Unabhängigkeitserklärungsbedarf

320Indie oder nicht? - Journey

Der folgende Text erschien ursprünglich am 9.6.2012 für Telepolis und wird hier als Zusammenfassung einiger aufmerksamen VT-Lesern bekannt vorkommenden Gedankengänge im Sinne der Vollständigkeit nochmals veröffentlicht.

Vor wenigen Jahren war das Leben noch einfach: Es gab die großen Games-Publisher wie Sony oder Electronic Arts, die die "Kreativen", die Entwicklerstudios, aufkauften und mit ihren Multimillionen-Budgets den Mainstreammarkt mit immer größer und zugleich stromlinienförmiger werdenden Blockbustern belieferten. Und abseits davon, in einer verschworenen Gemeinschaft, blühte die kreative, enthusiastische Subkultur all jener, die unabhängig von diesem Big Business mit viel Liebe und Idealismus ihre Spiele quasi aus dem Schlafzimmer heraus per Internetvertrieb an ihre Spieler brachten: die Independents, von Publishern unabhängig und deswegen frei, ihren eigenen Vorstellungen von dem, was das Medium zu leisten imstande wäre, nachzugehen.

Spätestens seit dem Millionenerfolg von Minecraft, das seinen Entwickler Markus "Notch" Persson beinahe über Nacht zum Millionär gemacht hat, ist jedoch auch auf dem Indie-Games-Sektor einiges anders geworden. Während der Begriff in den letzten Jahren hauptsächlich für nicht-kommerzielle, oft experimentelle oder auch mit Retro-Ästhetik spielende kleine (Download-)Titel stand, ist "Indie" 2012 eine Schublade für alles geworden, was sich abseits der Blockbuster mit ihren immer höher werdenden Titelnummerierungen in Nischen auch auf dem Markt behaupten kann und dabei mit unkonventionellen Bezahlmethoden und starker Fan-Bindung arbeitet. Und seit der Software-Riese Electronic Arts, per Definition der Gottseibeiuns der Unabhängigen, Anfang Mai unter dem Titel "EA Indie Bundle" den Erfolg des Spiele-Bündelkaufs zum freundlichen Preis für seine eigenen Zwecke entdeckt hat, steckt der Indie-Begriff in einer handfesten Sinnkrise, die aktuell zahlreiche Diskussionen auslöst: Indie, was ist das?

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Übervolle Schublade

Eines zumindest ist sicher: Indie ist populär wie nie. Alleine der Erfolg von Download-Marktplätzen wie Apples AppStore oder GoogleMarket bringt nie zuvor erreichte Massen von Indie-Spielen an ein wachsendes Publikum, alternative Finanzierungsmethoden wie Crowdfunding oder Pay-what-you-want-Modelle à la "Humble Indie Bundle" haben einen lebendigen Markt abseits des alten Publishermodells entstehen lassen. Sogar im Kino ist die junge Subkultur angekommen: Die US-Doku Indie Game - The Movie, zu Beginn des Jahres in den USA angelaufen und derzeit leider noch ohne Starttermin in Europa, wirft einen liebevollen Blick auf die heimlichen Superstars der Indie-Szene. Mit der Ende April in Berlin abgehaltenen A MAZE IndieConnect etablierte sich dieses Jahr erstmals auch ein europäischer Treffpunkt für die globale Indie-Szene, der zu einer europäischen Alternative zu den amerikanischen Großevents Independent Games Festival (IGF) und Indiecade werden soll.

Trotz - oder vielleicht auch wegen - dieser Erfolge scheint die ursprüngliche Definition des Independent-Begriffs ihre Relevanz verloren zu haben: Independent, also unabhängig vom Publisher, das sind im weitesten Sinne auch große Einzelstudios wie Valve oder "Farmville"-Macher Zynga. Auch über die Beschaffenheit der Spiele oder ein wie auch immer geartetes "Underground"-Ethos selbst sagt der zunehmend populär werdende Begriff eigentlich nichts mehr aus: Ist der zwölfte uninspirierte Bejeweled- und Minecraft-Klon im AppStore tatsächlich mit Ausnahme-Einzelkämpferprojekten wie Dwarf Fortress oder experimentellen Games wie Dear Esther in denselben Topf zu werfen? Darf man im Gegenzug thatgamecompanys eigentlich in allen Kriterien dem strengen Indie-Ethos entsprechendes Journey nur deshalb kein Indie-Game nennen, weil Macher Jenova Chen bei Sony unter Vertrag steht?

Letztlich ist es das in jeder Konsumkultur unweigerlich ablaufende, uralte Spiel der Abgrenzung einer Subkultur vom Mainstream und deren darauffolgende Aufweichung und Übernahme, die sich nun auch im jungen Massenmedium Games abspielt: Die Unzufriedenheit mit dem Massenmarkt lässt neue Nischen entstehen, die bei Erfolg in den Mainstream wandern und so wiederum neue Gegenbewegungen auslösen. "Kommerzialisierung", das schlimme Wort jedes Undergrounds, ist so betrachtet letztlich nur ein Beweis für die Vitalität der neuen Konzepte.

Aufbruch in die Vielfalt

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Dass dieser Ausverkauf zu verminderter Kreativität dieses Untergrunds führen wird, ist zum Glück nicht zu befürchten: Die US-Amerikanerin Anna Anthropy, selbst Independent-Games-Macherin, sieht in ihrem jüngst veröffentlichten Buch Rise of the Videogame Zinesters einen bedeutsamen Punkt in der dynamischen Entwicklung des am schnellsten wachsenden Mediums des 21. Jahrhunderts erreicht: Durch neue, einfache Tools sei es inzwischen auch technischen Laien möglich, ihre eigenen Spielkonzepte und Ideen zu verwirklichen und per Internet an ein größeres Publikum zu bringen.

Für Anthropy stehen Games - und als Avantgarde unweigerlich das, was mit dem problematisch gewordenen Begriff Indie-Games einmal gemeint war - genau jetzt an der Schwelle zu einer zuvor nie erreichten Tiefe ganz abseits der marktschreierischen Befriedigung des seichten Massengeschmacks: Während es, so Anthropy, bislang wegen der technischen und finanziellen Einstiegshürden  hauptsächlich weiße, technisch versierte junge westliche Männer gewesen seien, die als Spielemacher unter dem Erfolgsdruck riesiger Produktionsbudgets ihre Ideen in das Medium einbringen konnten, stünde die Welt des Spielens nun auch bislang atypischen Kreativen und somit neuen Ideen offen. Spiele, so Anthropys optimistisches Fazit, werden unweigerlich früher oder später in ihren Themen und Konzepten ebenso abwechslungsreich und erwachsen werden wie ihr Publikum. Der kreative Games-Underground wird daran federführend beteiligt sein - ganz egal unter welchem Label.

Für die Spieler selbst, und das ist trotz der Sinnkrise des Indie-Sektors beruhigend, bleiben all diese Definitionskrisen zum Glück letztlich belanglos. Denn in der Praxis werden die wenigsten Spieler so streng zwischen den Schubladen trennen und sich etwa neben Mainstream-Größen wie Diablo III auch selbstverständlich an Indie-Games wie Tiny Wings oder Minecraft erfreuen oder etwa im Hochglanztitel Arma II per unabhängig entwickelter Day Z-Mod auf Zombiejagd gehen - die strenge Trennung der Bereiche existiert nur auf dem Papier. Hierin unterscheiden sich Spiele nicht von anderen, arrivierteren Medien: Der Mainstream braucht den Underground - und umgekehrt.

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