The Games That Never Were: Seize The Day

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Stagnation, Aufgewärmtes, Sequels: Wer sagt, dass es bei Games nicht noch Platz für revolutionär Neues, für Unerwartetes, Abwegiges oder schlicht: das Unmögliche geben darf? The Games That Never Were ist ein Gedankenexperiment: Spiele, wie es sie nie gegeben hat und so auch wohl nicht geben wird. Diesmal schenkt mir Marcus Dittmar von 99Leben  seine ganz persönliche Games Speculation. 

Seien wir doch mal ehrlich. Der größte Luxus unserer so wunderbar modernen Gesellschaft ist Zeit. Wir haben eigentlich immer zu wenig davon und müssen ständig versuchen, unsere kostbaren Stunden neben all den alltäglichen Pflichtaufgaben auch noch irgendwie mit Leben zu füllen. Wir melden uns in Fitness-Centern an, um schließlich doch lieber auf der Couch dicken Menschen beim Abnehmen im Fernsehen zuzusehen, gehen auf Partys, an die wir uns am nächsten Morgen nicht mehr erinnern können und suchen nach der großen Liebe, mittlerweile meist online, während wir darauf warten, dass das neue SimCity endlich einen Serverplatz für uns freimacht.

Noch weniger Zeit auf diesem Planeten haben Eintagsfliegen. Manche leben eine Woche, andere nur wenige Minuten. Ein Glück, dass den armen, kleinen Brummern ihr schon bald bevorstehendes Ableben nicht bewusst ist. Interessant ist es jedoch, wenn man an dieser Prämisse ein wenig was dreht und als Fliege im Angesicht des bevorstehenden Ablebens versucht, das Beste aus dieser völlig ausweglosen Situation zu machen. Carpe Diem, wie der geneigte Zahnmedizinstudent zu sagen pflegt. Oder eben: Seize the day!

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So erwacht man in einem von dutzenden möglichen Szenarien mit der Vorgabe, seine maximal ein- bis zweistündige Spielzeit mit möglichst vielen positiven Erlebnissen zu füllen. Bestimmte Dinge gilt es zu entdecken, sei es einen Sonnenuntergang zu beobachten oder besondere Sehenswürdigkeiten anzufliegen und zu bestaunen. Aber natürlich spielen auch einzelne Aktivitäten eine große Rolle, welche zu einem sinnvoll genutzten Fliegenleben einfach dazu gehören. Vom simplen Piesacken von Mensch und Tier, bis hin zu aufregenden Flugmanövern und natürlich der essenziellen Suche nach einer Fortpflanzungsmöglichkeit, dem eigentlichen Lebensinhalt einer Eintagsfliege. Denkbar wäre es, bei einer erfolgreichen Fortpflanzung nach dem Ableben im selben Setting erneut starten zu können, um so auch größere Areale weitergehend erforschen zu können. Schließlich lauern auch überall Gefahren, die das eh schon so kurz geratene Dasein noch zusätzlich verringern können. Autos, Frösche, Fliegenklatschen…wer da nicht aufpasst, der bekommt in der Zeit nicht einmal seine 5-Minuten-Terrine umgerührt.

Durch die Augen der Eintagsfliege wird die Verschwendung und Zerstörung von Lebenszeit unter den Menschen offensichtlich.

Der eigentliche Sinn des Spiels ist aber weniger das doch recht belanglose Abarbeiten von bestimmten Errungenschaften. Es soll vielmehr durch die teils sehr deprimierenden Settings die Verschwendung und Zerstörung von Lebenszeit unter den Menschen abbilden. So ist es denkbar, dass man beim Kosten eines Stück Kuchens Zeuge von häuslicher Gewalt wird, ohne auch nur das Geringste dagegen tun zu können. Beim Schnuppern an einer Blume drücken sich jugendliche Junkies die Spritzen in den Arm, beim Durchfliegen eines offenen Fensters entdeckt man hunderte Kinder an Nähmaschinen. All solche auf die Magengrube schlagenden Ereignisse wären denkbar, um die bedeutungslose Punktejagd des Spielers zu kontrastieren. Dabei müssten diese Szenarien nicht zwingend in unserer modernen Gesellschaft verortet sein, sondern könnten auch historische Alltagssituationen, wie eine Straßenszene zur NS-Zeit wiedergeben, bei der beispielsweise ein jüdischer Ladenbesitzer von Soldaten schikaniert wird. Nur allzu plakative Kriegs- und Gewaltszenen werden vermieden, da das Spiel nicht das Begaffen von Extremsituationen zur Intention haben soll. Vielmehr werden die Alltagskonflikte von unterschiedlichen Gesellschaften und Schichten in verschiedenen Epochen und Regionen der Erde für den Spieler in den Fokus gerückt und geraten so zu einer beobachtbaren Realität. Fliegen gibt es schließlich schon lange und nahezu überall auf der Welt, so dass sie sich als Avatar für ein solches Ziel nahezu aufdrängen.

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Der Spieler sieht sich somit einem permanenten Widerspruch zwischen Spielzielen und Spielgeschehen ausgesetzt. Einerseits soll er seinen Highscore mit völlig harmlosen Aufgaben in die Höhe treiben, auf der anderen Seite wird er permanent von den Geschehnissen um ihn herum von diesen Zielvorgaben abgehalten, sofern er sich denn auf seine Umgebung auch einlässt. Anders als in den meisten modernen Titeln üblich soll der Spieler jedenfalls zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle über seine Spielfigur verlieren und auch die Möglichkeit haben, wegzugucken, wenn ihm danach ist. Also ganz ähnlich, wie es das prominent in Half-Life eingesetzte Environmental Storytelling vorsieht. Zudem gibt es kein Highlight-System, dass einem wichtige Spielziele und Ereignisse auf Knopfdruck anzeigt, alles muss akribisch selbst entdeckt und erarbeitet werden.

Es ist also jedem selbst überlassen, ob er sich knallhart auf die Erledigung seiner vorgegebenen Tagesaufgaben konzentriert oder ob er Punkte liegenlässt und stattdessen beobachtet, wie ein Kind in der Schule gemobbt wird, wie eine alte Frau einsam ihre letzten Stunden im Heim vor sich hinvegetiert oder wie Feuerwehr- und Polizeileute vergeblich versuchen, jemanden vom Sprung von einer Brücke abzuhalten. All die Dinge, die schwierig mit anzusehen und gleichzeitig unheimlich schwer zu ignorieren sind, erlebt man in dumpfer Stille, da die wenigsten Fliegen tatsächlich allzu viel hören können. Alles klingt, als halte man den Kopf unter Wasser. Gesprochenes bleibt somit genauso unverständlich, wie die Erwachsenen, die Charlie Brown und den Rest der Peanuts umgeben.

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Zurück bleiben die alltäglichen Bilder menschlichen Lebens, die wir nur zu gerne, auch mit Videospielen, verdrängen und von uns schieben wollen. In einer Zeit, in der Spiele mit Bombast und Explosionen um sich werfen und fiktive Parallelwelten kreieren, wäre Seize The Day der kontemplative Gegenentwurf, der in seiner beklemmenden Ruhe und Großereignislosigkeit Raum für die Reflektion des gerade Erlebten lässt. Das macht sicher weniger Spaß und verkauft sich wohl auch nicht wie (un-)geschnitten CoD, aber es erzeugt in einem virtuellen Raum mehr Realität, als es die Lichteffekte in Crysis oder die neueste Physikengine der Fifa-Reihe vermögen. Und wer keinen Bock auf ungeschönte Wirklichkeiten hat, der kann ja immer noch mit geflogenen Loopings und begatteten Weibchen seine Punkte pushen, bis der Controller qualmt. Nach dem Pixel-Ableben bekommt dennoch jeder Spieler einen kleinen, mit sanften Pianotönen unterlegten Nachruf in Sepia und Schwarzweiß, mit einigen Bildern seines viel zu kurzen Lebens.

Dann darf jeder ganz für sich selbst beantworten, ob es ein erfülltes Leben war, trotz oder gerade wegen jener unschönen Dinge, die er womöglich erlebt und mit angesehen hat. 

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