Unfreiwillig tapfer

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Passend zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges ist neben unzähligen Dossiers, Dokus und Diskussionen in Zeitungen, Magazinen und TV auch ein Videospiel erschienen - noch dazu im großen Stil, entwickelt und vertrieben vom Branchenriesen Ubisoft. Valiant Hearts schafft die schwierige Balance zwischen einem emotional einnehmenden Serious Game und den interaktiven und visuellen Notwendigkeiten eines Videospielblockbusters.

Gedenkfeiern und öffentliche Aufmerksamkeit aufgrund eines runden Jahrestages einer Person, Sache oder Begebenheit können für Journalisten und Historiker langweilige Pflichtübungen sein. Gerade in den Bereichen Kultur oder Wissenschaft sind ab einem gewissen Punkt hier kaum noch bahnbrechende neue Betrachtungen und Erkenntnisse möglich. Historisch ist es wohl interessant, wie etwa der 200. Geburtstag von Mozart 1956 anders rezipiert wurde als der 250., nach der Jahrtausendwende. Doch so richtig aus den Vollen schöpfen lässt sich hier in beiden Fällen nicht mehr. Ein Jahrestag ist umso relevanter, je einschneidender die Person, Sache oder Begebenheit war, wie lange sie her ist und wie sehr sie uns gegenwärtig - vor allem politisch - prägt. Der Erste Weltkrieg qualifiziert sich hierfür in einer außerordentlichen Art und Weise. Durch die rasche Industrialisierung nach der Jahrhundertwende und den immensen rüstungswissenschaftlichen Fortschritt hatte ein Krieg in dieser technischen Raffinesse (und damit einhergehend in so einer Schrecklichkeit) davor noch nicht stattgefunden. Vor allem sind Verlauf und Ausgang des Ersten Weltkrieges die Basis der Ländergrenzen und Staatsgefüge des heutigen Europas.

Die Darstellung von Krieg allgemein ist bekanntermaßen ein heikles Thema in Computerspielen. Sie ist der Kern für die seit Anbeginn des Mediums stattfindende "Gewaltdebatte". Games und ihre Entwickler lieben Krieg, weil er Konflikte, Probleme und Aufgaben impliziert. Konflikte, Probleme und Aufgaben, die es zu überwinden, zu lösen gilt - egal, ob wir den Krieg nur spielen oder er grausame Wirklichkeit ist. Strategisches Vorgehen, ressourcenschonende Entwicklung und effiziente Handlungen: Die Maximen des Krieges sind dem Meistern eines Spieles tatsächlich sehr ähnlich. Kein Wunder also, dass schon seit den 1970er-Jahren virtuell auf unzählige Aliens, Soldaten und Pixelbomber geschossen wird und der mit Waffen ausgetragene Konflikt ein wesentlicher Bestandteil sehr vieler digitaler Spiele ist. Die Gattungen des Computerstrategiespiels sowie des in den frühen 1990ern aus der Taufe gehobenen First-Person-Shooters haben digitale Kriegsspiele gesellschaftlich durchdringend und allgegenwärtig gemacht. Die seit 2010 laufende Serie Call of Duty: Black Ops etwa hat sich insgesamt weit über 50 Millionen mal verkauft und stellt damit eine inhaltliche und narrative Blaupause für das dar, womit sich in der Games-Industrie Geld machen lässt: Interaktiver, digitaler Krieg, in dem man mitten drin ist und kämpft.

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Das bei weitem am meisten hergenommene Setting in Kriegscomputerspielen ist mit hohem Abstand der Zweite Weltkrieg: Er ist in technischem Aufgebot und menschlicher Grausamkeit quasi nicht zu überbieten und bildet eine klare Freund-Feind-Aufteilung: dort die bösen (aber auch faszinierenden) Nazimonster, hier die tapferen Alliierten, die dem Schrecken irgendwann doch noch ein Ende machten. Im Ersten Weltkrieg ist die Sache hingegen nicht so einfach, und doch ist sein Ausgang 1918 der eigentliche Beginn des Zweiten, der Ursprung zerrütteter nationaler Identitäten, wackeliger junger Republiken und aggressiver, antidemokratischer Kriegstreiber, die das Gegenteil eines politisch gemäßigten, stabilen Europas suchen. Dennoch ist der Erste Weltkrieg als Schauplatz für ein Computerspiel offenbar weit weniger gut geeignet - vor allem wohl deshalb, weil sein Ursprung, sein Wesen und Verlauf im Gedächtnis der Menschen im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg kaum verankert sind. Der Umstand des 100. Jahrestages des Ausbruchs des sogenannten "Großen Krieges" hilft natürlich, die Einstiegshürde leichter zu meistern, weil die Menschen schon seit einigen Monaten medial mit diesem Thema konfrontiert sind. Aber trotzdem ist es alles andere als eine einfache Vorlage für ein Spiel - vor allem, wenn man sich, wie das Team von Ubisoft Montpellier, dazu entscheidet, kein Kriegsspiel, sondern ein Spiel über den Krieg zu machen, ein Serious Game mit ernstem, traumatischen Unterton, das am Markt gegen dutzende interaktive Spaßmacher antreten muss, die wöchentlich erscheinen.

Der Erste Weltkrieg ist der Ursprung zerrütteter nationaler Identitäten, wackeliger junger Republiken und aggressiver, antidemokratischer Kriegstreiber.

Die erste markante, sofort ins Auge fallende Designentscheidung von Valiant Hearts ist eine visuelle: Das Spiel ist in einem eigenständigen, "erwachsenen" Comicstil gehalten, seine Welt ist zweidimensional dargestellt. Das hilft wesentlich dabei, das Game von der üblicher Kriegsästhetik zu abstrahieren und eine Geschichte zu erzählen, die in einem historisch faktischen Krieg stattfindet, aber in sich fiktiv ist. Es erlaubt einen erzählerischen Neustart, zeigt Bilder und Charaktere, denen keine Vorurteile anlasten, von denen man sich nicht persönlich entfremdet fühlt, etwa, weil sie alt und damit weit weg von einem selbst sind. Denn der Erste Weltkrieg, das ist etwas, das schon für unsere Eltern und Großeltern Geschichte war, etwas, das - subjektiv gesehen - längst passiert ist und über das man in Büchern liest. Wo von Nazis und Faschisten im Allgemeinen eine - zu Recht - immer wiederkehrende Gefahr ausgeht, derer sich die Demokratie stets wachsam stellen muss, liegen die vor 1930 stattgefundenen politischen Begebenheiten für viele vergleichsweise im Nebel. Auch war die audiovisuelle Dokumentation im Ersten Weltkrieg noch weit weniger ausgereift als im Zweiten. Das Material, mit dem sich so viele Fernsehdokus und (populär)wissenschaftliche Bücher über die Hitler-Diktatur füllen, ist beim Großen Krieg nur bruchstückhaft vorhanden. Doch das wiederum kommt dem Spiel entgegen, denn während wir mit unseren vier Protagonisten - drei Männer, eine Frau - durch Schützengräben, Lazarette und zerbombte Häuser marschieren, wird klar, dass der "alte" Weltkrieg nichts mit den vergilbten Fotos, überholten Bajonetten und langsamen Heißluftballons zu tun hat, die wir aus Büchern und Museen kennen. So naheliegend das ist, so sehr fällt beim Spielen von Valiant Hearts auf, dass unser Bezug zu diesem Krieg (noch?) ein ganz anderer ist als zu dem auf ihn folgenden.

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Die Geschichte, die uns mittels eines jungen, in Frankreich lebenden Pärchens erzählt wird, spielt in desaströsen Schlachten an den sich immer wieder verschiebenden Grenzen zwischen Frankreich, Belgien und dem ehemaligen Deutschen Reich. In Anbetracht der Tatsache, dass Ubisoft ein französischer Konzern ist, mit den Hauptniederlassungen in Frankreich und dem französischsprachigen Kanada, liegt dieser historische und narrative Fokus auf der Hand. Dieser Schwerpunkt tut Not - andernfalls wäre eine stringente, in einer vernünftigen Spieldauer erzählte Geschichte im Ersten Weltkrieg wohl unmöglich. Karl, Vater des neugeborenen Victor, wird nach Ausbruch des Krieges in sein Heimatland verwiesen und muss Frankreich und damit seine junge Familie verlassen. Emile, Vater von Karls Frau Marie, wiederum erhält den Einberufungsbefehl in die französische Armee. Ergänzt werden Emile und Karl vom US-Amerikaner Freddie, der in Frankreich der Fremdenlegion beitritt, und der jungen Belgierin Anna, die Medizin studiert und während des Krieges auf eigene Faust Leben von Freund und Feind rettet. Spielerisch sind sich alle vier Figuren sehr ähnlich: Im besten Sinne eines mit kleinen Geschicklichkeitseinlagen gespickten Adventure-Games erforschen sie die jeweiligen Schauplätze, um Gegenstände zu sammeln, zu benutzen und sie von Punkt A nach Punkt B zu bringen.

Valiant Hearts spielt in Schlachten an den Grenzen zwischen Frankreich, Belgien und dem ehemaligen Deutschen Reich.

Neben den grundlegenden Rätseln gibt es als Auflockerung zwischendurch kleine Denkspiele, etwa in Form von Röhren, die man richtig zusammenführen muss oder die bewährten "Wie komme ich dorthin"-Aufgaben, bei denen Schalter gedrückt, Plattformen bewegt und Tunnel gegraben werden. Dabei wird die gerade aktive Figur oft vom treuen Kriegshund Walt begleitet, der in vielen Fällen eine wichtige Unterstützung ist, weil er etwa Gegenstände durch kleine Durchgänge trägt, durch die die menschlichen Figuren nicht kommen, beim Gegner keinen Alarm auslöst oder vergrabene Schätze erschnüffelt. Diese haben oft nur indirekt mit dem eigentlichen Spiel zu tun, sind sie doch vielfach historische Objekte, die uns mittels ihrer Erklärung den traumatischen Alltag des Krieges erfahrbar machen lassen. Von selbstgebastelten Gasmasken über Briefe der Soldaten an ihre Familien bis hin zum Flachmann, dessen Inhalt die wochenlang im schlammigen Graben hockenden Soldaten nicht wahnsinnig werden ließ, gräbt Walt so manches aus. Wie die vier Figuren - entsprechend ihrer Herkunft - dem Hund anschließend in Französisch, Englisch und Deutsch Dank aussprechen, ihn tätscheln und ermutigen, ist charmant in das Spiel eingeflochten. In jeder neuen Szene gibt es nicht nur diese Kriegsgegenstände zu finden, die uns zusätzlich zum Spielgeschehen geschichtliche Hintergründe verraten. Darüber hinaus findet man kurz gehaltene Informationen zu einzelnen Schlachten, technischen Errungenschaften und andere Details über den Ersten Weltkrieg, die optional abrufbar sind. Um die Brücke zur fiktiven Geschichte zu schlagen, lassen die Game-Entwickler die spielbaren Charaktere - aber auch ihre Angehörigen - dann und wann in Tagebücher schreiben. Dort berichten sie von ihrer Not und manchmal auch von einem vereinzelten freudigen Ereignis.

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Es ist ein schmaler Grat, auf den sich Ubisoft nicht nur mit der Wahl des Themas Erster Weltkrieg, sondern auch mit der dazugehörigen Darstellung von "Gut" und "Böse" eingelassen hat. Spiele sind Abstraktionen der Wirklichkeit, Vereinfachungen, die ein klares System schaffen, in dem wiederum Vielfalt und Tiefe möglich sind. Doch wo die klare moralische Trennung von Nazis und Allierten im Zweiten Weltkrieg historisch und demokratisch-gesellschaftlich frei von Zweifeln ist, gestaltet sich diese Aufteilung im Großen Krieg komplexer. Durch die geschickte Bildung der Figuren, die ein Eintauchen in beide Kriegsparteien erlauben, wird das Stigmatisieren des Deutschen Reiches (Österreich-Ungarn wird im Spiel leider komplett ausgespart) verhindert.

Spiele sind Vereinfachungen, die ein klares System schaffen, in dem wiederum Vielfalt und Tiefe möglich sind.

Dennoch braucht es auch in einem Mainstream-Spiel, das zumindest zu einem Drittel auch Serious Game ist, mitunter eindeutig zuordenbare Feinde. So gibt es in Valiant Hearts Baron von Dorf, einen hohen Militär der Deutschen Truppen mit jeder Menge Auszeichnungen auf der Brust. Gleichzeitig ist er ein irrer Sadist mit Totenkopf auf der Mütze. Von Dorf wird als wiederkehrender Endboss eingesetzt und ist im Vergleich zum Rest des Spieles eine ungewöhnliche Zuspitzung, die anfangs etwas merkwürdig anmutet. Andererseits wird bald klar, dass er vor allem eine persönliche Agenda hat und sich im Vergleich zu den "normalen" deutschen Truppen und ihren Anführern unangenehm abhebt. Es ist zu vermuten, dass die Figur dem gnadenlosen Kriegsbefürworter Paul von Hindenburg nachempfunden wurde, der die Oberste Heeresleitung innehatte und sich von nichts und niemandem - auch nicht von Kaiser Karl - zu einem früheren Ende des Krieges bekehren hatte lassen. Von Hindenburg ist maßgeblich für die lange Dauer und den Ausgang des Ersten Weltkrieges verantwortlich, hat danach in einer Villa in Hannover als Ehrenbürger seinen Ruhestand genossen und später Hitler zum Reichskanzler gemacht. Immerhin wartet im Spiel für Baron von Dorf keine so von Konsequenzen freie Zukunft.

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Computerspiele bieten sehr oft eine starke Einwirkungsphase - einfach aufgrund der Tatsache, dass man sich lange mit ihnen beschäftigt. Bei Valiant Hearts kann man diese Einwirkungsphase nicht hoch genug schätzen. Das Spiel bietet neben solidem Gameplay, einem fantastischen Grafikstil und interessanten Charakteren einen zwar kleinen, aber markanten Einblick in das Wesen des Großen Krieges und das viele Leid, das mit ihm einherging. Selbst die in manchen Phasen eintretenden spielerischen Wiederholungen - wenn etwa diverse Mechaniken immer wieder zum Einsatz kommen - machen in Bezug auf das Setting Sinn. Ja, es hört nicht auf, der Krieg ist drei Jahre später immer noch am Laufen. Ja, es wird immer noch geschossen, wir müssen uns weiterhin vor Giftgas und Panzer verstecken und in jeder Minute um unser Leben kämpfen. Valiant Hearts und seinem Team ist ein großes Kompliment dafür auszusprechen, dass nicht der einfache Weg gegangen, sondern mit Mut und Zuversicht etwas Ungewöhnliches entwickelt wurde.

Hier ist mit viel Herzblut und guter Direktion ein Spiel geschaffen worden, das in vielerlei Hinsicht Vorbildungwirkung hat. Die Vermittlung "ernster" Themen im "unterhaltenden" Medium Computerspiel ist mit dem nötigen Willen und Talent zwar nicht einfach, aber selbstverständlich möglich. Interaktive Geschichten vom Krieg können auch ohne Pathos und Propaganda erzählt werden, die nicht Lust auf Headshots, sondern Lust auf Beschäftigung mit unser aller Geschichte machen.

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