Nachricht vom kalten Ende der Welt
Auf dem Boden am Fuß der Treppe liegt ein frischer Wolfspelz zum Trocknen; nur mehr wenige Tage, dann kann ich ihn zu dem Mantel vernähen, der seit langer Zeit mein nächstes großes Ziel ist. Diesen Wolf, so erinnere ich mich, habe ich nicht selbst getötet; sein Kadaver lag eines Morgens an der Seite meines Hauses, ein Opfer von Krankheit oder vielleicht des Bären, der nachts um mein Haus wandert. Seine Därme trocknen ebenfalls im Flur; aus ihnen kann ich irgendwann Angelschnur drehen, aber hier, im Lieblichen Tal, habe ich noch keinen See gefunden, in dem ich angeln könnte. Die Tage am Mystery Lake, dem Gebiet, in dem mein Überlebenskampf begonnen hat, scheinen mir endlos lange her; Tage, in denen ich morgens vorsichtig auf das Eis des stillen Sees gegangen bin, zu den Fischerhütten über zugefrorenen Eislöchern, und Fisch nach Hause getragen habe, so viel, dass ich mir die Frage stellte, ob es das war mit dem ewigen Kampf ums Essen. Als mein Angelzeug plötzlich nicht mehr aus dem Eisloch auftauchte und ich in Marschweite kein Material gefunden hatte, um neues zu basteln, war klar, dass das Illusion gewesen war.
Der Marsch vom Mystery Lake zum Lieblichen Tal, vor etwa zehn Tagen, war eine Herausforderung. Vierzig Kilo Gepäck, alles, was ich in den ersten, harten Tagen gesammelt und gefunden hatte: Kleidung, Werkzeug, zwei halb getrocknete Wolfsfelle, die kümmerlichen Reste Proviant. Und ein Gewehr, mit einer einzigen, letzten Patrone. Wie ich beim ersten Versuch, die Flinte abzufeuern, leichtsinnig gleich drei der kostbaren Projektile einem wegrennenden Reh nachgeschossen habe, wird mir wohl immer als wahnwitzig leichtfertige Verschwendung im Gedächtnis bleiben. Drei Tage dauert die Wanderung, drei Tage, an denen ich essen, trinken und mich warmhalten muss, im langsamen Schritttempo, zuerst zum Schutz des Damms, dann darüber hinaus, durch ein Höhlensystem, ins Unbekannte. Kein Blick zurück.
Das Liebliche Tal, eine Schneewüste, die Überleben verspricht, den Fund von Munition, Nahrung, Schutz. Zuerst jedoch: Desorientierung. Als einzige Erleichterung gönne ich mir eine Karte aus dem Wiki, doch die zeigt mir nicht, wo ich gerade bin. Einen halben Tag schleppe ich mein Hab und Gut quälend langsam durch die Weiße, finde eine Brücke, die mir trotz Karte auch nicht sagt, wo in dieser Wildnis ich mich befinde. Erst an einer Kreuzung kann ich mich orientieren; dort hinten wartet Schutz. Ein verlassenes Geschäft, kein Bett, kein Ofen, gerade gut genug für zwei Nächte im Schlafsack. Ich esse kaltes Hundefutter aus der Dose und kaue an eiskalten Pflanzenstengeln vom Fluss. Mein Gepäck lasse ich hier, um die verlassene kleine SIedlung am nächsten Tag zu erkunden. Es gibt hier keine Unterkunft, die als Basis für längeren Aufenthalt taugt; keine Werkbank, keinen Ofen, nur eine Toilette, aus der ich Trinkwasser entnehmen kann, statt mühsam Schnee zu schmelzen und abzukochen. Vor den Türen streunt ein Wolf umher; ich warte stumm, mein Gewehr mit der letzten Patrone im Anschlag, bis er vorbeigezogen ist. Am nächsten Morgen breche ich auf, bei gleißendem Sonnenschein und minus 19 Grad und Wind. Es ist ein langsamer Fußmarsch Richtung Süden, dorthin, wo laut Karte ein Bauernhaus wartet.
Es ist eine stille Wanderung, auf der ich mich immer wieder umblicke, ob keine Wölfe in Sicht sind. Abseits der Straße: ein großer Schuppen, verschneite Strohballen, Obstgärten im Weiß. Hirsche in mittlerer Distanz auf der Ebene, mein Atem in weißen Wölkchen vor mir; eine Art Idylle, ein Winterspaziergang durch eine stille, fast verzauberte Welt. Ich folge dem tief verschneiten Weg, betrete zum ersten Mal das Haus, das groß und still vor mir aufragt. Alles ablegen, im restlichen Licht des Tages sichten, was übrig ist von einem vergangenen normalen Leben hier: Dosenpfirsiche, ein Schleifstein, schäbige Wollpullover, eine Dose Kaffee und Bücher, die ich nicht lesen, sondern verbrennen werde. Am obersten Absatz der Treppe liegen Bausteine neben einem Gitterbett; im Unterschied zu vielen anderen Dingen kann ich ausgerechnet sie nicht aufheben und zerlegen oder verheizen, sie bleiben ungerührt hier, als Erinnerung an alles, was nicht mehr da ist.
Eine Woche in diesem Haus, eine Woche, in der ich einen kleinen Fußmarsch von hier eine weitere Leiche gefunden habe, mit einem zweiten, schäbigen Gewehr und fünf Schuss Munition. Eine Woche, in der ich mich eingerichtet habe, meine Konserven in der Küche in ein Regal gestellt habe, die Medikamente ins Bad, die Kleidung repariert, mein Jagdmesser geschliffen und mein Gewehr gereinigt habe. In der ich einen Bären getötet habe, aus Zufall, einen Bären, der nachts vor meinem - ja, meinem - Haus auf der Suche nach Beute war. Fressen und gefressen werden. Über 30 Kilo Fleisch sind an einem Bärenkadaver, es dauert Stunden, nur einen Bruchteil dieser Menge loszuschneiden, ins Haus zu tragen, Feuer zu machen, sie zu garen und zu lagern, am besten in der Metallkiste vor dem Haus, wo die Temperaturen so niedrig sind, dass sie tage-, im Notfall wochenlang essbar bleibt. Ich bin ein Fleischfresser; pflanzliche Nahrung gibt es hier nicht, abgesehen von Gras und alten Müsliriegeln.
Es ist eine eintönige Aufgabe, den Bärenkadaver zu verwerten, es dauert vier Tage, bis ich mich nicht mehr traue, das schon verdorbene Fleisch von den Knochen zu schneiden, aus Angst, mir eine Lebensmittelvergiftung zu holen, wie damals, ganz zu Beginn, als ich ein rohes Kaninchen gegessen habe, weil das Feuer nicht brennen wollte und ich am Verhungern war. Am dritten Tag ist so dichter Nebel, dass ich auf dem Weg zurück zum Haus, auf den läppischen vierzig Metern zwischen meinem Bären und dem Haus, die Orientierung verliere und staunend durch die milchige Welt aus Dunst und alles gelb erleuchtender unsichtbarer Sonne wandere.
In zwei, drei Tagen wird der Wolfspelz trocken sein und ich werde mich hinsetzen, um mir einen Mantel zu nähen. Ich werde Ausflüge machen, zum See, der auf meiner Karte ist, zu den verlassenen Hütten, die direkt hinter diesen Bergen liegen sollen. Ich werde versuchen, einen Hirsch zu schießen, nicht mit dem Gewehr, sondern mit dem Bogen, den ich gefunden habe, mit den Pfeilen, die ich gesammelt habe; um selbst Pfeilspitzen zu machen, muss ich eine Schmiede finden, irgendwann, später.
Es ist dunkel, als ich aufwache; es ist noch hell, als ich abends in meiner Küche stehe, ausgefroren, gerade zurück von meinen alltäglichen Wegen zum Holzsammeln, zum Kontrollieren der Kaninchenfallen, draußen im Eis, hungrig, durstig, müde. Ich schärfe meine Axt und sehe zu, wie es dunkel wird. Es wird Zeit, zu schlafen, die Stiege hinaufzugehen, über die Bausteine der abwesenden Kinder hinwegzusteigen, ins Bett zu fallen, den Kopf leer und doch voll mit Plänen, Sorgen, Ängsten. Die Nacht beginnt. Draußen heult der Sturm.
The Long Dark ist im Early Access erschienen.