No Man - No Sky
1 Ein mythischer Reiz dieses Spiels geht, so behaupte ich frech, von einem Spezifikum unserer jüdisch-christlich-muslimischen Urerzählung aus: Die Welt, wie sie ist, wird in diesen großen Erzählungen durch das Wort begründet. „Im Anfang war das Wort“, wie es so schön heißt, „und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.“ Das Universum von No Man’s Sky ist tatsächlich auch für Hardcore-Atheisten gewissermaßen „durch das Wort geworden“, auch wenn es in diesem Fall ein komplexer prozeduraler Algorithmus ist, der die Erscheinungsformen dieser Billionen Planeten und Lebewesen hervorbringt.
Dieser Algorithmus, großzügig gesagt: dieses Wort, bestehend aus einer begrenzten Anzahl von Befehlen, Zahlen, Berechnungen und Variablen, ist also tatsächlich (ich wage es kaum, „buchstäblich“ zu sagen) der Gott, aus dem die Welt wird. Ein Urknall aus Mathematik und Semantik. Kein Wunder, dass die Begeisterung für diese Idee zu quasireligiöser Begeisterung wurde, auch wenn dies kaum einem der so Enthusiasmierten je bewusst gewesen sein dürfte. Die Geschichte vom Wort, das Welt wird, hat nichts von ihrem Reiz verloren.
2 No Man’s Sky ist aber auch darüber hinaus ein Spiel, das zutiefst in dieser Tradition, die letztlich eine „westliche“ ist, wurzelt. Die leere Landkarte, der Aufbruch in die große Möglichkeit, die Erforschung, Nutzung, Ausnutzung des großen Unbekannten ist ein Narrativ, das nicht nur die Urerzählung jedes Kolonialismus (nicht nur des europäischen) ist, sondern noch viel weiter zurückreicht. Macht euch die Erde untertan, wie es so schön im oben schon erwähnten ganz alten Buch heißt, und zuvor werden von den beiden Ur-Pionieren Adam und Eva noch schnell alle Lebewesen der Erde benannt und somit katalogisiert.
Wie immer, wenn mit Mythen hantiert wird, ist von der Psyche des Menschen die Rede, und – ein Geheimnis der Mythenforschung, das keines ist – von einer Entwicklung, die sich tatsächlich in der Entwicklungsgeschichte jedes Einzelnen, vom kleinsten Kind bis zum Sterbebett, vollzieht: Die frühkindliche Lust am Finden und Benennen treibt uns alle an. Das ist das erste Versprechen, das den fast irrationalen Sog der Idee dieses Spiels begründet.
3 Das zweite Versprechen führt von dieser scheinbar irrationalen mythischen Weltsicht zu einer anderen, die aus ihr geboren und deshalb auch kaum weniger mythisch, aber dafür – eben – rationaler ist. Die Wissenschaft, jenes große Projekt der Neuzeit, gegen das Dunkel des Glaubens das Licht der Vernunft zu stellen, ist ein Mythos, der fast ebenso stark ist wie jener der Religion. To boldly go where no man has gone before … die „Science-Fiction“ trägt die „Science“ nicht umsonst im Namen, denn auch sie ist ein Erzählmodell geworden, jenes von der Quantifizierbarkeit, von der redlichen, systematischen Arbeit am Unbekannten, das dadurch durchschaubar werden soll. (Wie weit – oder wie wenig weit – diese Welterklärung gediehen ist, mögen verfeindete Quantenphysikerstämme untereinander ausmachen.)
No Man’s Sky, auch dies ein Grund zur erwartbaren Enttäuschung, eignet sich nur bedingt für die Simulation dieses großen Forschungsprojekts – der Algorithmus, der ihm zugrundeliegt, mag zwar fast unendliche Varianz bieten, aber im Vergleich zur Vielfalt allein schon eines dürren Asts der Insektenstammbaumforschung verblasst das digitale All zur schon bald ermüdenden Wiederkehr des Immergleichen. Das enttäuscht natürlich nur, wenn man in technikgläubiger Naivität einem Unterhaltungsprodukt ernsthaft zugetraut hat, die unser simples Gehirn übersteigende Komplexität sagen wir eines Kubikmeters Kompost zu übertreffen.
4 Diese drei Mythen unserer westlichen Welt mögen als Erklärversuche für den Sog dieses Spiels – zumindest: der Idee dieses Spiels – einmal so stehen bleiben: Die Faszination einer Welt aus dem Wort zum einen, der Reiz der Kolonisierung, Benennung und Definition dieser Welt zum anderen sind starke, kulturell unterbewusst wirkende, weil, mit saloppem Understatement gesagt, traditionelle Narrative; der modernere, auf diesen Säulen gewissermaßen aufbauende Mythos von der Wissenschaft als Erklärungsunternehmen tut sein Übriges. Während die beiden Ersteren schon konzeptuell faszinieren, müssen sich um die Umsetzung des Letzteren schon Spielmechaniken bemühen, die bis zum Release Grund zur Spekulation boten.
Ironischerweise gelingt No Man’s Sky die Simulation naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns ziemlich gut, auf Kosten seines Unterhaltungswerts. Das endlose Sammeln immergleicher Proben, die fast stupide Wiederholung des Immerselben mit leichten Varianten, die rein mechanische, jawohl: Arbeit ohne dramatische Höhepunkte dürfte den wenig heroischen realen Wissenschaftern vertraut vorkommen. Nix Gordon Freeman: Näher an den Alltag echter Wissenschafter als in No Man’s Sky kommt kaum ein Spiel.
5 Die ironische Pointe dieses Missverständnisses zwischen dem, was viele Spieler sich versprochen sahen, und dem, was Sean Murray in seinen Momenten des Erhabenen beim Anblick der nächtlichen Sterne über Australien sich imaginierte, liegt aber darin, dass sich in diesem Kokon aus westlichen (Kultur-)Mythen, von der Genesis bis zur Astrophysik, eine Spielerfahrung verbirgt, die einem ganz anderen Philosophiekreis bei weitem näher ist.
Das Wandern in diesem unendlichen Sternenmeer, das tägliche, immer wiederkehrende unaufgeregte Existieren in diesem endlosen Alltag, in den Routinen dieses Lebens in No Man’s Sky, die Freude am Moment, das absichtslose Wahrnehmen als Kern des Spielerlebnisses abseits von Zielen, Konkurrenz und Erwartungsdruck – jeder, der sich nur entfernt mit fernöstlichen Philosophien, von Taoismus über Buddhismus bis hin zum steilen Pfad des Zen beschäftigt hat, sieht, was hier angelegt ist.
6 Denn No Man’s Sky ist kein Walking Simulator, in dem wir zu Stimmen aus dem Off auf linearen Pfaden von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt flanieren, sondern schlicht – und großartigerweise – eine Welt, und genauso gut könnte es die Welt sein. Wenn No Man’s Sky eine Aussage unterstellt werden sollte, warum dann nicht jene, dass in seiner – wie auch in der realen – Welt auch die Suche nach einem Sinn keinen Sinn ergibt und zwangsläufig beim Banalen im Zentrum des Universums endet, dass die mühsam und emsig zusammengegrindeten Schiffskomponenten letztlich nur die Effizienz eines sinnlosen Vorgangs beschleunigen, dass sich hinter dieser prozeduralen Welt keine Dramaturgie, keine Spannung und keine Handlung abseits der unmittelbaren Gegenwart, dem unmittelbaren Tun entwickelt.
Für einen Sinn, für einen Grund, für einen zentralen Platz für den Helden dieser Geschichte, so scheint uns dieses so eng an den Grundfesten unserer eigenen Zivilisationsmythen errichtete Modell sagen zu wollen, gibt es in diesen Parametern keinen Platz. Darauf kann man mit Enttäuschung reagieren. Man mag es aber auch als Befreiung sehen.
7 Auf die Frage, was die Buddhanatur sei, antworten die alten Zen-Meister traditionell mit auf den ersten Blick skandalösen Abweisungen. Wasch deine Reisschale; siehe, die Zypresse im Hof. Dass No Man’s Sky uns auf das sich aufdrängende Fragen nach dem Sinn des Ganzen, nach dem Grund unseres Daseins in diesem Universum, per Scanner die nächsten Ressourcen zum Abbauen, die immerselben Stationen, die ewig gleichen Tätigkeiten anbietet, kann man als Affront sehen – oder als Hinweis auf oder Demonstration ebendieser Sinnlosigkeit, nach einem Sinn hinter etwas zu suchen, das bereits alles ist.
In dieser Interpretation – die keinerlei Wahrheitsanspruch stellen kann – wäre auch der Titel vielsagender, als dies vermutlich der Fall ist: Es wäre dann nicht so, dass der Himmel niemandem gehört – sondern dass er jenem gehört, der sich von der Illusion, ein bestimmtes Ich zu sein, befreit hat. Und wie jeder kümmerliche Versuch, ein Zen-Koan rational erklären zu wollen, scheitert auch dieser - im besten Fall an der Erleuchtung.
8 Letztlich - wie so oft - ist die Frage, ob No Man's Sky ein gutes oder schlechtes Spiel ist, eigentlich völlig irrelevant. Viele dürften im absichts- und sinnlosen Entdecken, in der Freude am absichtslosen Tun und Wandern in dieser Welt etwas gefunden haben, was der Absicht seiner Schöpfer vielleicht nahekommt. Andere schäumen verlässlich, weil viele Details fehlen - vermutlich aber auch, weil No Man's Sky, trotz all seiner mythischen Versprechungen, in seinem Inneren eine Leere trägt, die sie fälschlicherweise als etwas betrachten, was gefälligst aufgefüllt werden muss.
Ich hoffe, dass diese Leere durch Nachbesserungen, Patches und DLC nicht gefüllt wird. In ihr liegt vielleicht das Schönste, was uns seine Welt zu bieten hat: wir selbst, und was wir im Angesicht des fast Unendlichen mit uns anzufangen wissen.