Once upon a game: Emergent Narrative

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Warnung: Ich muss hier mal etwas ausholen. Aber Geduld: Wir kommen zum Thema Games. Versprochen.

Man vergisst es hin und wieder: Der Mensch ist ein Geschichtentier, unfähig, seine Weltsicht NICHT in die Narration zu binden. Kaum sind wo zwei zusammen, werden die Rollen verteilt, die Motivationen zugeordnet und die großen Plots geschmiedet. Mein alter Lieblings-Crackpot-Scientist Julian Jaynes bezeichnete ja die Fähigkeit, Metaphern zu bilden, als Grundvoraussetzung für das, was wir gemeinhin so als Bewusstsein bezeichnen, aber man könnte ganz poetisch noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass das, was uns als Menschen ausmacht, das Erzählen ist - und sei es, als Minimalvariante, nur das Erzählen unserer eigenen "Lebensgeschichte" in Form von Erinnerungen in den kleinen Wunderkammern, die wir unser Gehirn nennen.

Der Anlass für diese lyrischen Überlegungen war dieses Poster, das "42 essential plot-twists" darstellt. Möglicherweise bin ich durch das Arbeiten mit einem systematischen Werk verdorben, das die gesamte Volksliteratur noch Motiven aufschlüsseln wollte, der Motif-Index of Folk Literature von Stith Thompson, doch ich kann dem Gedanken viel abgewinnen, dass sich unser narratives Denken an solchen einfachen, tja, Motiven orientiert, die wir von Kindesbeinen an mit der Sprache eingeflößt bekommen. Der Zweck von Märchen für Kinder könnte somit darin liegen, dass sie dem Menschen ein narratives Basisprogramm ermöglichen, das sich tief in unser Erzählen eingräbt: Der dritte, jüngste Sohn triumphiert, wo die zwei älteren versagten; List überwindet rohe Gewalt; getrennte Liebende werden am Ende vereint; die Übertretung von Tabus wird bestraft.

Ob das Erzählen hyperkomplex ist, wie Thompson oder auch das Poster nahelegen, oder eigentlich ganz simpel, wie etwa der Narratologe Christopher Booker in seinem berühmten Buch "The Seven Basic Plots"beschreibt, muss jeder mit sich selbst ausmachen. Ich persönlich tendiere zu beidem.

Und jetzt: Games

Was hat das mit Spielen zu tun? Ist es wichtig, dass Computerspiele eine Story erzählen? An dieser Frage entzündete sich bereits vor Jahren, in der Anfangszeit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Games um die Jahrtausendwende, eine hitzige Debatte. Während die ins hippe Zukunftsfeld Game Studies einströmenden Kulturwissenschaftler Spiele pauschal als "Texte" sehen wollten, die mit den erprobten Werkzeugen der traditionellen Disziplinen erforscht werden könnten, strichen andere Forscher vehement den Unterschied des Mediums Spiel zu den älteren Kunstformen hervor: Ein Spiel, so das Argument, definiere sich primär durch die Interaktionsmöglichkeiten. Ein kleiner Gelehrtenkrieg war vom Zaun gebrochen, der als Konflikt zwischen Narratologen und Ludologen die traurige Berühmtheit erlangt hat, als erster ideologischer Grabenkampf der jungen Disziplin Games Studies zu gelten.

411Infinite Adventure Machine: Wenn der Computer Märchen erzählt

 

Gameplay vs. Story?

Wie traditionell bei Diskursen zwischen Akademikern wurde hier die Realität des Feldes als zweitrangig betrachtet - jeder Spieler wird wohl anerkennen, dass in den meisten Fällen sowohl Erzählung, also Narration, als auch Spielmechanik ihren Beitrag zu leisten haben, mal mehr, mal weniger. Tatsächlich zeigt sich in der Verschmelzung beider Elemente ein Alleinstellungsmerkmal, das Computerspiele von rein erzählenden Medien - Literatur, Theater, Film - einerseits und rein spielerischen Kulturtechniken - Spielzeug, abstrakten Spielen wie Schach oder Karten- und Würfelspielen sowie Wettkampfsport - andererseits unterscheidet.

Dabei ist es augenscheinlich gar nicht so einfach, Interaktivität und Narration, also das Erzählen einer Geschichte, schlüssig unter einen Hut zu bringen. Narration, wie wir sie aus Literatur oder Film kennen, ist Einwegkommunikation, und deshalb ist sie auch so gut: Der Autor oder Regisseur führt uns, zeigt uns mit Absicht Einzelheiten oder Motivationen aus einem festgeschriebenen Blickwinkel und lässt den Konsumenten sozusagen auf Schienen durch die Erzählung gleiten. Tempo, Plot und Ausgang sind festgelegt.

Beim Spiel ist diese Rollenaufteilung naturgemäß komplizierter. Jede Interaktion, jede Entscheidungsmöglichkeit des Spielers stellt potentiell die Autorität des Erzählers in Frage, ein Thema, mit dem sich ja auch The Stanley Parable auf kluge Weise befasst hat. Wie Spannung aufbauen, wenn das Tempo in der Hand des Spielers liegt? Wie einen Plot voranbringen, wenn der Spieler sich frei bewegen kann? Wie einen gewünschten, stimmigen Schluss erzwingen?

413Mass Effect: Film zum Spielen, mit Enttäuschung am Ende

Play the movie! Aber warum?

Natürlich haben Games seit den Tagen von Pong gewaltige Schritte hin zur Narration gemacht. Spiele wie Silent Hill, Planescape: Torment oder Deus Ex, um willkürlich ein paar zu nennen, erzählen spannende Geschichten. Trotzdem bleibt streng genommen meist die Handlung unabhängig vom eigentlichen Spiel, werden die Entscheidungen des Spielers in vorgegebene Lösungswege gedrängt und die Spielhandlung schlimmstenfalls durch nicht beeinflussbare Cutscenes erzählt. Ein klassisches narratives Gerüst wird dem Spiel übergestülpt - interagieren kann man dann ja in den Spielsituationen zwischen den erzählenden Blöcken.

Das langjährige Versprechen der Industrie, "spielbare Filme" zu liefern, zeigt einen hartnäckigen Irrtum: dass Spiele mehr wie Filme sein sollten, in denen der Spieler selbst die Hauptrolle spielt. Nur wenigen Ausnahmetiteln gelingt das Kunststück, hier tatsächlich fruchtbare Hybride entstehen zu lassen - die Uncharted-Reihe, Heavy RainAlan WakePortal oder auch Rockstar Games' innovatives "LA Noire" versuchen mit variablem Erfolg, filmische Narration und Gameplay unter einen Hut zu bringen. Nicht immer mit Erfolg: Das Ende der Mass Effect-Trilogie war für viele Spieler eine ernüchternde Offenbarung, dass eben eigene Entscheidung und filmartige Inszenierung letztlich auf Choose-Your-Own-Adventure-mickrige Komplexität hinauslaufen müssen. In Telltales The Walking Dead funktioniert das Verzweigen der Pfade eindeutig besser, aber vielleicht eignet sich das klaustrophobische Endzeitkammerspiel dafür auch vom Setting her dafür besser als die Space Opera.

410Tim Denees Illustration zu Dwarf Fortress zeigen das narrative Potenzial prozeduraler Sandkisten.

Eine, viele oder keine Geschichten erzählen?

Wie nun beides, Gameplay und Storytelling, sinnvoll verschmelzen? Ist es für einen Autor überhaupt möglich, die potenziell unendlichen Interaktionsmöglichkeiten des Spielers mit einem linearen Skript zu vereinen? Möglicherweise liegt die fernere Zukunft des Storytellings ja gar nicht bei den Autoren, sondern beim Spieler selbst. Während traditionell geschriebene Spiele mehr oder weniger linear bleiben müssen, der vorgegebenen Story wie auf Schienen folgen und somit mit der Interaktivität des Mediums nur halbherzig umgehen können, bieten Sandbox-Spiele wie The Sims oder Minecraft potenziell eine Unzahl an Erzählungen, die sich aus dem Spielverlauf selbst ergeben. Jeder SimsSpieler kann wohl haarsträubende Familiengeschichten, jeder Civilization-Spieler epische Historien erzählen.

Je weniger die Fantasie des Spielers durch den Autor eingeschränkt ist und je mehr Möglichkeiten ein offenes Spielkonzept anbietet, desto kreativer können die sich durch das Spielen ergebende Narrative ausfallen. So betrachtet ist es kein Wunder, dass ausgerechnet narrativ dürre, aber dafür offene MMOs wie EVE Online derart epische "Geschichte"produzieren und wagemutige Spieler der berüchtigt unzugänglichen Indie-Games-Legende Dwarf Fortress hunderte fantastische Erzählungen in eigenen Story-Repositories oder als Illustrationen nacherzählen, die sie der unglaublich detaillierten, offenen Welt des Spiels abgerungen haben.

Analog zum Begriff des "Emergent Gameplay" könnte man, gameswissenschaftlich nicht ganz korrekt, von "Emergent Narrative" sprechen und die offenen Spielewelten analog als endlos Geschichten generierende Erfahrungsräume bezeichnen. Die Aufgabe des Designers solcher Welten wäre es dann, den Spielern die nachträgliche Erzählung ihrer ganz eigenen Geschichte zu erlauben, die naturgemäß mal besser, mal schlechter zu den aus den statischen Gattungen Literatur und Film bekannten Handlungsgerüsten passen würden. Der Preis für die Freiheit wären aber dann wohl Storys, die sich mit den ausgeklügelten Handlungen "geschriebener" Narration nicht messen können.

412Jason Rohrers Sleep is Death legt die Narration in Menschenhände.

 

Narration braucht Autoren - noch

Kunstprojekte wie die Infinite Adventure Machine weisen in eine interessante Richtung: Aus den strukturellen Grundelementen von Märchen errechnet der Algorithmus unendlich viele neue Märchen, die Fantasie des menschlichen Lesers erledigt die sinnvolle Zusammensetzung zu einer Geschichte. Es darf vermutet werden, dass der erste MMO-Produzent, der eine derartige "Narration Engine" sinnvoll einbinden kann, ziemlich viel Geld scheffeln wird.

Naht im Spiel also gar das Ende des Autors? Wenn ich mit meinen Sims oder meiner Corporation in EVE Online ebenso spannende Geschichten erleben kann wie in linearen Spielen, die von Autoren traditionell geschrieben werden, und diese Geschichten dann auch noch einzigartig und tatsächlich interaktiv sind - wozu brauche ich dann eigentlich noch einen Autor?

Jason Rohrer hatte vor über zwei Jahren einen fast genialen Shortcut über dieses Problem hinweg gefunden:Sleep is Death ist eigentlich kein Spiel, sondern ein Story-Baukasten für zwei, eine Plattform für offenes Spielen, ein Baukasten, mit dem man experimentieren kann. Anstatt dem Computer beizubringen, wie ein Mensch Motive zu erfassen, diese als Geschichte zu präsentieren und auf den Spieler sinnvoll zu reagieren, lässt Rohrer diese Arbeit einfach beim zweiten Spieler - Improvisationstheater in 8 Bit.

Es dürfte also noch dauern, bis auf Autoren im klassischen Sinne verzichtet werden kann. Gut erzählte, von Menschen erdachte Geschichten schlagen nach wie vor prozedural generierte Ereignisse um Längen - Geschichtenerzählen ist immerhin eine große Kunst, die Formeln und Algorithmen noch lange nicht so gut beherrschen werden wie der Mensch - wenn dies überhaupt jemals erreicht werden kann. Vermutlich finden sich noch interessante Zwischenschritte, die Games-Designer und Autoren zu innovativen Formen interaktiven Storytellings führen werden.

Die Frage, die sich unmittelbar stellt, ist also nach wie vor eine des Verschmelzens von Ludologie und Narratologie: Erzählen und Interaktion zu verbinden ist die Herausforderung, der sich das Medium wieder und wieder stellen muss. Man darf also gespannt sein, welche interessanten Ansätze da noch auf uns zukommen. Platz für Neues wäre genug.

 
Eine erste Annäherung an dieses Thema gabs von mir kürzer hier auf fm4.
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