The SPIEL/FILM Letters #3
In der Serie SPIEL/FILM werfen Kollege Ciprian David (negativ-film.de) und ich einen gemeinsamen Blick auf zwei Medien und ihre Verwandtschaft. In unserem Briefwechsel werden wir uns dieser speziellen Beziehung zwischen visuellem Erzählen und interaktivem Zeigen widmen.
Lieber Rainer,
heute hab ich in einer kleinen Mail die Vermutung geäußert, du magst mich mit The Stanley Parable irgendwie entschädigen. Nun lese ich es in deinem Brief! Aber wofür? Das hier interessiert uns beide gleichermaßen und ich wüsste nicht, was ich Dir im Gegenzug schenken könnte.
Wir haben jetzt den Anfang unserer Reihe gut hinter uns gebracht und ich bin leicht überwältigt von der Bandbreite an Themen, die wir angesprochen haben. Im Mittelpunkt steht gerade das Erzählen, in verschiedenen Variationen. Ich werde nicht deine thematische Reihenfolge bedienen, sondern der eigenen Assoziationskette nachgehen. Darum fange ich bei deiner Aussage an, dass das Erzählen in Games anders sei als im Film, wegen der vielen Mechanismen, die einem Erzähler im Spiel zur Verfügung stehen.
Erzählung als medienimmanentes Konstrukt: Bewegung vs. Interaktion
Wie findest Du es, wenn ich es grob, um einige Grenzen zu ziehen, aus der Perspektive des Nutzers so formuliere: Erzählen hat ebensowenig mit Film wie mit Spiel zu tun und ist stattdessen eine gesellschaftlich omnipräsente Praxis? Medienspezifische Aspekte, die dem Erzählen am nächsten kommen, sind für mich im Film die Bewegung (in einem raumzeitlichen Rahmen) und im Spiel die Interaktion (als Reagieren auf raumzeitlich dynamische Reize). Alles andere ist gemeinsames Gut, dass sich Spiele und Filme mit Literatur, Musik, Fotografie, Malerei oder Theater teilen. Erzählen aber ist immer notwendig, denn der Mensch tendiert dazu, die Umgebung um sich herum als eine Narration wahrzunehmen, um sie sich zu erklären.
Ich möchte hiermit die zwei Medien nicht bis zum Gehtnichtmehr reduzieren, sondern versuche ihre Essenz aufzufangen, um von da aus weiter denken zu können. Wenn ich mich also in diesem Koordinatensystem bewege, muss ich als Erstes feststellen, dass die Erzählung zwischen Spiel und Film natürlich sehr unterschiedlich ausfällt. Dass, wie Du schreibst, jedes Medium mit seinen Mitteln eine Erzählung konstruiert. Ich denke aber, dass ich nicht die Tatsache aus den Augen verlieren darf, dass die Erzählformen in Spiel und Film mit der Natur des jeweiligen Mediums stark zusammenhängen. Im Film ist die Erzählung immer die einer Bewegung. Die Fragen, die ihr gestellt werden sollen, sind die nach der Art, wie diese Bewegung gezeigt (Kameraperspektive) und unterbrochen (Schnitt) wird. Im Spiel hingegen ist die Erzählung eine der Interaktion, darum würde ich sie sehr unter Berücksichtigung des Spielers denken, und zwar hinterfragt auf Transfer (Übersetzung zwischen dem Spiel und dem Spieler, vom Display bis hin zum Controller) und auf Modifikation (Veränderung, die die Interaktion mit sich bringt).
Da solche Gedankenabenteuer für mich im Bereich der Games neu sind, muss ich kurz austarieren, was die zwei Begriffe, Transfer und Modifikation, für mich bedeuten. Ich denke, dass Spiele viel mehr auf den Spieler angewiesen sind als Filme auf den Zuschauer. Hier eröffne ich bewusst keinen Diskussionsraum um die Autorentheorie vs. Poststrukturalismus (das können wir aber gerne noch machen), sondern nehme einfach an, dass ein Spiel ohne den Input des Spielers nicht läuft, ein Film ohne Zuschauer hingegen schon. Darum erscheint es mir essenziell, von diesem Input zu schreiben, also von der Übersetzung zwischen der Interaktion des Spielers mit dem Spiel und der Interaktion seines Avatars innerhalb des Spiels. Der Übersetzungsweg ist heutzutage, dank Move, Wii, Kinect, Voice Control und diversen anderen peripherischen Geräten, wie Waffen, Schläger, etc. erheblich kürzer. Er bestimmt aber immer noch, wie die Kameraperspektive im Film, die Beziehung des Spielers zum Spiel und seine Einstellung zu ihm. Die Modifikation wiederum bezeichnet das Spiel als ein Medium der Veränderung durch den Input des Spielers und sein Wesen als die Summe dieser vom Spieler herbeigeführten Veränderungen.
Im Film geht es, wie im Spiel, immer weniger um Aufnahme und immer mehr um Konstruktion.
Notwendig ist an dieser Stelle zu erkennen, dass ich mich in diesen Überlegungen auf die Anfänge der zwei Medien beziehe. Denn wie sich der Film in seiner konstanten Neupositionierung in der Geschichte durch Verfahren wie beispielsweise Cinerama, 3D, Motion Capture oder CGI neu definierte, entwickelte sich auch das Spiel hin zu einer optisch immer weniger abstrakten, intuitiven Form. Die Produktionswege der zwei Medien überschneiden sich geschichtlich immer mehr, denn im Film geht es, wie im Spiel, immer weniger um Aufnahme und immer mehr um Konstruktion. Diesen Aspekt müssen wir festhalten, wenn wir über Konvergenz sprechen - vielleicht machen wir ihn zum Thema eines späteren Briefs.
Film und die Krise der Erzählung
Neben dieser medienimmanenten Form der Erzählung sehe ich in den Aspekten, die Du thematisierst (Erzählstrategien und Mittel), eine zweite Ebene. Die würde ich als Beziehung des Mediums zum Erzählen bezeichnen, denn meiner Meinung funktionieren Film und Spiel in dieser Beziehung sehr ähnlich: Sie erzählen Geschichten durch den mehr oder weniger effizienten Einsatz der technischen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen. Da sich diese Mittel teilweise unterscheiden, fallen die Erzählstrategien der zwei Medien unterschiedlich aus. Und doch haben sie einiges gemeinsam, denn sie operieren beide mit Bild und Ton. Was ich aber auf dieser Ebene bedeutender finde, ist, dass die Art wie die Geschichten vom Film und vom Spiel erzählt werden, vieles über die Eigenschaften des Mediums aussagen. Sie zeugen von seinen technischen und historischen Limitationen (in diesem Kontext spekulierte ich auch, dass, als Spiele noch nicht gut erzählen konnten, der New Game Journalism nötig war, um die Lust an Geschichten zu stillen), aber sie machen auch auf ihre Natur aufmerksam.
Durch Diversifizierung, Spezialisierung und die implizite Frakturierung der Welt werden auch die Geschichten immer zersplitterter und sprunghafter.
Ich versuche, diesen zweiten Aspekt für den Film auszuformulieren: Die Story befindet sich seit sehr langer Zeit in einer Krise. Diese entstand vor allem auf gesellschaftlicher Ebene, denn durch die zunehmende Diversifizierung, Spezialisierung und die implizite Frakturierung der Welt werden auch die Geschichten, die in ihr entstehen können, immer zersplitterter und sprunghafter. Im Film wird das seit längerem narrativ durch das Episodische, durch Zeitsprünge, durch verwobene Handlungsstränge, stilistisch durch die bereits von uns angesprochene Orientierungslosigkeit auf visueller Ebene und konzeptuell durch die zunehmenden mehrteiligen Franchises reflektiert.
Der Film ist ein Medium, das in seinem klassischen Verständnis Aufnahmen von Bewegungen aufnimmt, also Aufnahmen von zeiträumlichen Teilen der Wirklichkeit. Wenn er aber diese Wirklichkeit nicht mehr so darstellt, dass sich eine lineare, epische Geschichte formt, dann weist das auf die Tatsache hin, dass diese Geschichte in der abgebildeten Epoche oder mit dem Blick dieser Epoche nicht mehr möglich ist. Der Episodenfilm beispielsweise zeigt viele parallel laufenden Geschichten, die nur in systemischen oder utopischen Kontexten eine Einheit bilden; die Zeitsprünge und die verwobenen Handlungsstränge entlarven die Idee einer linearen Geschichte als utopisch; die schnellen Schnitte zeigen, dass die Welt sich zu schnell bewegt, als dass sie noch in Realzeit aufgenommen und als Geschichte verstanden werden kann.
Auswege aus der Krise?
Parallel aber zu dieser Krise der Story im Film entwickelten sich zwei andere Plattformen, die unseren Traum der larger-than-life-Story zu befriedigen versuchen. Eine davon wollten wir in unserer Reihe nicht direkt thematisieren, daher sei sie nur erwähnt als der neue Ort, an welchem die Utopie der Geschichte entstehen kann: Quality-TV.
Der andere ist meiner Meinung nach das Game, denn die Games trugen, kulturell gesehen, von Anfang an zu einer Restauration der Geschichte bei, indem sie die Kontinuität wiedereinführten, auf der Ebene der Perspektive. Anstatt Schnitten zwischen Handlungssträngen, anstatt Zeitsprüngen, war man erst einmal an den Avatar gefesselt und erlebte an dessen Seite eine schön lineare Story. Diese Story wurde zwar durch Interaktion ermöglicht und ich muss schmunzelnd mit einem Begriff aus den Neunzigern kommen, in DIY-Form – jeder Spieler schmiedet seine eigene Story. Das fördert natürlich die Individualität (besonders bei Open-World Spielen) und rettet auf Makroebene nichts im Kontext der Storykrise. Denn die Stories haften immer an dem einzelnen Spieler, die gehören nicht allen. Aber dennoch wurden Games somit zum neuen Ort der Story-Utopie, zum Medium, an welchem Geschichten vielleicht doch möglich sind.
Mit dem Erwachsenwerden des Videospiels änderte sich das. Die Narration wurde zunehmend komplexer, zersplitterter, „natürlicher“ - wobei ich das wiederum in Referenz auf Film als Leitmedium verstehe – ein Abbild der Wirklichkeit eben. Vermutlich lässt sich diese Kontinuität nach wie vor in MMORPGS erleben, und vermutlich erlebt sie, seit der Retrowelle, auch so etwas wie eine Adrenalinspritze, aber auf Dauer muss etwas anderes her.
Und an der Stelle würde ich wiederum auf die Konvergenz hinweisen, die in ihrer allumarmenden Geste so etwas wie eine Utopie der Kontinuität, der Geschichte wiederherstellt. Aus Storyperspektive ereignet sich die Konvergenz ohnehin seit längerem, in Form von Crossmedialität (Star Wars, diverse Superhelden-Universen, Matrix, etc.), aber auf Ebene der medienimmanenten Dispositive ist sie erst seit wenigen Jahren dabei. Das sind für uns sehr spannende Zeiten.
Wie Du siehst, bin ich weit davon entfernt, konkrete Wünsche in Bezug auf einen Transfer zwischen Film und Videospiel zu äußern. Man könnte sagen, ich befinde mich noch arg in der Definitionsphase. Darum war es mir wichtig, mein Verständnis der medienimmanenten Erzählung von Spiel und Film darzulegen, diese von der Beziehung zwischen einem Medium und einer Erzählung abzugrenzen, und die Erzählkrise des Films darzulegen, um davon ausgehend darauf hinweisen zu können, dass Spiele ein Ort der Erzählutopie sind (oder waren) und dass die crossmediale Erzählung die ultimative zurzeit bekannte Erzählform sein könnte.
Ich denke ich sollte hier aufhören und auf Deine Antwort warten, beziehungsweise auf einen Common Ground in Sachen Story, bevor wir über spezifische Erzählstrategien der jeweiligen Medien, über den Einfluss der Produktionsbedingungen auf ihre Konvergenz, über Zack Snyder, Steven Spielberg und weitere, noch detailliertere Aspekte schreiben. Über Sucker Punch zu schreiben, würde ich mich sehr freuen, wenn wir soweit sind.
Liebe Grüße,
Ciprian