Sex and Ultraviolence: Gamer und Kritik
Wer spielt, kennt das Phänomen: Vor allem Zeitgenossen, die nie in ihrem Leben ein Joypad in der Hand gehabt haben, sehen sich anlässlich verschiedenster Auslöser bemüßigt, Spiele zum Sündenbock abzustempeln. Fettleibigkeit bei Jugendlichen? Games sind schuld. Im PISA-Test mangelhaft? Zu viel Xbox. Eine Tragödie im Schulumfeld? Es liegt an den "Killerspielen". Selbst bei Anders Breivik darf der Verweis auf dessen Spielkonsum nicht fehlen: Mit Call of Duty und World of Warcraft (!) habe der Massenmörder seine Tat trainiert, und überdies sei es "nicht normal", dass ein Mann in seinen Zwanzigern seine Zeit mit Computerspielen verbringe.
Es ist also bis zu einem gewissen Grad verständlich, dass die Spielercommunity auf Kritik reagiert - in den allermeisten Fällen ist diese nämlich nichts anderes als argument- und intelligenzbefreites Bashing einer fremden, als gefährlich empfundenen Lebensrealität. Zugleich ist diese Welt allerdings so weit Mainstream, dass sie mit ihrem Millionenpublikum und -Etats ein gewisses Selbstbewusstsein aufgebaut hat.
Gamer befinden sich vor allem im Netz unter verständnisvollen Ihresgleichen, in riesigen Echokammern, in denen sich auch wegen der allgemeinen, als ungerecht empfundenen Stigmatisierung eine Wir-Mentalität breitmacht, die inzwischen bei fast jeder Form von Kritik die Ohren verschließt und sich wenig zimperlich zur Wehr setzt. Und besonders wenn es um Sex und Gewalt geht, fliegen die Fetzen.
Beißreflex und Schlangengrube
Als anlässlich der diesjährigen E3, der großen Leitmesse der Gamesindustrie in Los Angeles, die großen Publisher die Werbetrommel für ihre Spiele rührten, zeigte sich ein interessanter Realitätsbruch: Während vor johlendem Messepublikum in unzähligen Trailern die kommenden AAA-Titel für die gerade noch aktuelle Konsolengeneration vorgestellt wurden, machte sich bei manchen Kommentatoren leises Unbehagen breit - Unbehagen darüber, dass sich die meisten "Großen" darauf beschränkten, ihre mehr oder weniger stagnierenden Games-Fortsetzungen durch ein bisher nie dagewesenes Ausmaß an Gewaltdarstellung zu bewerben.
Kopfschüsse in Großaufnahme, "anatomisch korrekte" Scharfschützengewehrseinschüsse, eine Lara Croft, die ausgerechnet durch eine Beinahe-Vergewaltigung den Beschützerinstinkt des Spielers wecken sollte und ein auf haarsträubende Weise zwischen Fetisch- und Gewaltfantasie taumelnder Trailer für Hitman: Absolution waren die Tiefpunkte des Hochglanz-Lineups, die mehr als die bescheidenen Präsentationen der E3 heuer für Gesprächsstoff sorgten.
Kris Graft vom Games-Industrie-Blog Gamasutra fasste wie einige andere Games-Insider seine Unzufriedenheit mit dem Status quo pointiert zusammen:
"On the grand stage in L.A., at the event that I've heard called the "Super Bowl of Video Games", the world's biggest video game publishers made clear at whom they would direct hundreds of millions of dollars of investment: Bloodthirsty, sex-starved teen males who'll high-five at a headshot and a free T-shirt."
Auch die Entwicklerlegende Warren Spector äußerte ähnliche Kritik.
Die Frage, ob diese Gewaltdarstellung als reiner effekthascherischer Selbstzweck die Spiele abseits ihrer PR-trächtigen Schockwerte irgendwie besser macht, wird von den eifrigsten Verteidigern geflissentlich ignoriert - einen Gefallen, so viel sei nebenbei angemerkt, tut sich die Industrie bei ihrem ohnedies fragwürdigen Ruf damit aber wohl nicht.
Fat, ugly or slutty
Doch es geht nicht nur um die liebgewonnene Ultraviolence, die verteidigt werden muss: In ein anderes, aber verwandtes Wespennest stach in den letzten Wochen die US-Videobloggerin Anita Sarkeesian, die per Kickstarter zur Finanzierung ihrer Videoserie zum Thema Sexismus in Videospielen aufgerufen hatte. Angriff ist die beste Verteidigung: Auch hier entlud sich der Zorn der sich sofort angegriffen fühlenden Gamer-Gemeinde - oder besser gesagt: eines wohl speziell beschränkten, aber traurigerweise zahlreichen Teils derselben - in sexistischen Kommentaren, Wikipedia-Vandalenakten bis hin zu Mord- und Vergewaltigungsdrohungen.
Das Gute ist, dass der überwiegende Großteil der Gamer diesem Morast nicht angehört, in dem Splatter, Misogynie und Homophobie als tolerierte kulturelle Werte missverstanden und verteidigt werden.
Anita Sarkeesians Projekt wurde auf Kickstarter nicht zuletzt von ihnen weit über seine Ziele hinaus finanziell unterstützt, und auch auf dem Schlachtfeld der Kommentarseiten raffen sich mehr und mehr Menschen dazu auf, den Trollen Paroli zu bieten. Es gibt sie, die Spieler, die einwirklich erwachsenes Medium wollen, und es gibt zunehmend auch die Spiele, die mit ihren Themen, und auch mit Gewalt und Sex, erwachsen umgehen - das neue Tomb Raider und Last of Us könnten trotz allem solche Spiele sein. Es gibt Frauen, die spielen, und es gibt ältere Spieler, die nicht mit dem pubertär grölenden Games-Hooligans in einen Topf geworfen werden wollen. Kurz: Die hässliche Seite des Gamings ist vielleicht lauter und (noch) selbstbewusster, aber dieses Selbstbewusstsein wird zunehmend, auch durch die jüngsten Diskussionen, in Frage gestellt.
Wer etwas verbessern will, muss demnach Position beziehen und mitreden. Am bislang schweigenden Großteil der Spieler, die mit dem pubertären Internet-Mob nichts zu tun haben wollen, liegt es nun, ihr Medium mehr als zuvor nach außen zu vertreten - und zwar in Opposition zu jenen, die sich ansonsten auf die erwähnte Art und Weise zu seiner "Verteidigung" berufen fühlen. Denn Games sind tatsächlich zu mehr fähig - und Gewaltpornografie und Sexismus sind es wohl nicht wirklich wert, in Games verteidigt zu werden.
Dieser Text erschien ursprünglich auf fm4.orf.at.