Ich habe im Februar 579 Partien "Hearthstone" gespielt

Die Leidenschaft zu virtuellen Sammelkarten sollte mit ausgiebigen Marathonsessions gestillt werden. Darüber hinaus wollte ich zur Legende werden. Hier ist das ungeschönte Protokoll.

Das Gute am Job des Journalisten ist, dass man im Zweifelsfall immer sagen kann, man macht ein Experiment und möchte anschließend darüber schreiben. Das funktioniert bei ausgiebigen Reisen oder diversen Drogenexperimenten ebenso gut wie beim exzessiven Computerspielen. Ich habe mir schon immer schwer dabei getan, viele Dinge ein bisschen zu machen und konzentriere mich stattdessen lieber auf eine Sache, in die ich dann umso intensiver eintauche. Beim Spielen verhält es sich ebenso. Doch diese Vorliebe spießt sich einerseits mit dem Job des Games-Journalisten, der über die breite Vielfalt des Mediums Bescheid wissen sollte, und dem Umstand, dass man trotz bestimmter Vorlieben ein ausgewogenes Leben mit sozialen Kontakten und körperlicher sowie geistiger Abwechslung führen möchte.

So wurde meine seit Monaten andauernde, seltsame Hingabe zu Hearthstone tagsüber stets ins Korsett der gesellschaftlich akzeptierten, üblichen Beschäftigung mit einem Computerspiel gezwängt (ein bis zwei Stunden am Tag) um jede fünfte Nacht in einer absurden Marathonsession zu explodieren, die mir wenige Stunden später verlässlich tiefe Augenringe bescheren sollte und nach der ich mir dann versichern würde, dieses Ausmaß kein weiteres Mal zuzulassen. Eine Woche später wiederholte sich dieser Prozess von vorne.

Der Weg zur Katharsis: Ladder-Partien in Hearthstone zu spielen, bis ich "Legend" werde.

Dieses schizophrene Dr. Jekyll and Mr. Hyde-Verhältnis hat nach einer Weile so genervt, dass die Flucht nach vorne eine gangbare Lösung schien, um mehr Balance oder gar eine Art Katharsis zu finden. So wurde der Februar 2015 dazu auserkoren, ohne Not auf Teufel-komm-raus Ladder-Partien in Hearthstone zu spielen - mit dem Ziel, "Legend" zu werden, also durch alle Ränge zu wandern, bis man schließlich im Olymp des Spiels angekommen ist. Man beginnt in der Regel bei Rank 20 oder 19 und arbeitet sich in absteigenden Zahlen nach oben. Eine Partie dauert meist zwischen 5 und 15 Minuten, pro Sieg bekommt man einen Stern. Um einen Rang aufzusteigen, müssen zunächst drei, später fünf Sterne gewonnen werden. Gewinnt man drei Mal oder öfter in Serie bekommt man jeweils einen Bonusstern. Selbst dann, wenn man ohne zu verlieren durch die Ränge rast, würde es also einige mehrstündige Sessions brauchen, um "Legend" zu werden. Doch das ist blanke Theorie, und die Praxis ist eine turbulente Achterbahnfahrt, wo sich Glück und Pech, Hass und Heiterkeit, Zweifel und Zuversicht in verblüffender Verlässlichkeit abwechseln.

Es folgen Erkenntnisse von nicht weniger als 579 Hearthstone-Ladder-Partien in nur einem Monat, deren Verlauf übrigens ungeschönt Spiel für Spiel aufgezeichnet wurde.

Die Grundvoraussetzungen

Um kompetitiv spielen zu können, ist es nötig, alle oder zumindest viele wichtige Karten zu besitzen. Denn trotz hunderter Karten, aus denen man seine Decks zusammenstellen kann, sind nur ein Bruchteil davon gut genug, um auf hohem Spielniveau Sinn zu machen. Keinen "Dr. Boom"? Keine "Sylvanas Windrunner"? Kein "Sludge Belcher"? - Auf Wiedersehen. Hat man die Karten beisammen, sind beim Deckzusammenstellen drei Dinge wichtig: Alle Karten und die grundlegenden Spielweisen und Strategien der neun Held/innen zu kennen, über die üblichen, starken Decks Bescheid zu wissen und herauszufinden, was das aktuelle sogenannte Meta-Game ist. Ist es etwa gerade üblich, dass Decks gespielt werden, die es darauf anlegen, mich in fünf Runden zu töten, ist mein tollstes Deck wertlos, wenn es in diesen ersten paar Runden keine guten Antworten bietet.

Übrigens: Die Wissenschaft ist frei und so ist es auch das Hearthstone-Wissen. Wer sich nicht ständig im Netz mit aktuellen Fachartikeln, Videos von Profispielern und vor allem wirkungsvollen Decks versorgt, wird von der untersten Stufe der Leiter nie loskommen. Verlässlich!

Beherrschen ist ein absurdes Konzept

Wir sind es gewohnt, dass Spiele von uns beherrscht werden können, wenn wir uns ihnen nur ausreichend widmen. Übung macht den Meister, oder? Das Problem bei Hearthstone ist, dass die Faktoren Zufall und Glück groß genug sind, dass es statistisch quasi unmöglich ist, mehr als zwei Drittel aller Spiele zu gewinnen.

Das stellt einen massiven Paradigmenwechsel zum jahrelang eingelernten Prozess des Beherrschens eines Computerspiels dar und ist gleichzeitig eine seltsame Grauzone zwischen Geschick und Glück. Die zufälligen Elemente im Spiel betreffen zunächst mal, welche Karte man wann zieht. Mit einer miesen Eröffnungshand und weiteren Karten, die am Anfang des Spiels wenig Sinn machen, sieht zunächst alles recht düster aus. Darüber hinaus ist Glück allgemein zwar kein vorherrschender, dennoch ein integraler Bestandteil des Spiels und muss als gegeben akzeptiert und in das eigene Spielverhalten inkorporiert werden. Ob Ragnaros nun auf den schwachen Gegner schießt oder den starken tötet, der uns in der nächsten Runde das Spiel kostet, falls er überlebt: Zufall. Welche Karte am Brett überlebt, wenn alle außer einer getötet werden: Zufall.

Es ist statistisch quasi unmöglich, mehr als zwei Drittel aller Spiele zu gewinnen.

"Chosen randomly" ist eine gängige Angabe auf Hearthstone-Karten. Das führt naturgemäß zu gehäuftem Auftreten von Glücks- oder Pechsträhnen, die dann psychologisch verstärkt werden, in dem man nach einiger Zeit wahlweise das Gefühl hat, Herr oder Frau Überdrüber zu sein oder eigentlich absolut keinen Plan von dem Spiel zu haben, mit dem man sich schon monatelang beschäftigt. Ist man mal in der Negativspirale drinnen, gießt man meist fluchend und wild gestikulierend selbst Öl ins Feuer, in dem man vor lauter Gram und Grummel auch noch Spielfehler macht.

Sturheit und Schnelligkeit werden bestraft

Es gibt vier Möglichkeiten, wie mehrere Partien hintereinander verlaufen können: Sieg und Niederlage wechseln sich ab, man hat eine Verlust- oder Gewinnsträhne oder - der Idealzustand - man gewinnt immer zwei bis vier Spiele in Serie und verliert zwischendurch eines. Damit das möglich wird, muss man ein Deck haben, das ins aktuelle Meta-Game passt, man darf keine spielerischen Fehler machen und muss psychologische Stabilität bewahren.

Eine große Falle liegt dabei in der Präsentation des Spieles begraben: Weil die Animationen der Karten und Figuren lebendig sind, die Sprachausgabe einprägsam ist und die Held/innen sich beim Angriff aus ihrer Halterung lösen und ihren Gegnern buchstäblich ins Gesicht fahren, glaubt man oft, diese Dynamik beim Spielen beibehalten zu müssen. Soll heißen: Man spielt oft schneller als einem lieb ist. In alten Action-Adventure- und Echtzeitstrategie-Spielweisen gefangen, vergisst man bei Hearthstone gerne mal, dass es sich um ein rundenbasiertes Spiel handelt. Ewig Zeit hat man natürlich nicht, doch für jeden Spielzug hat jeder Spieler 90 Sekunden zur Verfügung. Weil spätestens nach der 30. Partie in Serie aber auch mal ein bisschen Schwung reinkommen soll, neigt man dazu, bestimmte Abläufe automatisiert zu machen. Das ist meistens okay, manchmal aber auch fatal: Wer seine Züge zu schnell macht, erkennt einen Spielfehler oft erst eine halbe Sekunde zu spät. Oder es gibt bei einem Zug nur zwei Möglichkeiten, wovon eine auf den ersten Blick unklug erscheint, es aber möglicherweise - nach kurzem Nachdenken - gar nicht ist.

Wer seine Partien fließbandmäßig spielt, wird den Blick auf die Details verlieren, die in vielen Fällen dafür verantwortlich sind, wer schlussendlich gewinnt - nicht selten hauchknapp. Darüber hinaus ist Hearthstone ein Spiel, das mehr Flexibilität einfordert als die meisten Spieler/innen für möglich halten: Wer einmal ein gutes Deck hat, kann ein paar Tage lang glorreich gewinnen und dann von der einen Minute auf die andere plötzlich nur noch verlieren. Ständiges Adaptieren und Experimentieren ist zwingend notwendig, um der Schar an Gegner/innen immer den nötigen kleinen Sprung voraus zu sein.

Die Glücksspiel-Falle

Wut, Scham und Verbissenheit sind drei Gründe, warum man immer wieder viele Partien in Serie verliert und dann trotzdem so lange weiterspielt, bis man wieder gewinnt. Ein weiterer Grund kommt aus der Psychologie des Glücksspielens und beruht auf der Einbildung, man müsse, wenn man mal eine Weile gespielt und verloren hat, zumindest so lange weiterspielen, bis man jenes Geld zurückgewonnen hat, das bis zu diesem Zeitpunkt verloren wurde. Diese Empfindung rührt aus einer Mischung aus schlechtem Gewissen und dem Bedürfnis, dem verlorenen Geld und der verlorenen Zeit wieder einen Sinn zu geben, indem man schlussendlich doch wieder gewinnt und hoffentlich dann sogar mehr Siege einfährt als die Pechsträhne davor lang war.

Hearthstone ist zwar nur geringfügig ein Glücksspiel und man wettet natürlich nicht mit Geld. Dennoch bezahlen viele für Kartenpackungen (oder mit ihrer Lebens-/Spielzeit), in der Hoffnung, die wichtigen Karten zu bekommen. Insofern ist der Drang, das ausgegebene Geld bzw. die investierte Zeit durch Siege wieder auszugleichen, dem Gambling näher als man vermuten würde.

Trolling ist nicht zu verhindern

Hersteller Blizzard Entertainment hat die Möglichkeiten, mit fremden Spieler/innen in Hearthstone zu kommunizieren, auf ein Minimum beschränkt. Bis auf sechs vorgefertigte Phrasen, die sich von Held zu Held leicht unterscheiden ("Thank you", "Sorry", usw.), kann man nichts von sich geben. Weil wir aber aus dem Publizistikstudium und dem echten Leben wissen, dass man nicht nicht kommunizieren kann, ist der Kreativität hinsichtlich Boshaftigkeiten keine Grenze gesetzt. Viele warten bewusst bei jeder Runde bis zum Auslaufen der Zeit, auch, wenn es längst nichts mehr zu tun gibt. Andere provozieren mit dem zeitlich geschickten Einsatz der Phrasen ihren Gegner so lange, bis dieser ihn wahlweise auf stumm schaltet oder sich tatsächlich aus der Ruhe bringen lässt und einen Fehler macht. Die Krönung des Trollens besteht aber darin, den Gegner im Unklaren darüber zu lassen, ob er nun gleich besiegt werden wird oder nicht.

Sicherheitshalber sollte man deshalb für solche Fälle zumindest mal ein Schreikissen parat haben.

Da die meisten gegnerischen Bewegungen sichtbar sind - man etwa sieht, ob er/sie eine Karte nimmt oder ein bestimmtes Ziel anvisiert - kann man den Kontrahenten bis über eine Minute lang mit Fake-Bewegungen foppen um ihm schlussendlich doch den Pyroblast ins Gesicht zu schmettern. Die anschließende Wut kann maßlos sein. Sicherheitshalber sollte man deshalb für solche Fälle zumindest mal ein Schreikissen parat haben. Wenn es gar nicht mehr anders geht, fügt man den letzten Gegner als "Freund" hinzu. Dann zählt die Frage, wer schneller ist. Gewonnen hat, wer als erstes seine Beleidigung loslässt und sich im selben Moment wieder entfreundet, damit keine weitere Kommunikation möglich ist.

Kleiner Hoffnungsschimmer: Als Zeichen der vermeintlichen Reife gratuliert man stattdessen oft auch mal zähneknirschend dem Gegner und übt sich in belanglosem Smalltalk.

Würde ich es wieder tun? Und wie ging es überhaupt aus?

Um es kurz zu fassen: Ich bin trotz 579 Ladder-Spiele in der Februar-2015-Saison nicht Hearthstone-"Legend" geworden. Doch nach einem abstrusen, nicht enden wollenden Auf- und Ab und dem ausgiebigen Durchprobieren mehrerer Held/innen und Decks bei unterschiedlichen Rängen hat sich der Knopf am Schluss der Saison schließlich gelöst: Mit dem eigentlich nicht allzu ungewöhnlichen, aber dennoch effizienten "Quartermaster"-Paladin ist immerhin der Aufstieg auf Rang 5 geglückt.

Die Statistik war bei den letzten 50 Partien beinahe bilderbuchhaft: immer zwei bis vier Siege in Serie, nur zwischendurch Niederlagen. Als schließlich nach drei verlorenen Spielen hintereinander dann doch der Abstieg zu Rang 6 drohte, war in der Nacht von 26. auf den 27. Februar die Zeit gekommen, das Buch zu schließen und das Experiment als beendet zu betrachten. Ich habe innerhalb von vier Wochen oft genug erlebt, wie aus jubelnden Erfolgserlebnissen wieder tiefe Depressionen in Form von zehn Niederlagen in Serie und den daraus resultierenden, frustrierten Gefühlszuständen folgten. Die Zeichen standen zu diesem Zeitpunkt gut, der Statistik wurde Genüge getan. Es gab übrigens auch einmal zehn Siege in Serie. Well played, gewissermaßen.

Im März werde ich so gut wie gar nicht und jedenfalls keine einzige Ladder-Partie spielen. Eine Pause ist notwendig. Wir sehen uns im April bei der nächsten Spielerweiterung, Hearthstone. Die Leidenschaft wird wohl nicht aufzuhalten sein.

PS: Danke an Spielekumpel gnu fürs ausgiebige Mitfiebern und Begleiten. We will be legends!