The Last Guardian: Die Seele im Code

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The Last Guardian hat eine Kamera, die zum Davonlaufen ist, Spielmechaniken, die frustrieren, und Grafik- und Physikmacken, die 2016 einfach lächerlich sind. Für mich ist es das Spiel des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts. Ein paar Gedanken über das große Geschenk, das Fumito Ueda seinem Medium und allen Spielerinnen und Spielern gemacht hat.

1 Man muss als Spielemacher schon Kultstatus besitzen, damit so etwas Realität wird: Dass Fumito Ueda mit seinen beiden Spielen ICO und Shadow of the Colossus derart viel Kredit bei Sony hatte, um neun Jahre lang an seinem dritten Spiel arbeiten zu dürfen, ist entweder ein kleines Wunder oder aber der Beweis, dass die japanische Spieleindustrie anders funktioniert als die westliche. Man möchte es sich als europäischer Beobachter dieser wohl immer fremd bleibenden Kultur gern mit Respekt erklären, mit der Überzeugung der Geldgeber, dass es ganz abseits von Profitabilitätsdenken einfach nötig ist, diesem Mann und seinem Team auch ein drittes Mal die große Bühne und Geld für dieses Projekt zu geben. Dass sich das langfristig lohnt, und zwar für alle - fürs Geschäft, fürs Publikum, für das gesamte Medium - habe ich vor einiger Zeit anhand von ICO unter dem programmatischen Titel "Gegen den Spaß. Gegen das Publikum" zu erklären versucht.

Die Probleme aufzuzählen, die The Last Guardian hat, kann eigentlich nur den Sinn haben, direkt im nächsten Atemzug seine überraschende Größe zu würdigen. Hier dazu nur so viel: Eine revolutionäre Idee im Korsett eines altmodischen, problembehafteten Spiels ist immer noch eine revolutionäre Idee - wer es nicht schafft, durch die unbestreitbaren Schwächen dieses Spiels seinen triumphal gleißenden Kern zu sehen, versäumt etwas Einzigartiges. Es mag viel verlangt sein, über diese Probleme hinwegzublicken. Es ist aber nicht viel verlangt, seine Größe zu würdigen.

2 Die revolutionäre Idee im Zentrum von The Last Guardian ist simpel und komplex zugleich. Ein glaubhaftes virtuelles Lebewesen ins Zentrum der Spielmechanik zu stellen, klingt zunächst nach wenig. So ist auch der Gameplay-Kern von Last Guardian eigentlich minimalistisch: Der kleine Junge, den wir steuern, braucht das eigenwillige Wesen Trico, um seinen Weg durch diese Welt zu finden. Dafür gilt es, das riesenhafte Monster gezielt einzusetzen: schlicht als Leiter, als Kämpfer oder um gewaltige Sprünge zu absolvieren. Trico, so könnte man schnöde festhalten, ist einfach das Werkzeug, mit dessen Hilfe wir vorankommen - so etwas wie die Portalkanone oder, noch schnöder, jede andere beliebige Waffe, die uns in anderen Spielen als Werkzeug bei der Überwindung des feindlichen Widerstandes dient.

Trico ist ein Werkzeug - und doch viel mehr als nur das.

Unsere Beziehung zu diesen Werkzeugen in Spielen ist normalerweise - den “Companion Cube” einmal ausgenommen - von achselzuckendem Pragmatismus geprägt. Werkzeuge sind Mittel zum Zweck. Die Art und Weise, wie The Last Guardian allerdings die Beziehung zu Trico mit Emotion auflädt, ist der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Spiels. Wir vergessen, dass Trico nur Werkzeug ist. Trico ist viel mehr: das wohl erste in diesem Umfang überzeugend gestaltete künstliche Lebewesen der Geschichte, zu dem wir interaktiv eine emotionale Beziehung aufbauen.

3 Das sind große Worte, vor allem weil sich schon einige an dieser Idee versucht haben. Als Erstes - von Urvätern wie Little Computer People einmal abgesehen - fällt uns vielleicht Black & White ein, das sich mit großem Theaterdonner ebenso an einer Beziehung zwischen echtem und virtuellem Leben versuchte. Der grundlegende Unterschied, der Trico von anderen Pixeltieren abhebt, ist zuallererst ein technischer. Wer The Last Guardian - unter anderem - seine veraltete Technologie vorwirft, übersieht den haushohen Elefanten im Raum: Trico ist ein technisches Meisterwerk, das einzigartig und in seiner Perfektion fast futuristisch ist. Die Illusion von Leben ist nie zuvor so perfekt gelungen, weil Trico eine bewundernswert minutiöse Studie tatsächlichen Lebens ist, von kleinsten Bewegungen über Verhaltensweisen bis hin zur Interaktion - das ist die komplexe Aufgabe, die Fumito Ueda und sein Team hier zu lösen hatten.

In The Last Guardian verbinden sich Animation, Sound- und Charakterdesign und künstliche Intelligenz zu einer fast perfekten Illusion von Leben. Das menschliche Gehirn ist eigentlich ziemlich gut darin, Natürliches von Unnatürlichem zu unterscheiden - Wachsfigurenkabinettbetreiber und CGI-Grafiker fürchten den “Uncanny Valley”-Effekt nicht ohne Grund. Natürlich ist es einfacher, überzeugende künstliche Tiere als künstliche Menschen zu schaffen, doch der Blick auf alle anderen Versuche, auch diese vermeintlich kleinere Hürde zu nehmen, zeigt, dass das mit Trico zum ersten Mal gelungen ist. Das hat mit Grafik zu tun, mit Animation, mit genauer Naturbeobachtung. Es hat damit zu tun, dass sich dieses riesige Tier hier mit nur minimalem Clipping so echt durch ein Labyrinth aus Steinen bewegt, dass sich die Frage nach seiner Künstlichkeit kaum stellt. Es hat aber auch mit einem ziemlich genauen Verständnis davon zu tun, was echte Lebewesen von Maschinen oder Programmen unterscheidet.

4 Der Unterschied zwischen belebter und unbelebter Natur liegt - zumindest in manchen Sprachen - schon in ihrer Benennung; Anima, die Seele, ist nicht ohne Grund die Wurzel des Wortes animal. Tiere - und Menschen - sind beseelt, und das bedeutet immer auch: Sie haben ein Geheimnis, das sich nicht mit rein mechanistischen Formeln erklären oder replizieren lässt. Im Kontext von Spielmechanik ist das bemerkenswert, schließlich verlässt man sich hier gemeinhin auf das Funktionieren einfacherer Regeln: Wenn ich A mache, passiert B, und das jedes Mal. Spiele sind vermutlich auch deshalb so faszinierend für uns, weil sie sich nach der grundlegend wissenschaftlichen Methode von Versuch und Irrtum bezwingen lassen.

Beseelte Wesen haben ein Geheimnis, das sich nicht mit rein mechanistischen Formeln erklären oder replizieren lässt.

Allein hierin unterscheidet sich The Last Guardian von den meisten anderen Spielen. Trico ist eben keine “if-then”-Maschine, sondern simuliert - zweifelsohne durch clevere Zufallsgeneratoren in seiner künstlichen Intelligenz - durchaus überzeugend Eigensinnigkeit. Trico, so könnte man sagen, ist deshalb die bisher gelungenste Simulation eines beseelten Wesens. Er bleibt letztlich eine Blackbox, behält sein Geheimnis: Wenn wir Befehl A eingeben, kommt nicht zwingend Reaktion B als Antwort. Vielleicht kommt sie erst später, vielleicht gar nicht. Für viele Spielerinnen und Spieler ist das schlechtes Design: Die Maschine tut nicht, was ich will, deshalb funktioniert sie nicht richtig. Für viele andere ist genau diese Weigerung, sich zu fügen, jener Spielraum, in dem Trico als unendlich viel mehr denn als Werkzeug erkennbar wird. An die Stelle der rationalen Beziehung zwischen mir und meinem Werkzeug tritt die emotionale Beziehung zwischen mir und jemand anderem. Trico ist kein “Haustier”, das ich zur Nutzung oder meinem Vergnügen versklave. Er ist ein eigenständiger Charakter, eigensinnig, verspielt, manchmal ängstlich, dann todesmutig und treu.

5 The Last Guardian ist ein Spiel, in dem man dem störrischen Vieh auf dem Bildschirm schlussendlich gut zuredet oder laut schimpft und ihm, wenn der Sprung letztlich geglückt ist, dankbar die Ohren krault, auch wenn das alles - aus Sicht des Programms und aus Erfahrung - kaum etwas an seinem Verhalten ändert. Trico ist natürlich nur eine clevere Illusion aus endlosen Codereihen, und trotzdem identifizieren wir ihn dank seiner Eigenwilligkeit als beseeltes Wesen, dem wir uns instinktiv so nähern, wie wir es auch mit einem echten Tier tun würden.

Eigentlich müsste man sich als Mensch, als diese Illusion durchschauendes Wesen, fast in seiner Eitelkeit gekränkt fühlen: Hier reagiert ein zugegeben komplexes System von Zahnrädchen absichtlich irrational auf mich, und ich antworte reflexhaft darauf mit Emotion - und verfalle dieser Emotion, dieser Zuneigung zu dieser Abfolge aus Scripts und Mechaniken, obwohl ich eigentlich weiß, dass hier ich es bin, auf dessen Knöpfchen gedrückt wird. Ist es nicht albern, diesem Stück Software echte Gefühle entgegenzubringen? Gegenfrage: Ist es nicht noch alberner, seine eigenen Emotionen nach ihrer Rationalität zu befragen?

6 Von allen Illusionen, die wir ständig aufrechterhalten, ist jene die größte, wir seien rationale Wesen. Vielleicht liegt hier der nach wie vor größte Unterschied zwischen dem Medium Videospiele und allen anderen arrivierteren Kulturprodukten: Ihre Machart als kühle, stets rational und in schlichten “if-then”-Folgen zu lösende Uhrwerke lassen zu wenig Raum für das Unberechenbare, Störrische, das die lebende Welt erfüllt.

The Last Guardian opfert diese kühle Mechanik für ein Erlebnis, das manche vielleicht auch deshalb frustriert, weil es ungewohnt ist. Ich fühle mich bereichert, Trico kennengelernt zu haben. Ich werde ihn nie vergessen. Fumita Ueda hat uns das Geschenk gemacht, zu einem erfundenen Wesen eine Beziehung mit echten Emotionen aufzubauen. Für dieses Kunststück gebührt ihm großer Dank.

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