The Games That Never Were: Handicap.exe

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Stagnation, Aufgewärmtes, Sequels: Wer sagt, dass es bei Games nicht noch Platz für revolutionär Neues, für Unerwartetes, Abwegiges oder schlicht: das Unmögliche geben darf? The Games That Never Were ist ein Gedankenexperiment: Spiele, wie es sie nie gegeben hat und so auch wohl nicht geben wird. Diesmal erzählt uns WASD-Kollege Benedikt Frank von seiner Spielidee, die niemals war.

Wann es genau begann, weiß man nicht. Von wem das alles ausging, ist ebenfalls ungewiss. Viele vermuten, dass eine Racheaktion außer Kontrolle geraten war. Vielleicht hatte ein besonders unausstehlicher Gamer in einem Multiplayer-Spiel sein Gegenüber einmal zu oft beleidigt und damit bei diesem - technisch sehr versierten Menschen - das Fass zum Überlaufen gebracht. Andere wiederum glaubten, dass der Hack als Kunst zu verstehen sei. Eine Übersetzung des subversiven Vandalismus der Streetart ins Digitale. Der Rest war überzeugt, dass allem nichts wirklich Bedeutendes vorangegangen war, sondern dass es nur ein Beweis der Machbarkeit irgendeines Codemonkeys war.

Da der „irre Game-Virus“ (Bild) allerdings keinesfalls blind zerstörte und stattdessen in das Gameplay beinahe jedes erhältlichen Spiels eingriff, war man sich immerhin einig, dass ein Ziel hinter allem steckte. Irgendjemand wollte irgendetwas zeigen, so viel war sicher. Die Bewertung der Mittel entfachte weitere Kontroversen. Durfte ein Videospiel, also auf gewisse Weise ein Kunstwerk, einfach so verändert werden, noch dazu ohne Zustimmung der Urheber geschweige denn der Besitzer der Kopien? Die Modding-Szene meinte „Ja, aber ...“. Sie war dankbar für die Inspiration zu einer Unzahl von ähnlichen Erweiterungen, lehnten es jedoch ab, die Programme illegal und ohne das Wissen der User auf deren Geräten zu installieren. Für einige Aktivisten war allerdings gerade dieser Punkt der entscheidende, denn so wurden wirklich alle erreicht, nicht nur diejenigen, die sich mit dem Problem auch auseinandersetzen wollten und eh schon total aufgeklärt und reflektiert waren, oder sich zumindest dafür hielten. Einige Interessensvertretungen von Menschen mit Behinderung wiesen darauf hin, dass der Hack keinen Unterschied zwischen den Spielern mache und so nur zusätzliche Zugänglichkeitshürden entstünden. Andere aber beharrten darauf, dass der positive Effekt, durch die modifizierten Spiele eine neue Art von Verständnis zu schaffen, überwiege. Und tatsächlich begann langsam ein Umdenken.

Der von der Fachpresse „Ableism“ getaufte Trojaner bildete Behinderungen nach, indem er Computer- und Konsolenspiele veränderte.

Der von der Fachpresse „Ableism“ getaufte Trojaner bildete Behinderungen nach, indem er Computer- und Konsolenspiele veränderte. Plattformübergreifend, überall. Nur die Stärke der Modifikation war sehr unterschiedlich, weil dem Zufall unterworfen, weshalb das Programm am  Anfang auch kaum bemerkt wurde. Eine etwas langsamere Reaktionszeit war man schließlich gewohnt, der übliche Lag, weil ein Server mit seinen Berechnungen nicht hinterher kam. Manchmal war auch nur die Spielfigur etwas früher erschöpft oder konnte weniger Gegenstände im Inventar tragen. Einzelne Hürden wurden erst schwieriger, dann nur mit Hilfe überwindbar. Auch Einschränkungen der Wahrnehmung wurden zunächst für schlampige Programmierung oder zu hohe Systemanforderungen gehalten. Als etwa die unscharfen Bilder häufiger auftraten, gingen manche Gamer zu ihren Augenärzten, die freilich nichts feststellen konnten und ratlos Empfehlungen über die Entfernung zum Bildschirm aussprachen. Die Community-Manager der großen Publisher wurden überschwemmt mit Bugreports, dass die Lautstärke sich nicht mehr richtig regeln lasse. Die Dialoge hoben sich auf einmal nicht mehr von Hintergrundgeräuschen ab, zum Teil wurde alles zu unerträglichem Lärm.

Langsam dämmerte es den Herstellern, dass es nicht daran lag, dass sie ihre Spiele nicht ordentlich getestet hatten. Als „Ableism“ schließlich in die Steuerung der Grob- und Feinmotorik direkt eingriff und selbst schnelle Ego-Shooter bei einigen Spielern nur noch mit an „QWOP“ erinnernder Tastaturakrobatik zu steuern waren, war die Manipulation offensichtlich.

Der Virus bildete auch kognitive Behinderungen auf unterschiedliche Arten ab. Da der geheime Entwickler ganz richtig als Spieler der Triple-A-Games überwiegend Menschen vermutete, die bereits Reden und Schreiben gelernt hatten und sich in den Spielen allgemein schnell zurechtfanden, verwirrte sein Code die bekannte Sprache. Spielmenüs, Missionsanweisungen und Dialoge wurden unnötig kompliziert. Teils waren sie völlig unverständlich, mit mysteriösen Symbolen geschrieben; teils glotzten NPCs die Spieler fragend und mitleidig an, wenn diese beim äußerst schwierigen Minigame „Bilde einen Satz“ versagten und nur „Da, haben!“ herausbrachten, um den Wunsch nach einem magischen Schwert zu äußern. Wenn sie die Behinderung bemerkten, erteilten manche Questgeber den Spielern auch keine Aufgaben mehr, die in epische Abenteuer mündeten, sondern versuchten sie möglichst von den Gefahren der Spielwelt abzuschotten. Andere betrogen sie um das Geld, das zu zählen ebenfalls sehr anstrengend werden konnte, oder drehten sich angewidert weg. Die Orientierung wurde erschwert, weil manche Orte einfach nicht mehr gleich aussahen, wenn man ihnen ein zweites Mal begegnete und erst nach unzähligem Einüben der Wege diese sich nicht mehr veränderten. Überhaupt bedurften vorher selbstverständliche Dinge, die einst nur einen Knopfdruck entfernt waren, sorgfältiger und ständiger Übung - oder Hilfe.

 

Einer Laune der Natur unterworfen zu sein, einem verborgenen Algorithmus, der einem unterschiedliche Schwierigkeitsgrade aufzwang: Es war einfach nicht fair!

Die Gamer waren zunächst empört über die Eingriffe. Der Bildschirm, der ein paar Frames mehr pro Sekunde darstellen konnte, die verstellbare Pro-Gaming-Maus mit 23 frei belegbaren Tasten, jedes teure Stück Equipment - es hatte seinen Glanz verloren, weil jeder vermeintliche technische Vorteil den Mitspielern gegenüber durch „Ableism“ sofort wieder zunichte gemacht werden konnte. Einer Laune der Natur unterworfen zu sein, einem verborgenen Algorithmus, der einem unterschiedliche Schwierigkeitsgrade aufzwang und so die nach wie vor gleichen Spielregeln plötzlich unsportlich wirken ließ: Es war einfach nicht fair! Am Tweet: „Oculus Rift zu Weihnachten - und dann macht dich der Scheißtrojaner zum Krüppel ;( #fml #ableism“, entzündete sich ein kleiner Shitstorm; „Classism“ tauchte als Variante des Trojaners auf, die nur auf besonders teuren Konsolen und PCs aktiv wurde. Nach und nach entwickelte sich nichtsdestotrotz eine Szene, die die neue Herausforderung schätzte. Andere empfanden es als Befreiung, dass der Wettbewerbsgedanke beim Spielen mangels vergleichbarer Ausgangspositionen etwas unwichtiger wurde und auch das beliebte Erzählmuster der Machtfantasie seinen Reiz verloren hatte.

Spieleschmieden und Antiviren-Spezialisten konnten der Sache nie ganz Herr werden, denn sobald die eine Lücke geschlossen war, taten sich mehrere neue auf. Sie gingen darum langsam dazu über, gegen die Effekte von „Ableism“ Lösungen zu entwickeln. Das Anleitungsbuch feierte ein Revival, jetzt mit einer Vielzahl an Versionen, gedruckt, in einfacher Sprache mit großen Bildern, Brailleschrift oder auch als Hörversion. Offene Standards setzten sich durch, beispielsweise für Untertitel, aber auch für die sehr individuelle Regelung des Schwierigkeitsgrades. Cheats waren unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr verpönt und waren immer öfter in den Einstellungen auswählbar. Unzählige Tools erschienen, die nicht nur das Spielen, sondern das Arbeiten am PC allgemein erleichterten. Die Hardware-Hersteller, die sich zuvor auf einkommensstarke Pro-Gamer spezialisiert hatten, kooperierten mit Herstellern verschiedenster Hilfsmittel. Spiel-Assistenzen wurden auf neuen Plattformen von Freiwilligen und Profis organisiert.

Wann „Ableism“ endete, weiß man nicht.

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