Große Freiheit, all inclusive
In diesen fantastischen Welten selbst seinen Weg gehen zu können, nicht linear eingesperrt von A nach B wandern zu müssen, war und ist das große Versprechen jenes Genres, das nicht zuletzt deshalb kommerziell so erfolgreich ist. Open World, das steht seit grauer Videospielvorzeit, aber vor allem seit dem Phänomen GTA für die große Freiheit im Spiel. Tu, was du willst, sei, wer du willst; folge der Geschichte oder auch nicht; mach Unsinn; schau, da hinten, dieser Berg am Horizont — du kannst ihn besteigen. Musst du aber nicht. Wie wenige andere Spielkonzepte wartet hier das Versprechen sowohl des Reisens als auch des tatsächlichen Spielens, absichtsloser Beschäftigung ohne den Druck, etwas leisten zu müssen, kurz und pathetisch ausgedrückt: sich selbst zu verwirklichen.
Open-World-Spiele versprechen das Abenteuer, als neugieriger Rucksacktourist unterwegs zu sein, abseits von Massentourismus und Besichtigungszeitplänen. Exotische Dschungel und Wüsten, Ruinenstädte, pulsierende Metropolen, bizarre fremde Planeten, vergangene Epochen, Strände, Höhlen, Gipfel. Vor uns liegt eine Welt. Die Straße gleitet fort und fort, weg von der Tür, wo sie begann; weit über Land, von Ort zu Ort...
The Elder Scrolls, The Witcher, Assassin's Creed, GTA, Fallout, Far Cry, Shadows of Mordor, Dragon Age: Inquisition, Watch_Dogs, Borderlands, Just Cause, Infamous, Saint’s Row, Mafia, Dead Island — die Liste der Spiele und Spielereihen, die dieses Versprechen erfüllen möchten, wächst und wächst. Unter dem Einfluss des Designs großer Online-Rollenspiele im Gefolge von World of Warcraft hat sich das Open-World-Paradigma zum Rezept unzähliger millionenschwerer AAA-Produktionen entwickelt. Es ist Individualtourismus für Millionen — und für jeden Einzelnen soll möglichst alles dabei sein, im Überfluss. Ein Paradoxon: All-inclusive, auf eigene Faust.
Das Erfolgsrezept, ängstlich von Entwicklern in allen Punkten abzuhaken, ähnelt einer überlangen Einkaufsliste. Man nehme: eine im bestverkaufbaren Fall bombastisch riesige offene Umgebung, in der sich der Spieler frei bewegen kann; abgespeckte Rollenspielsysteme, die einen bedeutenden Anteil an spielerischen Low-Intensity-Aktivitäten wie Sammeln, Craften und simplem Grind begründen; ein lose aufgepfropftes narratives Gerüst, das sich als Ausnahme der Spielsituation versteht, nicht als die Regel; und ein möglichst breitflächig ausgestreutes Überangebot an Missionen, Quests, Beschäftigungen, Minispielen, Challenges und Ablenkungsmöglichkeiten — sprich: Punkten auf der Landkarte, die abzugrasen und abzuhaken der ziellosen Bewegung durch die Welt einen gewissen Rhythmus verleiht.
Feature Creep, so heißt die grassierende Manie, Spielgerüste mit optionalen Zusatzelementen so lange zu überlasten, bis sich selbst der aufmerksamkeitsdefizitärste Zehnjährige mit der Konzentrationsspanne eines dementen Kolibris nicht mehr über Leerlauf beklagen kann. Die offenen Welten sind trotz ihrer Größe keine Landschaften mehr, geschweige denn Welten, sondern zu Vergnügungsparks geworden, in denen es alle paar Schritte klingelt, blitzt und rattert. Aus Angst, die Spieler könnten sich langweilen, stellt das moderne Open-World-Design entlegenste Dschungel und Wüsten, geheimnisvolle Ruinenstädte und Alienplaneten voll mit den immerselben Rummelplatzattraktionen spielerischer Ablenkung - und zerstört damit zuerst ihre Weite und in der Folge auch ihren Charakter. Egal, ob Mordor, revolutionäres Paris, Himalaya oder Chicago — Disneyland bleibt Disneyland. Auch wenn die Tapete anders ist.
Das zweite Opfer dieser All-inclusive-Philosophie ist die Erzählung. Die Freiheit des Spielers sabotiert unweigerlich Spannungsaufbau und Rhythmus jeder Narration. Dass sich auf einem Jahrmarkt an Ablenkungen keine Dramaturgie entfalten, keine Spannung aufbauen kann, ist nur logisch: So brenzlig kann die von der Main Quest herbeibemühte Situation gar nicht sein, dass sich auf dem Weg zum nächsten Hauptziel nicht noch ein paar Dutzend Blumen pflücken, einige Minispiele erledigen oder noch ein paar Crafting-Ziele erreichen lassen. Den Mut, den Spieler zur Gänze seine eigene Geschichte erleben zu lassen, hat keiner der großen Open-World-Blockbuster. So wird die Haupthandlung der meisten Open-World-Spiele früher oder später zur mehr oder weniger lästigen Pflichtübung, die allzu oft der weiteren Öffnung der deshalb gar nicht so offenen Spielewelt im Weg steht. Alle einsteigen! Der Touribus fährt per Cutscene weiter.
Doch auch abseits der alle Individualisten wieder einsammelnden Handlung wird das große Freiheitsversprechen absurd, wenn sich wieder und wieder herausstellt, dass die Aufgabe an den Spieler in und außerhalb seiner Missionen nicht jene ist, diese Welt zu erkunden, sondern den optimalen, also kürzesten und zugleich effizientesten Weg durch sie zu finden. Die Absichtslosigkeit des Reisens, des Spielens, schwindet. Die Bewegung durch die offenen Welten wird eher früher als später zur gamifizierten Variante des Handelsreisenden-Problems, bei dem die Aufgabe darin besteht, eine Reihenfolge für den Besuch mehrerer Orte so zu wählen, dass die gesamte Reisestrecke nach der Rückkehr zum Ausgangsort möglichst kurz ist. Die riesigen Welten schrumpfen zur Minimap. Die Abenteuer in ihnen beschränken sich darauf, Fragezeichen-Icons in Rufzeichen-Icons zu verwandeln. Die Reise wird zum Abklappern einer To-do-Liste.
Das staunende Wandern ist zu einem Optimierungsproblem geworden: Wie vermeide ich doppelte Wege? Wenn ich auf dem Weg zur Main Quest noch diese und diese Nebenmission annehme, muss ich diesen und jenen Umweg machen; auf diesem Umweg kann ich diese Ressourcen sammeln, steige im Level auf, erledige diese Herausforderung, decke diese Region auf. Zu einem gewissen Teil verdanken Open-World-Spiele dieser Zerstreuung — im Wortsinn: dieser Verhinderung von effizienter Sammlung und Konzentration — ihren Reiz: Angesichts der dauernden, fast meditativen Überhäufung mit mehr oder weniger gleich unwichtigen Kleinaufgaben, die sich in stetem Fluss quasi traumwandlerisch beim Bewegen durch diese Welt erledigen lassen, entstehen sowohl Flow als auch Sucht. Nur noch diese Nebenquest, nur noch bis zu diesem Aufstieg, nur noch diesen einen, letzten Punkt auf der To-do-Liste abhaken, die aber dennoch immer länger wird. Die Reise in ein fremdes Land ist zur Geschäftsreise geworden.
Geschäftsreisende schätzen Effizienz. Auch Spielen ist nur Arbeit, irgendwie. Da ist es nur logisch, dass der „Fast Travel“-Teleport höchst willkommen ist. Mit ihm spart man sich die lästige Reiserei zwischen den Erledigungen ganz, sobald der mühsame Weg ein einziges Mal gegangen wurde. So bleibt mehr Zeit, sich selbst zu optimieren.
Das Ethos der hypereffizienten Hochleistungsgesellschaften spiegelt sich konsequent selbst in ihrem Eskapismus wider: Auch in Spielen, die sich ihrer Offenheit, ihrer Freiheit rühmen, greift die Spirale von Anhäufen, Produktion und Belohnung. Da, schau, dieser Berg da hinten am Horizont — was hab ich jetzt davon, ihn zu besteigen? Wetten, dass zumindest ein Paragleiter oder eine versteckte Schatztruhe dort auf mich warten? Nichts ist zufällig, um seiner selbst willen hier; das wäre nicht genug. Längst sind Erfahrungspunkte, Skill Trees, Aufrüstungen, Crafting und viele weitere Belohnungsmechanismen aus der Welt der Rollenspiele in alle anderen Genres gewuchert. Die offene Welt ist für uns da, nur für uns, deshalb werden wir für unsere Anwesenheit, für unsere Bewegung durch sie, belohnt, ständig, am besten im selben Minutentakt, der Einarmige Banditen und Free2Play-Spiele zu Endorphinmaschinen macht.
Es ist das simpelste, aber effektivste Gratifikationssystem, Zahlen beim Wachsen zuzusehen, den Erfolg jeder Aktion in Menüs, Tabellen, Zahlenkolonnen abrufen zu können. 37 Prozent der Spielwelt sind erforscht, 13 von 100 Geheimnissen gefunden worden; noch 27 Quartzkristalle sammeln, und mein Schwert schlägt mit fünf Prozent höherem Elementarschaden. Noch drei Skillpoints. Not enough gold. Die Regeln, die als verstecktes Zahlengerippe die virtuelle Welt möglichst realistisch wirken lassen sollen, werden im modernen Gamedesign im seit Jahren hyperkommerzialisierten Open-World-Genre zunehmend prominent nach vorn geholt, den Spielern als Arbeitsmaterial und Motivation mit in den Rucksack gepackt. Wir sind ja schließlich nicht zum Spaß hier. Wer rastet, der rostet. All die Palmenstrände, und kein einziger Liegestuhl.
Selbst seinen Weg zu gehen, zu tun, was man will, absichtslos sein zu dürfen, zu reisen, einfach zu spielen — dafür stand der Begriff der Open World. Er stand für ein Versprechen von Freiheit. Moderne Open-World-Blockbuster sind prachtvolle Spielplätze, doch diese begnügen sich damit, die Illusion von Freiheit zu verkaufen; ein großflächig unstrukturiertes Berieselungsangebot, das sich eifrig bemüht, nicht zu unbequem zu werden. Die vollen Sandkisten, die austauschbaren Tapeten, die störrisch antiquierten Erzählkonventionen, die Überfrachtung mit Spielelementen sprechen alle vom ängstlichen Bemühen, die Freiheit für alle mundgerecht zu machen, das Abenteuer bequem werden zu lassen, Animationsprogramm und All-you-can-eat-Buffet inklusive.
Es wäre Zeit für Neues. Vielleicht finden sich die offenen Welten der Zukunft und die Einlösung ihrer Freiheitsversprechen ja nicht in den auf Hochglanz polierten Vergnügungsparks, sondern in den rauen Dschungeln und Sternenhaufen rein prozeduraler Generierung, wie sie abseits von Mainstream und Hochglanzgrafik erprobt werden? In den immer wieder neu berechneten Zivilisationen und Welten von Spielen wie Minecraft, Dwarf Fortress, Ultima Ratio Regum und vielleicht auch No Man's Sky, die jedes Mal neue, nie gesehene Welten mit Ecken und Kanten, Ödnissen und Abenteuern, Überforderung und Überraschungen bieten?
To boldly go where no man has gone before... dann aber mit leichtem Gepäck. Die Freiheit, sie ist schwierig. Wer dafür zu bequem ist, reist all inclusive.
In-Game-Fotos stammen aus dem Dead-End-Thrills-Flickr-Pool.