Orks wie du und ich
Shadow of Mordor ist ein wunderbar gelungenes Spiel, das vielleicht als Erstes einen Schritt weg von der zu Tode ausgeleierten Formel von Assassin's Creed und gefühlt allen Open-World-Spielen der letzten zehn Jahre zu gehen wagt. Es ist Monolith nicht nur gelungen, einen stundenlang motivierenden Kern von Action-Gameplay elegant und konstant fordernd mit den Systemen des RPGs zu verbinden - das macht man ja heute allgemein so -, sondern auch, eine sich entwickelnde und reagierende offene Welt zu schaffen, deren Bewohner sich einmal nicht wie seelenlose Automaten oder Gegner von der Stange anfühlen. Shadow of Mordor erweckt die gewaltige Heerschar Mordors zum Leben, bestehend aus Orks, Uruks und so manchen anderen pittoresk entstellten Albtraumgestalten, lässt sie leben, untereinander um Vorherrschaft ringen, einem Tagesablauf folgen, sich versammeln, flüchten und sich unterhalten.
Dann stattet uns das Spiel lediglich mit tausend Wegen aus, sie effizient, brutalst und rücksichtslos zu vernichten.
Wie viele, viele andere Spiele auch ist Shadow of Mordor - ohne mit dieser Einschätzung ein Urteil zu sprechen - eine exzessive eskapistische Gewaltfantasie, in der der Spieler allein gegen einen übermächtigen Feind bestehen muss. Es ist müßig, wie bei jenem klassisch danebenhauenden Doom-Review der Edge, zu betrauern, dass man mit diesen Monstern nicht reden kann, doch Monoliths denkende, sich verändernde und scheinbar intelligent reagierende Schar von Orks, die wir zu Hunderten, nein, Tausenden elegant und gewalttätig in Fetzen schlagen, machen die damals, angesichts der stupiden Monster von Doom lächerliche Aussage heute bei weitem weniger absurd: If only we could talk to these creatures ...?
Aber Halt: Ist dieser Gedankengang nicht Unsinn? Shadow of Mordor ist ein Action-Brawler, der seine DNA von Batman, Assassin's Creed und Devil May Cry entliehen hat - da geht's um Handfestes, nicht ums Gespräch. Auch die Kriminellen, die wir in Batman zu hunderten krankenhausreif prügeln, wären mit Sozialarbeit und Psychologen besser bedient - doch wo wäre dann das Spiel? Auch Shadow of Mordor will kein Rollenspiel sein, kein Adventure, und so sprechen wir nur in den Cutscenes mit unseren Gegnern und beschäftigen uns, sobald wir das Gamepad in die Hand nehmen, ausschließlich mit ihrer Vernichtung.
An dieser Stelle gebietet die traditionelle leicht erregbare Dünnhäutigkeit der Spielerschaft bei Kritik den Einsatz eines Disclaimers: Ich habe kein Problem mit Gewalt in Spielen - ein Pixelmännchen totzuklicken, und sei es noch so lebensecht dargestellt, ist meiner festen Überzeugung nach moralisch weniger verwerflich als das Essen von Eiern aus Käfighaltung. Und dennoch drängen sich mir wie auch anderen Kritikern angesichts der hier dargestellten Gewalt Fragen auf, die sich nicht so einfach beantworten lassen.
Shadow of Mordor erweckt mit seiner Darstellung der Orks, einer militärischen Gesellschaft hunderter Kriegsgestalten, die komplett mit Namen, Stärken und Schwächen immer neu generiert und mit Persönlichkeit versehen werden, eine kriegerische Organisation von "Anderen", ein ganzes Volk (auf Englisch, weniger vorbelastet: a race) zum Leben: Saurons Heer, ein allem Anschein nach monströses geordnetes Chaos von gezähmter Anarchie und tribalistischer Brutalität. Die Orks und Uruks in Mordors Schatten erwecken dank cleverer AI und hunderter Zeilen Dialog nicht den Eindruck, bloßes Kanonenfutter zu sein, sondern mehr: lebende Wesen, eine wenn auch primitive, so doch eigenständige Gesellschaft. Diese Gesellschaft ist der Feind, den wir zerstören, vernichten, foltern und in Angst und Schrecken versetzen.
Der Verweis auf Tolkien als Erklärung für die mitleidlose Ausrottung dieses Volkes in Shadow of Mordor zieht nur halb. Wie Felix Haenel in seinem Text richtig bemerkt, stehen Tolkiens Helden selbst in ihrem Kampf gegen das auch in Tolkiens Mythos nicht gerade differenziert gezeichnete Böse in ihrem Ehrenkodex über derartig pragmatischer Realpolitik der Vernichtung:
That is, that though of necessity, being the fingers of the hand of Morgoth, they must be fought with the utmost severity, they must not be dealt with in their own terms of cruelty and treachery. Captives must not be tormented, not even to discover information for the defence of the homes of Elves and Men. If any Orcs surrendered and asked for mercy, they must be granted it, even at a cost.
Morgoth’s Ring, The History of Middle-earth 10, Seite 419
Tolkiens Helden selbst hätten also vermutlich ethische Bedenken, sich im rücksichtslosen Guerrillakrieg wie der Held des Spiels zu verhalten; und Spiele wie Mass Effect widmen immerhin Dutzende Stunden der Frage, ob Genozid als legitimes Mittel der Verteidigung gelten darf. Doch zu diesem von Shadow of Mordor völlig ignorierten ethischen Fragen kommt noch ein weiteres Dilemma des Ausgangsmaterials. Denn auch Tolkien selbst sah sich wegen seines Werks nicht ganz zu Unrecht immer wieder mit dem Vorwurf des verschleierten Rassismus konfrontiert; die "dunkelhäutigen, kleinwüchsigen, schlitzäugigen" Horden der Orks hat der Mediävist Tolkien selbst mit Mongolen verglichen, diesen Vergleich jedoch in späteren Wortmeldungen stets relativiert. Ein Überblick über die Problematik findet sich übrigens hier. Um es klar zu sagen: Ich argumentiere hier nicht aufgeregt dafür, Tolkien als Rassisten zu interpretieren, verweise aber dafür als weiteren Hinweis auf das Material, aus dem er seine Welt und seine Mythologie schöpfte. Wie erwähnt war Tolkien Mediävist, seine Inspiration waren stets die mittelalterlichen Epen (Nord-)Europas, von den keltischen Sagenkreisen der Matiere de Bretagne bis zu den skandinavischen Mythen.
Diesem Ausgangsmaterial der europäischen Heldendichtung folgend ist es kein Wunder, dass Stereotype und für moderne Leser holzschnittartige Feindbilder im Herrn der Ringe zur Anwendung kommen; die "weißen" Helden sind jene der mittelalterlichen Epik, die sich in den Chansons de Geste etwa mit den bösen "Sarazenen", historisch den moslemischen Eroberern Südspaniens, blutige Schlachten liefern, die für einige der ikonschsten Szenen des Herrn der Ringe Pate gestanden haben dürften - die Belagerungsszenen von Horns Klamm etwa sind Hommagen an diese mittelalterliche Propagandaliteratur der Reconquista, in der christliche Heere gegen übermächtige Heiden bestehen oder untergehen. Ebenso Standard ist die Zeichnung "östlicher", also asiatischer Völker als monströs, unheimlich, gottlos - hier bedient sich Tolkien mit leichter Hand bei hunderten Jahren mittelalterlicher (Pop-)Hochkultur.
Mein Punkt an dieser Stelle: Die Begeisterung und Unbekümmertheit, mit der Tolkien diese Topoi in seine moderne Mythologie miteinfließen ließ, ist gewissermaßen ein "Geburtsmakel" der modernen Fantasy, die lange Jahre diese Schwarz-Weiß-Stereotypen begeistert und selbstverständlich weitertrug. Dem Herrn der Ringe einen Verstoß gegen moderne Sensibilität und/oder, je nach Grad der Verbohrtheit, Mangel an "Political Correctness" vorzuhalten. ist eine mäßig sinnvolle Übung.
Der furios blutige Vernichtungsfeldzug Talions gegen den Feind wäre kaum einem der noblen Tolkien'schen Helden zuzutrauen.
Im Fall eines sekundären und vor allem zeitgenössischen Produkts wie Shadows of Mordor liegt der Fall meiner bescheidenen Ansicht nach jedoch etwas anders. Zum einen, weil sich Monolith hier dezidiert selbst nicht an Tolkiens "Ehrenkodex" seiner Helden hält: Wie im Zitat oben erwähnt wäre der furios blutige Vernichtungsfeldzug Talions gegen den Feind kaum einem der noblen Tolkien'schen Helden zuzutrauen (in den mittelalterlichen Epen selbst durchaus, dies nur als Anmerkung). Talion ist kein Held Tolkiens, sondern ein "moderner" Action-Held, ein zweckrationaler, "schmutziger" einsamer Wolf, wie ihn vor allem die Popkultur der Gegenwart feiert: gebrochen, zynisch, verloren, und deshalb hart, erbarmungslos, pragmatisch.
(Nebenbei: Talion, so könnte man polemisch feststellen, bedient sich der Mittel der asymmetrischen Kriegführung; aus Ork-Sicht würde er zweifellos als "Terrorist" bezeichnet. Ironie der Geschichte, dass sich der kulturelle und politische Hegemon der Gegenwart, die westliche Welt, in einem endlosen Krieg gegen genau die Sorte Soldat befindet, die in ihren Pop-Produkten als Held gefeiert wird.)
Im Zusammenprall von Tolkiens schablonenhafter Armee des Bösen und einem seiner Heldenhaftigkeit - und somit seiner von der Ehre gebotenen Tabus- entledigten modernen Helden tut sich die Möglichkeit zum konsequenzlosen Massaker auf, wie es im Sinne der Spielmechanik erforderlich ist: Tausende Gegner zu töten, aus dem Hinterhalt, im offenen Kampf, mit allen Mitteln, sie zu terrorisieren, in Angst zu versetzen und schlussendlich sogar zu versklaven - dieser Spielplatz lässt sich nur dann mit Genuss betreten, wenn der Gegner bedenkenlos als böse, als nicht menschlich charakterisiert wird.
Spätestens hier ist ein Punkt des Stolperns: Wie realistisch, komplex, individuell und, ja, menschlich dürfen diese Gegnermassen gezeichnet sein, bevor uns das Massaker an ihnen Unbehagen bereitet? War es bislang einfach, die Gegnermassen als stupide, identische, immer wieder neu auftauchende gesichtslose Massen zu sehen und sie dementsprechend gedankenlos wie Space Invaders ins digitale Jenseits zu schicken, stellt uns Shadow of Mordor durch sein großes Alleinstellungsmerkmal, eine "lebende", sich entwickelnde Gegnerschaft, eigentlich vor ein moralisches Dilemma, mit dem es uns schmählich allein lässt. Hier ist eine liebevoll ausgearbeitete Gesellschaft von grotesken, feigen, großsprecherischen, dummen, aggressiven, albernen Figuren mit Namen, einer Geschichte, Eigenschaften und individuellen Gesichtern - und wir können ihnen als letztlich charakterlose Spielerleerstelle nur mit Vernichtung begegnen.
Wie realistisch, komplex, individuell und, ja, menschlich dürfen diese Gegnermassen gezeichnet sein, bevor uns das Massaker an ihnen Unbehagen bereitet?
Felix Haenel sieht dies in seinem oben verlinkten lesenswerten Text als fast genialen Kunstgriff, dem Spiel zwischen den kanonischen Werken des Hobbit und dem Herrn der Ringe ein "Zwischendasein" zu ermöglichen und so letztlich die Sinnlosigkeit des eigenen Handelns als Epiphanie darzustellen; auf der Ebene der Rezeption allerdings ist dieses Argument angesichts des Gameplays, das als AAA-Blockbuster den möglichst befriedigenden und herausfordernden Spielspaß zum Ziel hat, zumindest fragwürdig. Mag sein, dass der schmutzige Krieg Talions gegen den übermächtigen Gegner wegen dieser Existenz als "Zwischenwerk" letztlich nicht mit einem Happy End belohnt wird - die kritische Beobachtung, dass die Befriedigung einer spielerischen Machtfantasie hier mit wenig reflektierter Gewalt an einem nur oberflächlich dehumanisierten, in seiner technischen Brillanz bedrückend humanen Gegner erkauft wird, bleibt dennoch aufrecht.
Macht das Shadow of Mordor zum schlechten Spiel? Auf keinen Fall. Angesichts seiner Qualität kann aber nur bedauert werden, dass die Chance nicht ergriffen wurde, hier inhaltlich etwas reflektierter mit diesem Bruch zwischen Gameplay und der Welt, durch die wir eine blutige Spur ziehen, umzugehen. So schwer wäre dieses Kunststück auch im Kontext Tolkiens nicht gewesen: Schließlich sind wir, als prototypischer "weißer" Held mit Rache-Motivation, so klassisch wie selten zuvor der dunkle Widersacher einer bis ins Detail gezeichneten Gesellschaft angeblicher Monster. So wie in Richard Mathesons "I Am Legend" (dem Buch, nicht dem Film) der letzte Mensch am Ende erkennt, dass er selbst zum Außenseiter, zum wahren Monster geworden ist, hätte eine noch so kleine Thematisierung Talions als Schlächter eines ganzen Volkes Shadow of Mordor nicht zum besseren Spiel, aber sehr wohl zur reflektierteren Erzählung und sogar zum klugen Metakommentar auf sein Medium gemacht.
Nachtrag: Wer übrigens gerne einen empathischeren Blick hinter die Fronten eines "Reichs des Bösen" der Fantasy-Konventionen werfen möchte, soll sich Brian McNaughtons fantastische Kurzgeschichtensammliung "The Throne of Bones" zu Gemüte führen - 1997 mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet.