden weiteren Kontext in einem einseitig geöffneten Kubus, der in einem sanften, fast schon schwachen Violett gehalten ist. Wagt man sich aus diesem hinaus, so kann man plötzlich in wunderbarer Klangfülle die eigenen Schritte hören. Jedes Stapfen und jeder Tritt wird zu einem Teil der Kulisse. Es hallt und dröhnt fast so, als würde man sich in einer Kathedrale befinden, die Funktion des Gebäudes aber ist von dessen Architektur nicht ablesbar.

Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man rausgeht und zurückblickt: Es ist ein anonymer, äußerst geometrisch strukturierter Bau ohne jegliche Verzierungen, eine Anhäufung von dunklen Quadern und Würfeln, umgeben von ein paar Säulen und dem rötlichen Schimmer der Wüstensonne. Man könnte spekulieren, dass dieses Bauwerk einen Tempel darstellen soll, deutliche Hinweise aber wie etwa ein Altar oder Reliquien fehlen. Doch genau diese Unsicherheit ist die Quelle der Faszination, die dieser Ort ausübt.

Wonders between Dunes ist voll von solchen Momenten und Objekten. Immer wieder führt einen das Spiel zu Plätzen, die in all ihren Aspekten vage bleiben. Vage bezüglich ihrer Bedeutung, ihrer Funktionalität, ihrer Historie und auch bezüglich jener Menschen, die eine Urheberschaft für sie beanspruchen könnten. Diese Unklarheit macht aus all diesen Konstruktionen die titelgebenden Wunder des Spiels.

Die Unklarheit macht aus all diesen Konstruktionen die titelgebenden Wunder des Spiels.

Das essenzielle Wesen des Wunders an sich ist durch eine Doppelstruktur gekennzeichnet: Diejenigen, die es erleben dürfen, fragen sich, welchen Ursprung es wohl hat, doch eben jene Herkunft darf niemals offenbart werden. Sobald es eine rationale Erklärung dafür gibt, wie ein Wunder zustande gekommen ist, so ist es keines mehr. Ein Wunder ist immer eine Frage, niemals eine Antwort.

Wer die Reise in Wonders between Dunes antritt, kann viele solcher Raum gewordenen Fragen antreffen. Ein Monolith, der sich dem Himmel entgegenstreckt. Die vollkommen menschenleere Stadt inmitten der Wüste, deren Werbereklame aber noch in grünen sowie pinken Neon-Lettern erstrahlt. Eine von Mauern umringte Oase, die von gigantischen Pflanzen und Sträuchern bewachsen ist. Rasante Straßenbahnen, welche die immer gleichen Strecken abfahren, ohne jemanden zu befördern. Ein Museum voller merkwürdiger Artefakte, das von niemandem besucht zu werden scheint. All dies sind Orte, die Fragen aufwerfen und so gleichzeitig zu ihrer konzentrierten Wahrnehmung, quasi zu einer wahrhaftigen Erkundung einladen.

Interessanterweise sind all das aber Dinge, die von Menschenhand erschafft werden mussten. Selbst die Oase, eigentlich ja ein Ort der Natürlichkeit, wurde durch Menschen gebändigt, indem sie mit Mauern umzäunt wurde. Besonders deutlich wird diese Thematik aber durch den Umgang mit der Sonne als Motiv. Sobald man das erste Gebäude verlässt, kann man am Horizont hinter den Dünen scheinbar die Wüstensonne erblicken. Wagt man sich aber schleppenden Schrittes dem glühenden Ball entgegen, so kommt man ihm tatsächlich näher.

Nach wenigen Minuten ist klar, dass man niemals die Sonne selbst gesehen hat, sondern ein architektonisches Abbild in einer ungeheuren Qualität: Eine Art Altar, bei dem es fast so wirkt, als hätte jemand die Abendsonne vom Himmel fortgerissen, um sie dann auf Erden auf ewig in einer Fassung gefangen zu halten. Und möglicherweise ist da etwas Wahres dran, schließlich war dies nicht das einzige Vorkommnis dieser Art.

In der Spielwelt verstreut finden sich noch insgesamt drei weitere Sonnenskulpturen. Diese sind zwar wesentlich kleiner als das Sonnen-Gefängnis zu Beginn, aber dennoch ist ihre Präsenz immer eine ausdrucksstarke. Die erste Skulptur erscheint noch enorm finster und schon fast bedrohlich, da die sonst wärmenden Strahlen unseres Tagesgestirns als messerscharfe Spitzen herausragen. Die beiden anderen Versionen des Kunstwerks aber haben einen fast schon huldigenden Charakter. Sie scheinen angestrahlt zu werden und entfalten dank ihres hellen, rötlichen Materials eine positivere Wirkung.

Theorien anstelle von Gewissheit, das ist der geltende Modus Operandi.

Warum aber gibt es überhaupt diese unterschiedlichen Umgänge mit der Sonne? Es lässt sich nur spekulieren. Vielleicht gab es zwei religiöse Gruppierungen, von denen die eine die Lichtquelle verabscheut und als Wurzel allen Übels angesehen hat, während hingegen die andere sie anpreisen wollte für ihre lebenserhaltende Kraft? Vielleicht war aber selbst die finstere Version eine positive, die nur durch die ewigen Sandstürme im Laufe der Zeit ramponiert und verdreckt wurde? Vielleicht. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Theorien anstelle von Gewissheit, das ist der geltende Modus Operandi.

Wer der Verheißung von klaren, eindeutigen Antworten hinterherhechelt, der läuft Gefahr, sich diesem ästhetischen Erlebnis von Vornherein selbst zu entziehen. In manchen Welten ist das Rennen einfach sinn- und zwecklos, weil nichts am Ende wartet. Stattdessen sollte man sich der Langsamkeit hingeben, um einen Spaziergang durch eine Welt voller Kuriositäten und Ambivalenzen zu wagen. Genau das ist es, was Wonders between Dunes vollbringt: Es offeriert all jenen, die es spielen, eine Welt voller Rätsel, die ungelöst bleiben wollen.

Der Spaziergang: Wonders Between Dunes

Wonders between Dunes wurde am April 2017 von Moshe Linke (hier auf itch.io, hier auf Patreon ) als Beitrag für den Slow Game Jam eingereicht. Die Windows-Version des Spiels ist kostenlos oder gegen freiwillige Spende verfügbar auf itch.io.