The Games That Never Were: FIFA 86 - The Sócrates Challenge

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Stagnation, Aufgewärmtes, Sequels: Wer sagt, dass es bei Games nicht noch Platz für revolutionär Neues, für Unerwartetes, Abwegiges oder schlicht: das Unmögliche geben darf? The Games That Never Were ist ein Gedankenexperiment: Spiele, wie es sie nie gegeben hat und so auch wohl nicht geben wird. Mit Freude präsentiere ich dieses Mal die Gamesfantasie des geschätzten Kollegen, Zündfunk-Journalisten und ruhmreichen WASD-Herausgebers Christian Schiffer, die er sich vermutlich am besten schnell patentieren lassen sollte.

Ich liebe Sportspiele. Ich habe große Hochachtung vor den Programmieren, die ein immer realistischeres Geschehen auf den Bildschirm zaubern. Ich habe Respekt vor Kommentatoren wie Manni Breuckmann, die sich für zwei Wochen in ein Tonstudio einsperren lassen, dort stundenlang Spielernamen einsprechen, und das alles nur, damit es am Ende einen halbwegs abwechslungsreichen Kommentar zum Spiel gibt, den dann doch die meisten nach einer Stunde abschalten, weil er nervt. Und ich fühle mich auf einer sehr abstrakten Art auch dem unbekannten Amateurspieler verbunden, der drei Monate mit albernen Punkten am Körper unzählige Fußballmoves vollbringen muss, damit die Macher per Motion Capturing die Spieler butterweich animieren können.

FIFA und Pro Evolution Soccer sind hochprofessionelle, unglaublich akkurat gemacht Spiele. Aber sie stellen den Fußball natürlich so dar, wie ihn der offizielle Fußballzirkus selbst gerne sieht: Als emotionales Feel-Good-Event. Die Sportler hier sind Vorbilder für die Jugend und schmeißen keine Wasserflaschen durch die Gegend, nur weil sie mal ausgewechselt werden. Keiner von ihnen produziert Skandale, redet Müll ins Mikro oder versucht eine Kellnerin mit einem dahingeraunten "Me, you! Fuck, Fuck!" (Christiano Ronaldo) zum Beischlaf zu überreden. Und natürlich unterstützen die Fans hier immer frenetisch ihre Mannschaft und zwar auch dann, wenn sie im UEFA-Cup zur Halbzeit 0:4 gegen einen zypriotischen Zweitligisten zurückliegt. Niemand stürmt den Platz, niemand zündet Bengalos, es gibt keine Stadionverbote oder Polizisten, die den Schlagstock einsetzen.

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FIFA und Pro Evolution verklärt also den Fußball. Das ist schön und gut. Richtig rund wären die Spiele aber erst, wenn sie auch die Fußballvergangenheit verklären würden. 

Richtig perfekt wären die Spiele erst, wenn man einen Typen wie Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira steuern könnte, besser bekannt einfach als „Sócrates“. Sócrates war in den 80ern Kapitän der brasilianischen Nationalmannschaft, einem Team, das berauschenden Fußball spielte, in den entscheidenden Situationen aber dann doch immer wieder tragisch in Schönheit starb. Sócrates war der Gegenentwurf zu den durchtrainierten Konditionsspielern der heutigen Generation: Er selbst bezeichnete sich nicht als Sportler sondern als Künstler, rauchte 20 Zigaretten am Tag, stand politisch links und soff wie ein Loch. Auf dem Platz war er ein Magier am Ball, trotz seiner Stelzenbeine gelangen ihm unglaublich Steilpässe und Hackentricks.

Warum soll es historische Kriegssimulationen geben, aber keine einzige historische Fußballsimulation?

Wie großartig wäre es, wenn man das digitale Abbild dieses großartigen Fußballers über den Bildschirm steuern könnte? In einer Fußballsimulation, die den Fußball so simuliert, wie er zu Sócrates‘ Zeiten war? Dass Socrates trotz Raucherlunge und ausschweifenden Partys auf dem Platz zu den Besten der Welt gehörte, hat nämlich einen Grund: Das Spiel war wesentlich langsamer als heute. Die Verwissenschaftlichung des Fußballs war noch nicht so weit vorangeschritten, die Trainingsmethoden, die medizinische Betreuung, die taktische Ausbildung und professionelle Betreuung der Spieler noch lange nicht so weit entwickelt.

Für das Gameplay von Fifa 86: The Sócrates Challenge hätte das Folgen: Das Geschehen auf dem Platz müsste extrem entschleunigt und die künstliche Intelligenz neu programmiert werden. Neumodisches Zeug wie Pressing oder Raumdeckung wären nicht möglich, dafür gäbe es wieder die Position des Libero und ein paar neue alte Regeln: Gleiche Höhe ist Abseits und der Torhüter darf Rückpässe mit den Händen aufnehmen. Grafisch würde sich Fifa 86: The Sócrates Challenge an der Fernsehästhetik der damaligen Fußballübertragungen orientieren. Das Bild wäre extrakörnig und bei Wiederholungen gäbe es in der oberen Bildschirmecke eine großes „R“ zu sehen.

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Dieses Prinzip könnte man auch auf andere Fußballjahrzehnte übertragen. Bei Fifa 58: The Garrincha Challenge würde man in die Haute einer weiteren legendären brasilianische Fußballgröße schlüpfen. Manoel Francisco dos Santos alias „Garrincha“ war die prägenden Figur des brasilianischen Fußballers in den 50er-Jahren und der wohl beste Flügelspieler aller Zeiten. Er ist unter anderem dafür bekannt geworden, dass er Gegenspieler zum Spaß ausspielte, auf sie wartete und dann nochmal ausspielte. Auch für Fifa 58: The Garrincha Challenge müsste man einige Regeln anpassen: Auswechslungen wären nicht möglich, sie wurden erst 1967 eingeführt, auch Elfmeterschießen oder rote Karten kämen bei Fifa 58: The Garrincha Challenge nicht vor. Das Torgestell müsste aus Holz sein und der Ball aus echtem Leder - eine echte Herausforderung bei der Programmierung der Ballphysik.  

Diese beiden Spiele würden ein neues Genre begründen: das der historischen Sportsimulation. Sport ist im Computerspiel immer nur eine Angelegenheit für das Hier und Jetzt oder für die Zukunft (z.B. Speedball). Aber warum soll es historische Kriegssimulationen geben, aber keine einzige historische Fußballsimulation? Ich gebe zu: Wahrscheinlich steht der Programmieraufwand für meine Idee in keiner Relation zu den potenziellen Verkaufszahlen. Geil wäre es trotzdem. 

Sicher ist: Sócrates wird sein digitales alter Ego nicht mehr über den Platz steuern können. Der schwere Alkoholiker starb im Dezember letzten Jahres.

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