First Person Walker
Aufwendig errichtete Spielewelten, atmosphärischer Sound und die altvertraute WASD-Steuerung, wie man sie aus unzähligen First-Person-Spielen kennt, und dann das: keine Waffen, keine Gegner, keine Rätsel, kaum Herausforderungen; nur ein virtueller Raum, in dem man sich kontemplativ bewegen kann. In erfolgreichen Indie-Spielen wie Dear Esther, Proteus,The Stanley Parable oder Gone Home gibt es wenig zu tun. Zu wenig, wie viele Spieler finden - das auf Steam für diese und andere Titel vergebene Etikett "Walking Simulator" ist ganz und gar nicht freundlich gemeint.
Wie so oft geraten auch bei diesem Thema leicht erregbare Gamer in Wallung, und so sind die Foren bei Steam und auf Metacritic voller Empörter. Die Kritik geht von Grundsätzlichem - "Proteus ist kein Spiel, sondern ein Spielzeug, ein interaktiver Bildschirmschoner. Kein Spieler sollte es jemals kaufen" - über verletzten Ehrgeiz - "Ich habe Dear Esther in einer Stunde geschlagen - oder besser: beendet, denn es gibt überhaupt keine Herausforderung!" - bis hin zu apokalyptischen Warnungen: "The Stanley Parable ist nichts anderes als ein glorifizierter Spaziergangs-Simulator. Wer dieses Spiel kauft, unterstützt den Krebs, der die Spieleindustrie zerstört!"
Dass die genannten Spiele von Kritikern Bestnoten und hymnische Besprechungen erhalten, sorgt bei den Verärgerten nur für Kopfschütteln und Verschwörungstheorien. Doch nicht nur die vom Ewiggleichen gelangweilten Spielekritiker begrüßen wenig traditionelle Spiele wie Journey oder Gone Home. Auch für viele Spieler sind die Experimente, in denen nicht Konflikte oder das Bewältigen von Aufgaben, sondern schlicht die Erforschung, die Atmosphäre oder interaktives Erzählen im Zentrum stehen, eine willkommene Abwechslung.
Man könnte sie First-Person-Walker nennen, Spiele aus der Ich-Perspektive mit wenig Gameplay, aber dafür viel Atmosphäre.
Man könnte sie First-Person-Walker nennen, Spiele aus der Ich-Perspektive mit wenig Gameplay, aber dafür viel Atmosphäre. Sie finden Anklang und Nachahmer - auch deshalb, weil das Genre des First-Person-Shooters spielerisch im Mainstream seit Jahren eher stagniert. Gone Home, die anrührende Coming-of-Age-Story in Horrorspielverkleidung, hat 2013 ebenso massenhaft Preise und Game-of-the-Year-Awards abgeräumt wie das narrative Experiment The Stanley Parable oder zuvor Dear Esther. Kein Wunder also, dass auch aktuelle Spiele wie Dream, NaissanceE, Exoten wie Miasmata oder das soeben erschienene Ether One auf friedliches Erforschen und Atmosphäre statt auf Konflikt oder mechanisch zu absolvierende Puzzles setzen. Auch zahlreiche kleine Gratis-Experimente wie TRIHAYWBFRFYH, Svet (The Light) oder Timeframe folgen demselben Prinzip und verzichten auf klassische Spielelemente. Mit oder ohne Worte erzählen diese Titel ihre großen und kleinen Geschichten.
Ist aber ein Spiel ohne traditionelles Gameplay überhaupt noch ein Spiel? Für Dan Pinchbeck von The Chinese Room, Macher von Dear Esther und Amnesia: A Machine for Pigs, ist diese Diskussion vor allem eines: langweilig."Die Frage, ob das 'noch ein Spiel' ist, ist völlig uninteressant. Spiele sind ein breites Feld - nicht jedes Spiel ist für jeden, und das ist gut so. Wer versucht, das Gameplay eines Spiels zu definieren, indem er mechanische Interaktion oder geschicklichkeitsbasierende Ziele abzählt, tut dem spannenden Medium Unrecht."
"Es geht mir bei unseren Spielen nicht um mechanische, sondern um emotionale Interaktion."
Auch ohne klassische Gameplay-Elemente erzählen die Spiele von The Chinese Room Geschichten, die sich durch die Interaktion des Spielers zu komplexen, oft uneindeutigen Narrativen zusammensetzen. Mit seinem nächsten, PS4-exklusiven Spiel Everybody's Gone To The Rapture will Pinchbeck die Nische nochmals erweitern - hier werden die Spieler aus sechs verschiedenen Perspektiven den Weltuntergang durchwandern können, wieder ohne Waffen, Rätsel oder traditionelles Gameplay. "Es geht mir bei unseren Spielen nicht um mechanische, sondern um emotionale Interaktion. Sich mit der Story auseinanderzusetzen, sie für sich selbst zusammenzusetzen und zu interpretieren, ist für mich das wichtigste Gameplay-Element unserer Spiele."
Dass mit dem sich abzeichnenden Trend zur vollen Immersion in Virtual-Reality-Systemen wie dem Oculus Rift oder Sonys Morpheus schon die Bewegung durch die virtuelle Welt selbst zum Erlebnis wird, kommt den Pionieren der reduzierten Spielewelt entgegen. Sich in diesen Welten frei zu bewegen und auch seine Handlungen frei zu bestimmen, ist ein wichtiger Aspekt für Ed Key, den Macher des abstrakt-minimalistischen Musik-Explorationsspiels Proteus.
Die Insel, die Spieler hier durchwandern, besteht aus einer Vielzahl einzelner Elemente, die alle ihren bestimmten Sound zu dem Musikteppich des Spiels beitragen. Die Erforschung wird somit zur meditativen musikalischen Schöpfung jedes Spielers, wie Ed Key betont: "In Proteus gibt es niemanden, der dir sagt, was zu tun ist. Du kannst überall hingehen und tun, was du willst! Wir haben die Möglichkeiten zur Interaktion auch deshalb minimal gehalten, weil wir nicht wollten, dass es nur um das Abklappern der Aktionsmöglichkeiten geht. Wir haben das Element des Erforschens aus anderen Spielen adaptiert, haben alles, was stört, weggelassen und die Umgebung dann möglichst responsiv gestaltet."
Natürlich reduzieren nicht alle Spiele mit Explorationscharakter ihre Interaktivität auf derart drastische Weise, wie es Proteus, Gone Home und The Chinese Room demonstrieren. Aktuelle Titel wie Naissancee, Kairo oder Ether One legen ihr Hauptaugenmerk zwar auch auf das weitgehend freie Erkunden ihrer Spielewelten und beeindrucken durch zum Teil fantastische Architekturen, die man größtenteils frei durchwandern kann, sie fordern ihre Spieler aber auch mit vereinzelten Sprungpassagen oder Rätseln heraus. Somit bewegen sie sich weg vom First-Person-Shooter hin zu einem anderen, schon wieder klassischen Genre: dem atmosphärischen Puzzle-Spiel in der Tradition von Myst.
Es geht weg vom First-Person-Shooter hin zum atmosphärischen Puzzle-Spiel in der Tradition von Myst.
Das eben erschienene Ether One geht dabei einen besonders originellen Mittelweg: Als Restorer ist man in den Fantasiewelten geisteskranker Patienten auf der Suche nach Erinnerungsfragmenten. Obwohl das Spiel auch beim reinen Durchwandern der fantasievoll gestalteten Kopfwelten seine Geschichte erzählt, bringt das optionale Lösen der verstreuten Rätsel mehr Hintergrundgeschichte oder zusätzliche Handlungselemente ins Spiel - ein Kompromiss, der vielleicht Schule machen wird.
Auch der britische Indie-Entwickler Richard Whitelock will in seinem in Entwicklung stehenden Spiel Into This Wylde Abyss einen Mittelweg zwischen den Welten finden: "Ich bin ein großer Bewunderer von Dear Esther und Proteus, vor allem weil sie gezeigt haben, dass es ein Publikum für diese Spiele gibt. Trotzdem fand ich es immer schade, dass dem Spieler in diesen Titeln so überhaupt keine Gefahr droht - was wäre nun, wenn diese subtilen, wie gemalten Landschaften tatsächlich Herausforderungen zu bieten hätten? Denn wie erhaben kann das Erleben eines einzigartigen Moments in einem solchen Spiel sein, wenn wirklich gar kein Sich-Mühen oder keine Reise nötig ist?"
Für Whitelock ist der Aufstieg der Walking Simulators ein zweischneidiges Schwert. "Es ist toll, dass es mehr solche Spiele gibt - auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, dass man nur durch das grafische Portfolio eines Environment-Artists gelotst wird. Ich persönlich will nicht, dass Wylde Abyss sich so anfühlt. Ich will, dass sich die Spieler in einer Welt aktiv fühlen, die durch Erforschen auch beeinflusst werden kann - das ist etwas, was schlussendlich nur ein Spiel leisten kann."
Der Eifer und die Verbitterung, mit denen an anderen Orten weitaus weniger zivilisiert über die Spielhaftigkeit der von Whitelock sanft kritisierten experimentellen Titel gestritten wird, überraschen dennoch. Eifersüchtig verteidigen manche Fans ihr Medium vor vermeintlichen Verwässerungen. Spiele ohne eindeutig als solches zu identifizierendes Gameplay - das darf nicht sein. Da kommt der höhnische Kampfbegriff vom Walking Simulator ganz recht. So richtig ärgern lassen sich die Macher der so geschmähten Spiele dadurch aber nicht. "Wenn man es genau nimmt, kann man höchstens ein Spiel wie QWOP als Walking Simulator bezeichnen", meint Ed Key. "Und müsste man dann traditionelle First-Person-Shooter genau genommen nicht als 'face clickers' bezeichnen? Vielleicht ist die Bezeichnung aber für manche Spieler sogar hilfreich - als Label für dieses spezielle, vage Genre, in dem es um Erforschen und minimale Interaktion geht."
Vielleicht ist die höhnische Bezeichnung "Walking Simulator" sogar hilfreich - als Label für ein Genre, in dem es um Erforschen und minimale Interaktion geht.
Es ist ein vages, aber doch ein erblühendes Genre, in dem die buchstäbliche schrittweise Erfahrung einer Atmosphäre, einer virtuellen Welt im Zentrum steht. Als vielleicht minimalistische, aber dennoch bedeutsame Erfahrung bleibt dem Spieler das Durchqueren dieses künstlichen Raumes - eine Erfahrung, die mit klassischen Vorstellungen von Gameplay auf den ersten Blick wenig zu tun hat.
Michael Samyn und Auriea Harvey vom belgischen Indie-Kollektiv Tale of Tales - mit dem meditativen The Path und dem radikal minimalistischen The Graveyard so etwas wie die Vorreiter - nehmen den Kampfbegriff ebenso mit Humor und blicken optimistisch in die Zukunft: "Für uns ist der Begriff überhaupt nicht negativ besetzt. Spazierengehen ist eine der nettesten Beschäftigungen auf diesem Planeten und somit absolut simulationswürdig. Dass wir einen Spaziergang durch ein Kunstwerk simulieren können, illustriert doch eigentlich eindrücklich, wie aufregend und neu Videospiele als Medium sind."
Dieser Text erschien zuerst für Golem.de.