Postkarte von Agata: Neue Dimensionen
Agata Góralczyk ist als Langzeitreisende in virtuellen Welten unterwegs. Einmal im Monat schickt sie uns eine Postkarte - diesmal aus Fez.
Lieber Rainer,
in der Dämmerung des frühen Morgens erwische ich die Eule am Wasserfall gerade noch: "Hexaeder, Oktaeder, Dodekaeder." Sie erzählt von Polyedern, platonischen Körpern, vollkommenen Einheiten des endlosen Raumes. Wie ihre athenischen Verwandten spricht sie Weisheit in Rätseln.
Endlich ist mir ein flüchtiger Blick in die Geheimnisse dieser Welt gelungen. Der verborgene Eingang hinter dem Wasserfall leuchtet in der Nacht golden auf. Das verfallene Portal führt mich in die Tiefen alter Minen. In dunklen Höhlen voller Stalagmiten und Stalaktiten vibriert das Echo in einem vorberechneten Rhythmus. Stumme Loren in verlassenen Schächten geben Zeichen. Hier ist nichts zufällig, alles kann eine Bedeutung haben.
Immer gilt es einen Weg zu bezeichnen. Aus den Minen zu einem Wasserportal, in die Welt eleganter Windmühlen und schlanker Leuchttürme in sanfter Meeresbrise. Im Innerste der Gebäude, in ihren Maschinen, angetrieben von rostigen Winden verliere ich mich zwischen endlosen Wasserrohren und Pipelines. An schwarzen Leitungsbündeln klettere ich zu roten Ziegelungetümen, die mich weiter am Horizont erwarten. Stahlplatten rotieren, endlos klackernde Mechanismen gut geölter Uhrwerke, angetrieben von Zahnrädern, die perfekt ineinander greifen.
Eines Tages explodierte die Wirklichkeit meines kleinen Dorfes. Ich habe eine weitere Dimension gesehen. Es gab eine Welt außerhalb. Seitdem treiben mich die Räder, die diese Welt bewegen, immer weiter. Zu neonbeleuchteten Wohnblöcken im trüben Regen einer verdammten Stadt. Mülltonnen quellen über, Feuerleitern über den Straßenständen führen zu winzigen Wohnungen. Als ich in die Abwasserkanäle hinabsteige, starren mir Eulen von Straßenplakaten hinterher. Im Schein meiner kleinen Lampe sickert grüner Schleim in die wabernde Brühe unter meinen Füßen. Schwimmende Pontons führen den Weg zu Ventilen und Schleusen, die die Mechanismen weiterer Welten offenbaren.
Ein Sprung durch das Prisma, das alles zusammenhält, und ich bin an den ruhigen Stränden antiker Ruinen. Grün berankte Türme, unendlich hoch in der Luft aufgehangen. Archaische Bauwerke in ihrer Dimension gefangen und dem Verfall überlassen. Von hier aus führen von Fackeln beleuchtete Gänge durch Pyramiden längst vergessener Baumeister. Zwischen den schweren Steinquadern hat Wurzelwerk seinen Weg gefunden, Erde rieselt immer wieder auf meinen kleinen roten Hut. Ein Gong schlägt in der Ferne: ein, zwei, drei Mal.
Durch ein Portal geworfen stehe ich vor purpurnen Steinkolossen einer unbekannten Unendlichkeit. Ein Summen, wie von einer unbegreiflichen Intelligenz, durchzieht das Sein. Ich schreite unwissend und stumm durch Bibliotheken voller Bände in einer unentzifferbaren Sprache. Violette Obelisken und Monolithen tragen Botschaften eingemeißelt. Im Himmel schweben Bauwerke, als Deutungen dieser Welt, wie sie sie ihre Erbauer gedacht hatten, bergen Mechanismen, die jeden Suchenden auf die Probe stellen.
Nichts davon hatten mir die Tafeln meiner Schulzeit erklärt. Die Welt war flach, quadratisch, wohlgeformt. Eine dritte Dimension? Welch Wahn soll das sein?
Alles hier ist ein Code, ein geheimes Alphabet. In gematrischen Permutationen der Symbole wird mir das mystische Geheimnis eines Zeichens offenbart. Eine Erkenntnis, eine neue Art, die Welt zu sehen. Ein Einblick in die Verschlungenheit der Wege tut sich vor mir auf.
Mein Kopf dreht sich, ich drehe die Welt.
Deine Agata
Mittwoch, Juni 11, 2014 - 13:04