Mille Cavernes I

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Christof und ich haben uns gemeinsam ein paar Gedanken gemacht. Warning: Gehirnsturm ahead.

1.

2013 war nicht nur das Jahr der Bekassine, der Forelle und des Holzapfels. Es war auch das Jahr eines Genres, dessen wachsende Bedeutung schon dadurch fassbar wurde, dass seine geläufige Bezeichnung plötzlich als ungenügend begriffen wurde. Die zwischen Wortspiel und Ahnenverehrung pendelnden Namen „Rogue-lite“ und „Rogue-like-like“ stehen, so die plötzliche Erkenntnis, Hilfskonstruktionen wie dem „Doom-Klon“ etwas zu nahe. Zudem vermögen sie ohnehin nur noch notdürftig so unterschiedliche Spiele wie Teleglitch, Rogue Legacy, Don’t Starve, Ender, Desktop Dungeons oder Spelunky zu fassen. Ob Alternativvorschläge wie „Procedural Death Labyrinth“ als Genrebezeichnung geeigneter sind, wird sich noch zeigen müssen – zumal der gemeinsame Nenner der damit gemeinten Spiele je nach Emphase und Bedarf in wunderbarer Weise zu wechseln scheint. Sicher ist nur eines: Die Vitalität des Genres ist, hier und heute, unverkennbar das Spiegelbild seiner ausweglosen, aber letztlich optimistischen Obsession mit dem Tod.

2.

Rogue und seine Nachfolger sind stets Abstiege in eine Unterwelt, in der bekanntlich die Toten hausen.

Da passt es ganz gut, dass wir uns in diesem eigentlich recht urtümlichen Genre, das wie ein lebendes Fossil all die “Fortschritte” in Grafik, Gameplay und Zugänglichkeit überdauert hat, klassisch mythisch in die Unterwelt begeben -- denn dort, so wissen so gut wie alle Kulturen seit jeher, ist der Platz der Toten. Rogue und seine Nachfolger im Geiste und im Code sind nämlich ursprünglich stets Abstiege in eine Unterwelt, die mit dem Genrewort “Dungeon”, also “Kerker”, nur unzureichend beschrieben ist. Denn wer hätte sie errichtet, diese 1000 Höhlen, die bei jedem einzelnen Abstieg in anderer Anordnung auf uns warten? Vielleicht hat hat man sich zu viel an das Unheimliche der prozeduralen Generierung gewohnt, denn eigentlich ist es ja schon ein Mysterium, auf das etwa in Spelunky, jenem vom Original weit entfernten, andererseits im Geist ihm so nahen Rogue-like-like, bei jedem neuen Spiel hingewiesen wird: “The walls are shifting.” Wie in House of Leaves' zentralem Labyrinth, der sich ständig verändernden Unterwelt unter Navidsons Haus, in der der Minotaurus wohnt, wartet in den Kerkern der Rogue-likes eine Prüfung.

3.

Und wie für die Protagonisten von House of Leaves stellt für die Spieler von Rogue-likes die Höhle den bis in Urzeiten zurückreichenden Double Bind dar: Das Unbekannte und Unheimliche birgt zugleich unendlichen Schrecken und eine endlose Faszination, wohnt in ihm doch immer auch eine Sehnsucht, die sich über alle Gefahren stellt: Die Hoffnung, die Prüfung erst ver-, und danach bestehen zu können. Ist das dunkle Tal erst durchschritten, sind die sich verschiebenden Wänden kartographiert, dann wird der Abgrund verständlich, er wird begeh- und bewohnbar – das Heimische nimmt Platz im Unheimlichen. Im Spiel wird der Triumph über das Unbekannte, jene Triebfeder des Fortschritts schlechthin, unmittelbar erfahrbar. Und nirgends ist er greifbarer als im Rogue-like, in dem der Tod uns näher steht als in jedem anderen Genre. Die Höhle, die ihn birgt und verkörpert, auszuloten, ist hier umso befriedigender, als der Tod tausend Gesichter hat, und wir jedem von ihnen die Stirn bieten können und wollen: Den Trickster auszutricksen, das Chaos zu überblicken, ist die höchste aller Belohnungen. Es heißt, sich über die Ordnung der Dinge setzen zu können.

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4.

Denn es gibt eine Ordnung in diesem vermeintlichen Chaos, mehr noch: Sie hat  nicht nur System, sondern Systeme. “The Dev Team Thinks Of Everything”, kurz TDTTOE, ist das legendäre Fundament, auf dem nicht nur NetHack ruht: Egal, wie clever der Spieler zu sein meint, die Entwickler sind ihm einen Schritt voraus. Rogue-likes faszinieren, weil sie nicht nur ein elementar menschliches Narrativ verkörpern -- jenes des Initiationsritus, komplett mit Abstieg in die Unterwelt, Prüfung und Wiederaufstieg --, sondern weil innerhalb dieser Prüfung zwei nur scheinbar chaotische Systeme ineinandergreifen: Zum einen die erwähnte Zufallsgenerierung, die jedes Mal aufs Neue andere Wege entstehen lässt, und zum anderen die unglaubliche Fülle an Werkzeugen, aus denen wir jedes Mal andere auswählen können oder müssen. In dieser Fülle zeigt sich das Erbe des Rollenspiels am deutlichsten, das Rogue und seine klassischeren Erben ja immer waren: entweder in der Wahl einer Charakterklasse ganz zu Beginn, oder aber, moderner, durch die Spezialisierung und Ausstattung mit den jeweils andere Spielstile zulassenden Gegenständen, die je für sich eigene Spielmechaniken und Systeme darstellen. Aus diesen Systemen ergibt sich die Häufigkeit des Spielertodes von selbst. Ironisch, dass von Permadeath gesprochen wird, wenn wir mit derartiger Hartnäckigkeit auferstehen, um unser Glück wieder zu versuchen!

5.

Das Rogue-like ist letztlich im Guten wie im Schlechten ein Verwandter des Einarmigen Banditen.

Und dieses “Glück” ist, wie sehr die Entwickler auch jeden unserer Schritte vorausgesehen haben mögen, der ständige Begleiter des Spielers. Ein Rogue-like kann gemeistert werden, indem man seine Regeln verinnerlicht. Doch immer nur bis zu einem gewissen Grad. Wir können uns einbilden, des Schicksals zuschnappender Hand immer wieder entwischen zu können -- aber in der Urform des Genres bleibt dies Illusion. Das Labyrinth kann, wenn der Zufall es will, unüberwindbar sein. Insofern gehört zur Meisterschaft eines Rogue-likes, ähnlich wie beim Poker, auch die rasche Erkenntnis der auswegslosen Situation und der vorzeitige Abbruch. Der erzwungene Freitod ist fester Bestandteil des Genres. Er hat aber auch seine Kehrseite: Jene Runs, in denen das Glück einen über seine Möglichkeiten hinaus vorantreibt und -bringt: Das Rogue-like ist in seiner Vermischung von harten Konsequenzen beim Scheitern und der Aussicht darauf, dieses Scheitern durch puren Zufall zu vermeiden, letztlich im Guten wie im Schlechten ein Verwandter des Einarmigen Banditen.

6.

So zeigt sich im wohl berühmtesten modernen Rogue-like dieses Gesicht des Genres als suchtbefördernde und -befriedigende Slot-Machine am deutlichsten: Diablo 3, diese stromlinienförmigste Adaption des Urkonzeptes, die niemals deutlich ihre ASCII-Wurzeln anerkannte, versorgt seine Spieler zwar im höchstwahrscheinlich von Militärpsychologen auf die Sekunde genau errechneten Belohnungsrhythmus mit Endorphinausstößen. Die -- natürlich -- vom Zufallsgenerator errechneten Belohnungen in Form von Item-Drops sollten aber eher dem Cashflow in Blizzards Echtgeldauktionshaus dienen als den Spielern. Die von anderen Rogue-likes stets so freigiebig und generös gratis und üppig verabreichten Belohnungen -- man erinnere sich: in moderneren Zeiten waren Rogue-likes fast ausschließlich Freeware, von Fanatikern für Fanatiker -- hängen in Diablo 3 dank Anbindung an eine absichtliche Mangelwirtschaft mit Bezahloption stets wie Karotten vor der Nase der Kundschaft. Kein Wunder, dass die sich als Esel behandelt fühlte und das Ausscheiden von Goldmünzen auf Dauer einstellen wollte. Nicht, dass Diablo 3 ein Flop gewesen wäre -- doch der Goodwill, den Blizzard mit seinem allzu frechen Spekulieren auf letztlich seichte Belohnungsspiralen und endlose Grind-Willigkeit verspielt hat, war sicher auch einiges wert. Merke: Die elementaren Einzelteile des Kults von Rogue lassen sich auch für die dunklen Seiten der Macht verwenden.

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7.

Auf der anderen des Spektrums stehen jene Hybride, die zwar weiterhin dem Zufall eine gewichtige Rolle eintragen, aber ihn nicht mehr zwingend zum Erfolgsfaktor machen. Spelunky etwa bricht in zweierlei Hinsicht mit der Tradition: Die auffälligere Innovation ist, dass die Feinmotorik ins Spiel kommt. Vielleicht noch wesentlicher ist jedoch, dass Spelunky den wilden Tod gebändigt hat. Situationen können, wenn der Zufall es will, noch immer schwierig sein, aber sie sind nie ausweglos. In Rogue und seinen näheren Verwandten kann der Tod hingegen durchaus System haben, das buchstäbliche unüberwindbare Welten generieren kann -- der Eine Verdammte Run schwebt als möglicher Schicksalsspruch über jeder neu generierten Welt. Die Renaissance des Genres zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass diesem Fatalismus abgeschworen wurde – neben Spelunky ist etwa auch der Muttermord in The Binding of Isaac letztlich immer im Bereich des Möglichen, solange die Reaktionsgeschwindigkeit hält. Damit öffnen sich die Spiele nicht nur zum Spekaktel und Zuschauersport. Es verschieben sich auch die Verantwortlichkeiten: Das System kann zwar immer noch verflucht werden, aber letztlich ist die Einsicht unabwendbar, dass niemand Schuld hatte, außer einem selbst.

8.

Warum scripten, wenn das vom Zusammenspiel aus kalten Algorithmen und heißlaufender Spielerfantasie viel besser erledigt werden kann?

Und so taugt die nur mehr angebliche Härte der Rogue-likes-likes sogar zum character building: Wie in Dark Souls ist auch in Spelunky, The Binding of Isaac, Risk of Rain oder Rogue Legacy letztlich das Spiel ein leidenschaftsloser Meister, der uns Konzentration, Disziplin und Übung lehrt -- Michael Abbots von mir bis fast zum Überdruss zitiertes Bonmot, Dark Souls sei ein Soul Dojo, trifft so auch und gewiss auf die ungerührte Härte der Rogue-likes zu: Ist es zu hart, bist du zu schwach. Diese spartanische Philosophie manifestierte sich in den Jahrzehnten zwischen Rogue und Brogue auch und mit todesverachtendem Schulterzucken in der Grafik, oder besser: in ihrem Fehlen. Klar gab es auch für Nethack schon Tilesets, die das dürre ASCII-Gewirr der Urväter in Grafik übersetzte, doch die ganz Harten -- und mal ehrlich: lange Jahre waren schon all jene, die von der Existenz des kryptischen Genres überhaupt wussten, the nerdiest of the nerds -- schwören nach wie vor auf Purismus. “I don’t even see the code anymore -- all I see is blonde, brunette, redhead”, wie schon in Matrix gescherzt wurde. Und darin liegt ein weiterer Grundcharakterzug des Rogue-likes, der jetzt aktuell wieder für dringend nötigen frischen Wind sorgt: procedural everything. Warum schreiben, warum scripten, warum erzählen, wenn das vom Zusammenspiel aus kalten Algorithmen und heißlaufender Spielerfantasie viel besser erledigt werden kann?

9.

Die quasi-inflationäre Verwendung des “Rogue-like”-Begriffs, die am Anfang dieses Essays stand, ist also auch dem Umstand geschuldet, dass es in seiner reduzierten Reinheit zum Symbol taugt. Es ist das perfekte Sinnbild für eine Bewegung, die weit größer ist als das Genre: Der Siegeszug der Prozeduralität, die seit ihren Anfängen immer zwei Dinge zugleich war: Ausweg aus begrenzten Möglichkeiten (finanzieller Art, bei Soft- und Hardware), und ein Werkzeug, das buchstäblich neue ästhetische Wege und Dimensionen eröffnet. Der alte Traum vom ewigen, allumfassenden Spiel -- im Angesicht der steigenden Entwicklungskosten markttauglicher Spiele scheint er ferner denn je. Kein Wunder, besinnt man sich auf das endlose Heer unermüdlicher Affen, um die Erfüllung des Traums doch noch herbeizuzwingen. Insofern ist klarer denn je, dass die grafikfetischistische Vorstellung vom Rogue-like  als Relikt einer vergangenen Zeit grundverkehrt war: Im Rückspiegel wird vielmehr deutlich, wie sehr es seiner Zeit voraus war. Es war sein unzeitgemäss loderndes Inneres, das sein Äußeres bis auf die ASCII-Knochen verbrannte.

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