Keine Kleinigkeit: Kostenlose Kurzspiele für Kenner

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Die kleine Form steht meist im Schatten der großen Brüder - auch in anderen Medien. Der Kurzfilm, Experimentierfeld origineller Ideen und Spielplatz junger Regietalente, verblasst im Vergleich zum zweistündigen Kinoformat, Sinfonien zählen mehr als Etüden und der Romanziegel, gern mehrteilig, lockt mehr Leser an als die literarisch anspruchsvolle Kurzgeschichte, die oft wie Blei in den Verkaufsregalen liegt. Kurzum: Wer Kulturprodukte wie Musik, Film und Literatur konsumiert, neigt dazu, eher im Großen zu suchen und die kleine Form zu vernachlässigen.

 

Je kürzer die Form, desto direkter die Verbindung zwischen Werk und Publikum.

 

Das ist schade, denn gerade in der Konzentration auf das Wesentliche zeigt sich das Talent des Schöpfers oft am unmittelbarsten - je kürzer die Form, desto direkter die Verbindung zwischen Werk und Publikum. “For sale: baby shoes, never worn” - mit diesen sechs Worten soll der Legende nach der große Ernest Hemingway die Herausforderung gemeistert haben, in Kürzestform eine Geschichte zu erzählen.

Was in anderen Medien schwierig ist, stellte sich bei Videospielen lange Zeit als ganz unmöglich dar: Ein technisches Konsumprodukt, das meist mit großem Aufwand produziert und vertrieben wird, durfte lange Zeit nicht ohne Aufschrei der Fans “zu wenig” an Spiel fürs Geld bieten. Dass die legendären “100 Stunden Spielspaß”, die von vielen Publishern vollmundig als Qualitätsmerkmal angepriesen werden, zum einen oft nur durch stupiden Grind und endloses Recyceln zustande kommen und zum anderen gerade erwachsene Spieler mit erwachsenen Zeitbudgets schreiend in die Flucht treiben, spricht sich nur langsam herum.

Manche Probleme hat man dafür erst gar nicht, wenn man sein Werk nicht verkauft. Den unzähligen Spieleschöpfern der Freeware und Ludum-Dare-Szene ist es ziemlich egal, welche Spieldauer ihrem Publikum besser gefällt - ein kostenloses Spiel darf so kurz oder lang sein, wie es dem Schöpfer beliebt. Darum gilt: Small is beautiful, das kurze Experiment kann spannender sein als der 100. Aufguss des Bekannten und eine einzige zündende Idee, eine besonders eindrückliche Szene oder die Konzentration auf besondere Atmosphäre kann als tragfähiger Aufhänger für ein Kurzspiel herhalten.

Hier ist deshalb eine sommerliche Auswahl an acht kleinen kostenlosen Spielskizzen, die auf Atmosphäre, Pointen und gute Ideen statt auf Größe setzen - mit einer Spieldauer von zehn Minuten bis zur halben Stunde genau das Richtige für Spielefreunde mit Auge für das Besondere.

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Composition 83 

Atmosphärisch wie wenige, auch viel längere Spiele, beeindruckend erzählt, clever aufgelöst: “Composition 83” ist ein düsterer Mini-Science-Fiction-Kurzthriller mit Horrornote. Der junge russische Entwickler bietet auf seinem Blog übrigens noch weitere kurze Experimente in unterschiedlichen Graden der Fertigstellung zum Ausprobieren an.

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Gallergy 

Expressionismus und First-Person-Shooter friedlich vereint: “Gallergy”entführt seine Spieler aus einer abstrakt-minimalistischen Galerie moderner Kunst in deren schreiend bunte Gemäldewelten und lockt sogar mit ein bisschen Horror. Ein psychedelisches Halluzinogen in Spielform.

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Chromaticity Bombinate 

Apropos halluzinogen, apropos psychedelisch: Wer sich ins stockdunkle Stroboskoplabyrinth von “Chromaticity Bombinate” begibt, sollte einen guten Magen mitbringen und nicht anfällig für Kopfschmerzen sein. Im Hardcore-Desorientierungslauf samt Sirenen-Surround-Sound finden sich nur konzentrierte und furchtlose Spieler zurecht. Ein außergewöhnliches Erlebnis für Abgebrühte.

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Glitchhikers

Eine nächtliche Autobahn, Sternenhimmel, Einsamkeit und obskures Talk-Radio: “Glitchhikers” entführt seine Spieler in das zwielichtige Grenzgebiet zwischen Langstreckenfahrten, Meditation und Sekundenschlaf. Von Gameplay ist hier nur mehr bedingt zu sprechen - trotzdem ein beeindruckendes Stück “Experience-Design”.

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The World Beneath 

Nach unten, nach unten, immer weiter: Wer je der Faszination von “Minecrafts” unterirdischer Entdeckerlust verfallen ist, wird sich in “The World Beneath” wohl fühlen. In diesem Eintrag zu Ludum Dare 29 erforschen Spieler bei jedem Start neu generierte Höhlensysteme und müssen dabei ihren Vorrat an Fackeln im Auge behalten. Ziel ist, die größte Tiefe zu erreichen - doch eigentlich spielt die schiere Lust am Entdecken hier die Hauptrolle.

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Our God Lives Underground 

Und noch ein Ludum-Dare-Eintrag, und nochmals geht es ins Erdinnere, doch hier enden die Gemeinsamkeiten: “Our God Lives Underground” ist eine atmosphärisch beeindruckend dichte Expedition in die Unterwelt. Wunderbare Licht- und Schattenspiele lassen den linearen Höhlentrip zum spannenden Horror-Abenteuerchen werden - der unbewegte Screenshot wird dem stylischen Grafikstil in Aktion nicht gerecht.

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Which 

Ein Klassiker, der aber seit 2010 nichts an Faszination eingebüßt hat: Mike Inels “Which” ist mit seiner knappen Viertelstunde Gameplay eine der gruseligsten Horrorspielerfahrungen, Punkt. Stylisches Schwarzweiß, klassisches Escape-the-Room mit Gruselgarantie: Dank Gänsehautfaktor perfekt für heiße Sommertage.

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The Rapture Is Here And You Will Be Forcibly Removed From Your Home

Schon kurz im Rahmen von “Best of Indie” vorgestellt, verdient“TRIHAYWBFRFYH” hier nochmals eine eigene Nennung. Connor Sherlocks atmosphärisches narratives Experiment begleitet seine Spieler durch die letzten 20 Minuten des Planeten und verstört mit schön vertonten Zitaten aus dem kosmologischen Horror H.P. Lovecrafts.

Bonus: Mit “Sanctuary” bietet sich Spielern ein weiterer “Walking-Simulator” desselben Schöpfers, in dem ebenso Atmosphäre und Sound im Vordergrund stehen.

Kurzes Nachwort: Die meisten Titel sind dank Unity-Engine für Windows, Mac, Linux oder direkt im Browser spielbar. Da die meisten der genannten Spiele von ihrer Atmosphäre leben, empfiehlt sich die Benutzung von Kopfhörern. 

Dieser Text erschien zuerst für den Standard.

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