Spiel des Monats/Was man spielen soll: Sunless Sea
Verbringen wir zu viel Zeit auf dem bedrohlichen Ozean oder erleben wir besonders Schreckliches, treibt uns die wachsende Angst bald in den Wahnsinn - und wer auf Proviant oder ausreichend Treibstoff vergisst, muss im schlimmsten Fall seine eigene Crew anknabbern. Der Slogan "Lose your mind. Eat your crew" ist hier also durchaus wörtlich zu nehmen.
Dass man alles von dieser Welt auf einmal zu sehen und zu lesen bekommt, ist übrigens unwahrscheinlich: Wenn wir im Kampf gegen Seemonster unterliegen, heißt es in Roguelike-Manier zurück zum Start. Im besten Fall werden die Landkarte der erforschten Gebiete und Ausrüstungsgegenstände unseres verstorbenen Kapitäns aber an seine Erben weitergegeben. Weil die unterirdische Welt nicht statisch ist, sondern ganz am Anfang des Spiels per Zufall generiert wird, bleibt das Erforschen eine herausfordernde Aufgabe. Wer's gerne vorsichtiger mag, kann aber auch jederzeit in den weniger unbarmherzigen "Manual Save"-Mode wechseln - der Schrecken der Unterzee ist damit zumindest ein wenig gebändigt.
Wie:
Sunless Sea ist mit Liebe gestaltet, optisch und akustisch höchst gelungen. Zugleich ist es ein überaus literarisches Spiel, das geschickt das Gameplay mit einer Vielzahl von kleinen und größeren Geschichten verbindet, die sich hauptsächlich in den Hafenstädten entfalten. Unzählige kleinere und größere Fäden verschiedenster Handlungsstränge warten nur darauf, von uns bis zu ihrem Ende verfolgt zu werden; das Sammeln der zum Aktivieren dieser "Storylets" nötigen Gegenstände oder Voraussetzungen ergibt insgesamt unser ganz persönliches Abenteuer. Eine Viertelmillion Wörter gibt es insgesamt zu lesen, und die Lust, mit der die Autoren hier wieder und wieder Staunen und Faszination beim Leser wecken, ist nicht nur für ein Computerspiel bemerkenswert. Die Welt des Browser-Unikats Fallen London, in dem auch Sunless Sea angesiedelt ist, ist nun mal ein reicher Fundus für schräge Ideen und außergewöhnliche Storys.
Sunless Sea lebt von seinem Setting und der Atmosphäre, die dabei zwischen heiterem Jules Verne und augenzwinkerndem HP Lovecraft oszilliert - richtiger Horror erwartet die Spieler nicht, aber dafür eine beeindruckende Fülle an frischen Ideen und absurden Miniaturen. Denn das Leben ist hart als Kapitän auf den Wogen der "Unterzee", und die Angst, aber auch das Staunen sind unsere ständigen Begleiter, wenn wir mit unserem wackeligen Kahn zwischen den verstreuten Kolonien und Städten dieser Höhlenwelt hin und her schippern.
Warum:
Wie viele faszinierende Spiele hat Sunless Sea uns etwas zu lehren. Die Unbarmherzigkeit der Unterzee, die unsere Kapitäne immer wieder ins nasse Grab zu raffen droht, vermittelt in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber unseren Helden, gegenüber uns als Spieler, eine durchaus aus anderen Beschreibungen der See bekannte tödliche Faszination. Der Angst, die wegen der Gefahr auf allen Meeren, nicht nur den dunklen, ständiger Begleiter aller Seefahrer aller Zeiten und Meere sein muss, sie lässt sich durch Routine in Schach halten, durch Sorgfalt, Vorausplanung und Vorsicht. So gesehen ist Sunless Sea eine Übung in Achtsamkeit: Wer die Gefahr der Zee unterschätzt, leichtfertig aufbricht und mit dem Leben seiner Crew spielt, hat die Konsequenzen zu tragen.
Zugleich belohnt uns auch die raue See unter der Erde mit dem, was Millionen Menschen im Lauf der Zeit dazu gebracht hat, sich diesen Gefahren immer und immer wieder auszusetzen: Mit der Befriedigung, eine gefährliche Aufgabe durch Vorsicht und Klugheit zu meistern; und mit den Wundern der Entdeckung, die uns die Aufdeckung der anfangs noch schwarzen Seekarte gewährt. Inseln aus riesigen Pilzen, Sphinxen aus Salz, Kolonien untoter "Gruftkolonisten", die nicht den Tod, aber dafür Schimmel fürchten, Zivilisationen von intelligenten Nagetieren und unzählige weitere Wunder üben einen mächtigen Sog auf uns aus und ziehen uns wieder und wieder auf die gefährliche See. Mit einfachen spielmechanischen Mitteln und einer umwerfenden Portion an Fantasie und Originalität in seiner Erzählung lässt Sunless Sea die Faszination und den Schrecken des Entdeckens aufleben.
Obwohl:
So groß und gewaltig die Unterzee auch sein mag - irgendwann wird jeder Entdecker doch auch trotz zufallsgenerierter Verteilung bei Spielbeginn immer wieder anstatt auf Neues auf Bekanntes treffen - auch wenn das erst nach vielen, vielen Spielstunden der Fall sein wird und laufend neue "Stories", jene narrativen Schnitzeljagden, die den narrativen Flickenteppich der Erzählung ergeben, nachgereicht werden. Dass sich Permadeath und Narratives nicht reibungsfrei vertragen, wird auch am Dilemma ersichtlich, dass man als neuer Spieler die Story-Schnipsel wieder von vorn zu sehen bekommt. Auch Ungeduldige seien gewarnt: Sunless Sea verlangt Geduld und den Willen, auch Routine und sogar so etwas wie Arbeitsalltag einkehren zu lassen - wer sich bessere Ausrüstung oder gar schnellere Schiffe kaufen will, muss einiges an Zeit und Seefahrten investieren, um das nötige Kleingeld zu haben.
Auch eine Detailkritik am User Interface muss erwähnt werden: Dass bei einem Spiel, das zu derart bedeutenden Teilen aus Lektüre besteht, der Text gerade bei höheren Auflösungen nur winzig klein in einem mickrigen Kästchen am rechten unteren Bildschirmrand zu sehen ist, ist eine Designentscheidung, die die Götter der Unterzee entweder mit Grimm bestrafen oder aber bald per Patch beheben mögen.
Nachbarschaft
Mit Ausnahme seines kleinen älteren Bruders Fallen London lässt sich Sunless Sea in seiner Narration kaum mit anderen Spielen vergleichen. Mechanisch wandern Spieler auf den Spuren der Klassiker einerseits - Pirates! lässt grüßen -, erinnert mit seiner Zufallsgenerierung und seiner Fähigkeit, immer neue, persönliche Geschichten zu generieren auch an moderne Roguelike-likes wie FTL, ohne aber deren spielmechanische Raffinesse zu erreichen.
Soll man?
Sunless Sea ist nicht ohne Grund unser zweites Spiel des Monats. Mit anderen Worten: Auf jeden Fall.