The Games That Never Were: Die Welt von Nikkatsu Gaming
Stagnation, Aufgewärmtes, Sequels: Wer sagt, dass es bei Games nicht noch Platz für revolutionär Neues, für Unerwartetes, Abwegiges oder schlicht: das Unmögliche geben darf? The Games That Never Were ist ein Gedankenexperiment: Spiele, wie es sie nie gegeben hat und so auch wohl nicht geben wird. Letzten Sommer war es Christof Zurschmittens Idee, die mich zu dieser Serie inspirierte; jetzt endlich darf ich seine Version der "games speculation" präsentieren. Und er geht sogar noch weiter als die bisherigen Kontributoren: In einem aberwitzigen "alternate reality"-Entwurf zeigt er uns ein gamzes Gaming That Never Was, turbogeboostet mit Bewegtbild. Chapeau - und merci!
Steife Deine Bügelfalten, Welt, und polier deine Zielfernrohr hingebungsvoll: Willkommen live von der Tokyo Game Show zum bestgekleideten Sportevent des Jahres! Durch den Abend führen, wie gewohnt, gefürchtet und geliebt, Tom „What A“ Mess und Mark „Not Quite A Taler“ Schilling, und was für ein grund-, grundfeiner Abend es ist! Als wäre es nicht genug, als Zeuge des größten E-Sportevents des Jahres an der größten Game-Messe der Welt ganz in Gegenwart aufgehen zu dürfen – hier haben wir noch eine geballte Ladung HISTOIRE, die dem Bildungsbürger himself das Monokel vom Augensockel lüpfen wird. Tom, erklär der Welt, was für ein grund-, grundfeiner Moment ihr bevorsteht, und tu es, als wäre es für sie das erste Mal.
Mit dem allergrößten Vergnügen Mark, und der allergröbsten Sanftmut: Boom, Hundert Jahre Geschichte in your face, Welt! Durch das wohlgeformte Öhr der zweiten, fetten Null hindurch sehen wir, wie alles begann: Im seligen Jahr 1912 wurde die Nikkatsu ins Leben gerufen, als erstes nassfrisches Filmstudio im Reich der aufgehenden Sonne. Hundert Jahre Geschichte, Welt, beuge dein Knie vor ihren Anfängen! Wie diese gerüttelt und zerzaust wurde von Kriegen, Zwangsfusionen und UNBILDEN in Großbuchstaben wollen wir an dieser Stelle allerdings nicht vertiefen, um nicht das Fest von der Festlichkeit des Anlasses zu ziehen…
Ziehen wir stattdessen die Möglichkeit in Betracht, unser vielfach geherztes und vielseitig interessiertes Publikum darauf hinzuweisen, dass im Anschluss an die Übertragung dieses Events die Doku „Aschenbrödel My Ass, More Like Phoenix, Bitch: Die Kniefälle und Aufstiege eines Filmstudios“ auf diesem Sender laufen wird, Tom.
Tun wir das, Mark. Gerade der jüngeren Zuschauerschaft, diesen heiligen verehrten Simpeln, mag es ja unglaubwürdiger erscheinen als ein katholischer Pinguin in der Sahara, dass die Nikkatsu nicht immer jene Güldenen Zeiten erlebte, in deren Glanz wir uns bis heute suhlen dürfen. Um ihrer Naivität, bei allem Respekt vor der vitalen Unbedarftheit der Jugend, einen Hauch Bildung angedeihen zu lassen, sei hier dennoch gutväterlich hinterbracht: Das Goldene Zeitalter begann erst anfangs der 50er Jahre, als der ehrwürdige und radikal attraktive Kyusaku Hori zum Präsidenten des Studios erkoren wurde. Hori kam, sah, und verpasste der Leinwand die Sonnenbrillen, Bügelfalten und silikongepolsterte Yakuza-Pausbäckchen, nach denen sie sich insgeheim so lange verzehrt hatte. Unter dem weisen Hori wurden jene zwei Worte ins Gedächtnis der Welt gestanzt, die dort oben in kapitalen Lettern über den windschnittigen Gesichtern der bescheidenen Leiter durch diesen Abend prangen: NIKKATSU ACTION. Und unter Horis Ägide entstanden schließlich jene beiden Geniestreiche, denen wir es unsere bescheidene Präsenz auf Millionen von glimmenden Fernsehscheiben verdanken dürfen: Takashi Nomuras A Colt Is My Passport und Seijun Suzukis Branded To Kill, beide gedreht in jenem schicksalsschweren Jahr 1967, das so erzwichtig für uns alle werden sollte. Herr Gott, genug der Worte, Regie, gib uns Gedächtnisbilder!
Tom? Tom?! …profitieren wir von seiner andächtigen Stille, um den flauschigen Mantel des Schweigens zu decken über die dunklen Zeiten, die an diese Wunderwerke folgen sollten. Breiten wir ihn großzügig aus über der heute so schelmenartig wirkenden Entlassung Suzukis, kehren wir die finanziellen Nöte der Nikkatsu diskret unter seine Falten, und nutzen wir ihn, um schamvoll die Nackedeigkeiten der Roman Porno-Reihe zu verbergen, die das Studio aus seinen finanziellen Malheurs retten sollte. [Die wir, falls unter unserer grundgütigen Zuschauerschaft Minderjährige sein sollten, ohnehin nicht erwähnt haben wollen.] Vergeben! Verdeckt! Vergessen! Verblasst im Lichte jener nichts weniger als mirakulösen Wiederentdeckung des „Wunders von 1967“ durch einen jungen Filmfanatiker, dessen Wege ihn in anderen Zeiten zweifelsohne in die heiligen Hallen der Nikkatsu geführt hätten. Exakt 20 Jahre später aber leitete das Schicksal den jungen Hideo Kojima zu einer Firma mit dem passenden Namen Nintendo, und der Rest ist, wie die Stimmen unserer Ahnen weissagten, Videospielgeschichte.
Der Piepser im Ohr raunt, uns blieben exakt fünfzehn Minuten, bevor die Kontrahenten unter dem Jubel des Publikums die Controller mit ihren zartbesaiteten Händen ergreifen werden, Mark. Schalten wir also den Fluxkompensator auf „Hurtig“ und lassen wir diese Geschichte vor den Augen unseres prächtigen Publikums im Zeitraffer auferstehen.
Raffinierte Idee, Tom. Das Jahr also ist 1987, und die Chefetage von Nintendo rauft sich die Haare. Das Nintendo Entertainment System wurde lanciert und hat, gern geschehen, den US-amerikanischen Videospielmarkt gerettet. Doch das undankbare Pack auf der anderen Seite des Teiches begehrt auf: Hüpfende Klempner, grüngewandete Hermaphroditen, schön und gut, aber was sollen die Erwachsenen damit anfangen? Nintendo hört, Nintendo grübelt, Nintendo hat keine Antwort. Aus schierer Verzweiflung wird einem blutjungen Neuzugang Gehör gewährt, der seit Tagen die gesamte Design-Etage zur Verzweiflung treibt mit seinen Anekdoten über die Kinoerfahrungen seiner Kindheit; als Vierjähriger habe er, so beteuert Kojima an jedem nicht niet- und nagelfest verbarrikadierten Wasserspender, zwei Filme gesehen, die sein Leben verändert hätten. Darin hätten sich edel bezwirnte Assassinen tödliche Gefechte geliefert, in denen das finale Einschussloch im Körper des Feindes immer nur den Schlusspunkt eines im Hochofen der peinigenden Gefahr ausgebrüteten peniblen Plans war: Ein Duell, bei dem jemand bei der Wahl der Waffen zuerst auf die eigene Stirn und erst danach auf den in Samt eingeschlagenen Colt gezeigt hat. Was wäre, so der in peinlich auf Lässigkeit bemühter Pose am Wasserspender lehnende Kojima, wenn man daraus ein Spiel machen würde?
Was wäre wenn, Mark? Eine Pyramide aus purem Erfolg, auf deren Spitze ALL DAS HIER und wir beide sitzen, Mark. All das hier. Wir beide. Der kantige Grundstein ALL DESSEN aber war: Gentlemen Duell, 1988 für das NES erschienen und in seiner grobschlächtigen Art eine Art Blaupause für alles, was danach kommen sollte. Ein Duell, zwei Spieler, zwei Colts mit je sech Kugeln, jede von ihnen potentiell fatal. Vor allem aber: eine in einem design- und programmiertechnischen Hauruckakt erstellte Umgebung, die von den Spielern mit einfachen Mitteln manipuliert werden konnte. Sie war Deckung. Sie war Waffe. Sie war pures Genie. Und natürlich eine schamlose Hommage an jene legendäre Szene in „Branded To Kill“, die… ach, Regie! Lass unseren Worten Bilder folgen!
Gentlemen Duell war fein. Ein Erfolg. Nintendos zenterschwerer Stein im Brett der erwachsenen Kundschaft. Ein grundfeines Spiel, Tom. Und dennoch, man wagt es kaum es auszusprechen, positiv archaisch im Vergleich zu der Revolution, die Kojima noch entfesseln sollte. Ehrfurcht beugt meine Lippen, Tom, wenn ich es ausspreche: 1993, Kojima, längst eines von Nintendos besten Zuchtpferden im Stall, fliegt in die USA, und wird Zeuge des Untergangs aller Bescheidenheit in seinen Ambitionen: In einer abgedunkelten Halle sieht er Menschen Doom spielen. Gegeneinander. Auf getrennten Bildschirmen. Kojima ist verblüfft.
Und angewidert, Mark, sprechen wir es offen aus. Angewidert angesichts der unehrenhaften Materialschlachten, die sich die Doom-Spieler im Rudel liefern, der sehr unfeinen Mehr-ist-mehr-Logik, mit der hier in Windeseile Siege nicht konstruiert, sondern akkumuliert werden. Das hier, denkt Koijma, ist Anabolika – das Spiel, und dennoch: Er ist verblüfft. Er ist inspiriert. Und er entschließt sich, die ungebändigte Kraft dieser Höllenmaschinen seinem Willen zu beugen. Als er zurückkehrt nach Japan, ist Kojima kein einfacher Mensch mehr, er ist eines jener so fürchterlich erregenden Wesen: Ein Mann mit einer Vision. Und einem PC.
…aber ohne Unterstützung, Tom. Nintendo will nichts wissen von diesen Geräten, die ihren Konsolen den Schneid abkaufen könnten. Kojima ist verbittert. Und liefert noch in seiner Verbitterung den nächsten Geniestreiche: Warum nicht die Quelle anzapfen, aus der sich sein Erfolg ohnehin immer gespeist hat? Ein Anruf später ist die Sache perfekt: Nikkatsu Action wird nicht mehr nur hinter der Linse einer Kamera stehen, sondern auch hinter Kojimas Träumen, und einem Videospiel mit dem Namen Branded To Kill.
Branded To Kill ist die Erfüllung des Traums, den Kojima mit Gentlemen Duell träumte: Nikkatsu Action statt Nintendo, PC statt Konsole, Ego-Perspektive statt Seitenansicht, und kein Betrügen mehr durch den Wissenvorsprung, den der gemeinsame Blick auf einen einzigen Bildschirm erlaubt. Vor allem aber: Eine Umgebung, die durch die absurd gesteigerte Leistung zum ersten Mal nicht mehr nur in vorgegebener Weise manipuliert werden kann. Die Duelle werden unberechenbarer denn je, die Spieler kreativ in vollkommen unabsehbarer Art und Weise. Das Spiel verkauft sich rasend und der Kult um Branded To Kill ist geboren: Turniere werden ausgerichtet, an denen die Kontrahenten bald nur noch in piekfeinen Anzügen erscheinen, weltweite Assassinen-Ranglisten werden erstellt. Und Nikkatsu nutzt den unverhofften Geldsegen, um eine zweite goldene Ära der Filmproduktion einzuläuten, in der rehabilitierte Regisseure wie Suzuki Hand in Hand arbeiten mit den Jungen Wilden um Takashi Miike, Shinya Tsukamoto und Takeshi Kitano. Die Pyramide, sie steht auf festem Grund.
Und keinen Augenblick zu früh, Tom. Gleich nämlich werden die Lichter ausgehen und das Halbfinale beginnen zwischen Keiko „Number 5“ Watanabe, in ihrem allseits geliebten braunen Dreiteiler, und dem Newcomer Ricky „Number 6“ Muller, der im klassischen schwarzen Anzug antreten wird. Ein neues Gesicht, aber altbekannte Regeln: Weiterkommt, wer als erster drei den Kontrahenten dreimal besiegt. Wie er besiegt wird, liegt in der Hand des Spielers: Die Umgebung kann ebenso zur Waffe gemacht werden wie der Colt, den beide Spieler besitzen.
Dabei sollte man aber erwähnen, dass Branded To Kill X12 durchaus eine Neuerung mit sich bringt: Der von A Colt Is My Passport inspirierte „Early Bird“-Modus. Vor jedem Duell müssen die Spieler entscheiden, wann sie den Wecker richten für ihren Assassinen. Wer früher aufsteht, hat – unter Umständen – die Möglichkeit, länger unbehelligt die Arena zu bearbeiten. Doch jede Stunde Schlafmangel wirkt sich direkt aus auf die Steuerung des Assassinen aus, die schwammiger und schwammiger wird. Man darf gespannt sein, welche Balance die Kontrahenten anstreben werden, Mark.
Watanabe hat sich in der Vergangenheit einen Ruf als „Schnellfüßer“ erarbeitet, die auf ihre Feinmotorik und Reaktion setzt; Muller hingegen gilt als „Planer“, der vermutlich als erster die Arena betreten wird.
Und was für ein Planer er ist! Wir sind uns wohl einig darin, Mark, dass sein Viertelfinalsieg gegen Seung-Hyung „Number Twelve“ Park schon jetzt als legendär gelten darf.
In der Tat, Tom, in der Tat. Die einstürzende Brücke sah der arme Park noch kommen – aber dass ihre herabfallenden Teile auf einen toten Baum fallen werden, der als Hebel einen Felsbrocken hochschleudern wird, unter dem Parks Finalambitionen begraben werden, das kam für uns alle dann doch überraschend. Gott, Tom, ich liebe diesen Sport.
Wir alle, Mark. Wir alle. Und jetzt ist es endlich so weit… gleich wird die traditionelle Melodie erklingen, und die Watanabe und Muller werden unter dem Jubel des Publikums die Halle betreten. Spitz die Lippen, Welt, steife deine Bügelfalten: Willkommen zur Nacht des Jahres 2012!