Verrückt spielen: Lone Survivor

Der folgende Text ist ein Gastbeitrag von Agata Góralczyk.

“Oma, warst Du heute schon mal draußen?” “Nein”
“Warum nicht?”
“Deine Mutter hat meine Schuhe versteckt.”

Meine Großmutter litt an Schizophrenie, einer geistigen Erkrankung, die oft eine ganz eigene Logik mit sich brachte. Sie deutete die alltäglichsten Dinge anders: anders als ich, anders als meine Eltern oder mein Bruder. Lange dachte ich, sie würde wirklich was anderes sehen oder hören. So einfach war das aber nicht. Irgendwann wurde mir klar, dass sie die gleichen Phänomene wahrnahm, sie deutete sie nur anders. Diese andere Deutung überforderte sie im Alltag. Die oft von ihr als feindselig empfundene Umwelt wurde von anderen Menschen - von uns allen zu Hause - als unproblematisch erlebt. In ihren Sorgen und Nöten fühlte sie sich oft nicht verstanden, nicht ernst genommen, wurde manchmal sogar ausgelacht. Tagtäglich musste sie mit ständigen, harten Brüchen zwischen der von ihr gedeuteten und der durch die Außenwelt gespiegelten Welt leben. Wie konnte es denn sein, dass mir nicht klar war, dass jemand ihre Schuhe versteckt hatte, um sie am Verlassen des Hauses zu hindern? In der Unfähigkeit, ihre Umwelt so zu deuten wie der Rest von uns, oszillierte sie immer wieder zwischen dem Bedürfnis sich um sich selbst zu kümmern und der Herausforderung sich selbst nicht zu zerstören.

“Wenn es da draußen Überlebende gibt, muss ich sie finden. Ich will nicht alleine sterben.”

Lone Survivor erzählt - ganz feinfühlig mit den klassischen Elementen des Survival Horrors - von geistigen Erkrankungen: Einsamkeit, Trauma, Überleben und Verlust. In seinem sehr lesenswerten Artikel “Survivors”* zeigt Ed Smith, wie anders Lone Survivor mit dieser schwierigen Thematik umgeht. Das Leid des Einzelnen ist einmalig und weder vergleichbar noch quantifizierbar. Es lässt sich nicht mit einer Skala messen, so wie es Spiele gerne - z.B. mit einem “sanity meter” - landläufig tun. Eine solche Skala lässt sich in den meisten Spielen mit “positiven” Handlungen füllen und “negativen” wieder reduzieren. Dabei führt der immer gleiche Input zu dem immer gleichem Output. Anders gesagt: Eine bestimmte Handlung führt zu immer dem gleichen Ergebnis. Die Umarmung eines Freundes lässt die Skala geistiger Gesundheit steigen, aggressives Verhalten bewirkt das Gegenteil: immer. Eine Fantasie, die nicht weiter von der Realität des Leids sein könnte.

Lone Survivor geht einen anderen Weg. Während sich das Spiel an der Oberfläche und in der Mechanik mit dem Überleben in einer Horrorwelt beschäftigt, wird die psychische Erkrankung des Protagonisten in Bildern, Traumsequenzen, Dialogen oder Selbstgesprächen thematisiert. Allegorische Symbole repräsentieren den emotionalen Zustand des Charakters. Die Problematik des sozialen Miteinanders des Erkrankten wird durch absurde Dialoge und das grundlegende Nicht-Verstanden-Werden dargestellt. Lone Survivor widersetzt sich dem Gedanken, menschliches Leiden könne durch Zahlen oder Symbole summiert werden.

Lone Survivorbringt die psychische Erkrankung und ihre Folgen für das Erleben des Einzelnen durch audiovisuelle Elemente und die Narrative in den Vordergrund.

Jasper Byrne - der Autor von Lone Survivor - bringt die psychische Erkrankung und ihre Folgen für das Erleben des Einzelnen durch audiovisuelle Elemente und die Narrative in den Vordergrund. Er verzichtet in der Spielmechanik auf zu eindeutige und damit quantifizierbare Darstellungen von geistiger Gesundheit und Krankheit. Keine Skala, kein numerisches Feedback für den Spieler. In der Portierung für die PSVita wird sogar darauf hingewiesen, die Meldungen über erreichte Achievements (Trophäen) auszuschalten, um aus der Atmosphäre des Spiels nicht rausgerissen zu werden. Lone Survivor versteckt die Kausalitäten der mechanischen Elemente geschickt vor dem Spieler.

Dennoch sind sie da. Es gibt eindeutig sich auf die Psyche positiv wie negativ auswirkende Handlungen und das Spiel gibt zwar symbolische, aber dennoch deutliche Hinweise: warmes Essen tut gut, zu viel Aufputschmittel sind nicht gesund. Zum Abschluss liefert das Spiel einen Bericht über den geistigen Zustand des Protagonisten, inkl. einer Bewertung in Noten und der Faktoren, die zu dieser geführt haben. Es signalisiert: Mit genug Anstrengung kannst Du es schaffen. Das Ausmaß Deines Erfolges an der geistigen Gesundheit Deines Protagonisten und damit an dem Ausgang der Geschichte liegt in Deiner Hand. Bemüh Dich beim nächsten Mal ein bisschen mehr. So sehr Lone Survivor auf der audiovisuellen und narrativen Ebene mit Allegorien und Deutungen arbeitet, so klar werden spätestens am Schluss die Siegbedingungen auf mechanischer Ebene.

Genau auf dieser mechanischen Ebene aber liegt ein fundamentales Problem: Wenn ich durch die Spielmechanik die Erfahrung mache, dass eine psychische Erkrankung durch meine Handlungen und Anstrengungen besiegt werden kann, wenn dabei meine Leistung nicht nur maßgeblich ist, sondern auch noch benotet werden kann, dann wird durch diese Erfahrung ein Bild perpetuiert und gefestigt, wie es seit geraumer Zeit in der gesellschaftlichen Beurteilung psychisch Kranker immer und immer wieder wiederholt wird. Das Bild derer, die es mit etwas mehr Mühe schaffen könnten, die irgendwo auch selbst Schuld tragen an ihrem Zustand.

Im Mittelalter galten geistige Krankheiten als eine dämonische Besessenheit bzw. Strafe Gottes für die verübten Sünden. Wer so gesündigt hatte, dass Gott ihn mit einer solch klaren Strafe belegte, musste Buße tun und die Rituale der Sühne durchführen. Damit konnte der Sünder/Kranke auf ein Wunder und auf Gottes Segen, in dessen Händen die Heilung lag, hoffen. Die Schuld an der Erkrankung lag - zumindest zum Teil - beim Kranken selber. Gesundheit und Wohlergehen waren Zeichen göttlichen Segens und vorbildlicher Lebensführung.

Der Kranke wird als jemand gesehen, der es mit etwas mehr Mühe schaffen könnte, der irgendwo auch selbst Schuld trägt an seinem Zustand.

Auch wenn wir in unseren modernen Gesellschaften die Ursache einer Krankheit in einer anderen Kausalität als der göttlichen suchen, so fällt die Schuldzuschreibung auch heute relativ leicht: Der Kranke hat ungesund gelebt. Er hat sich falsch verhalten, falsch ernährt, nicht genug bewegt, geraucht, usw. Der Depressive könnte sich mal ein bisschen mehr anstrengen, mal rausgehen, mal seine Wohnung aufräumen. Die Krankheit ist die Folge seiner unbedachten Taten. Von diesem Vorwurf kann sich der Kranke heutzutage nicht mehr durch Wahlfahrten und Gebete rein waschen. Statt dem kirchlichen System des Mittelalters muss er sich heute dem der modernen Medizin fügen. Füllt der moderne Kranke seine Rolle angemessen aus, ordnet er sich medizinischen Maßnahmen unter, hat er Aussicht auf Erlösung. Berufliche Leistung, ein fröhliches Lächeln und tägliches Joggen signalisieren den Gewinner der heutigen Gesellschaft.

Natürlich entstammen diese Systeme der Schuldzuschreibung - damals wie heute - dem Wunsch nach Kontrolle. Krankheiten sind nicht kontrollierbar, der Großteil des Lebens an sich nicht. Die allzu menschliche Angst vor Kontrollverlust lässt uns immer wieder zu Reduktionen greifen. Alles was de facto von überfordernder und beängstigender Komplexität ist, wird auf “beherrschbare” Komponenten herunter reduziert. Niemand will die Angst vor dem Kranksein aushalten. Niemand will die damit einhergehende Hilflosigkeit, die Unentrinnbarkeit von Alter, Krankheit und Tod spüren.

Videospiele gelten als Hochburgen des Eskapismus. Mit klaren Regeln und kontrollierbaren Interaktionen lassen sie Spieler_innen alle paar Minuten Selbstwirksamkeit feiern, wie es im echten Leben niemals erlebbar ist. Wenn sie Krankheiten darstellen, dann sind diese innerhalb von Regelsystemen handhabbar, kontrollierbar. Das Videospiel erfüllt mir den Wunsch nach Unsterblichkeit. Wie dabei allerdings Betroffene vermehrt in Horrorspielen diskriminiert und stigmatisiert werden, zeigt nicht zuletzt Ian Mahar auf Kotaku**.

Die Erfahrung einer psychischen Erkrankung liegt in großem Maße darin, dass sich Regeln ändern.

Selbst wenn sich ein Spiel wie Lone Survivor dafür entscheidet die realen, nicht kontrollierbaren Gefühle Erkrankter in den Vordergrund zu stellen, so liegt ihm - wie jedem Spiel - eine Spielmechanik zu Grunde. Laut Anna Anthropy*** schaffen die Regeln eines Spiels die Erfahrungen, die man beim Spielen macht. Die Erfahrung einer psychischen Erkrankung liegt in großem Maße aber darin, dass sich Regeln ändern, dass eigene Regeln denen der Außenwelt nicht entsprechen, dass Deutungs- also Regelsysteme zusammenbrechen und als unverlässlich erlebt werden. Wenn wir also diese Erfahrung in Regeln erlebbar machen wollen, wenn wir Spieler_innen wirklich in die Fußstapfen psychisch erkrankter Menschen stellen wollen, müssen wir weiter gehen als Lone Survivor, müssen wir über die audio-visuelle und narrative Darstellung hinaus gehen.

In der Krise einer psychischen Erkrankung verlieren Regelsysteme ihre Gültigkeit, ihre Verlässlichkeit. Erkrankten wird dabei oft empfohlen trotzdem ein Set an Handlungen zur Hand zu haben, von denen sie wissen, dass diese prinzipiell heilsam wirken. Oft stellen Erkrankte in Zeiten psychischer Stabilität sog. Notfallkoffer zusammen, die Anleitungen für solche positiven Handlungen enthalten. Das können ganz banale Dinge sein: sich waschen, jemanden anrufen, sich ein warmes Getränk zubereiten, etwas singen, ein Kuscheltier in den Arm nehmen. Wichtig ist, dass der Erkrankte wiederholt erlebt, dass ihm etwas “gut getan hat”, dass er damit den Zugang zur Erfahrung von Selbststeuerung erhält.

Die mechanische Abbildung psychischer Erkrankung in Videospielen müsste diese beiden Extreme der (Un-)Verlässlichkeit von Regelsystemen berücksichtigen. Zum einen muss es also - wie in jedem anderen Spiel - Spieler_innen möglich sein im Spiel positiv verstärkende Erfahrungen zu machen und für einen “Notfallkoffer” zu sammeln. Die größere Herausforderung stellt die mechanische Darstellung unverlässlicher Regelsysteme dar.

Das wohl berühmteste Beispiel für den behutsamen und verständigen Umgang mit psychischen Erkrankungen innerhalb eines Videospiels ist Depression Quest von Zoe Quinn. Im Format der Interactive Fiktion arbeitet Depression Quest mit einer Art Dialogsystem, das Spieler_innen jeweils am Ende eines beschreibenden Abschnittes verschiedene Verhaltensentscheidungen zur Verfügung stellt. Interessant ist dabei, dass nicht immer alle angezeigten Optionen auch tatsächlich ausgewählt werden können. Einige erscheinen rot durchgestrichen. Je besser es der Protagonistin geht, desto mehr Möglichkeiten haben Spieler_innen mit ihrer Umwelt zu interagieren und sich selbst tatsächlich als selbststeuernd zu erleben. Durch welche Entscheidungen allerdings eine Besserung erwirkt werden kann, ist nicht unbedingt offensichtlich. Durch das ständige Auf und Ab der Stimmungen und Gefühle und der daraus resultierenden steigenden oder schwindenden Handlungsoptionen lässt Depression Quest Spieler_innen die Erfahrungen einer psychischen Erkrankung auf oft verstörende Weise nachvollziehen.

Das von Zoe Quinn für Depression Quest gewählte Format der Interactive Fiction legt den Fokus der Spielmechanik in hohem Maße auf die Narrative eines Spiels. Für Spiele, die sich einer anderen Mechanik bedienen wollen, bedarf es auch anderer Formate und anderer algorithmischer Ansätze. Prozedurale Generierung wird vermehrt eingesetzt um Spielsysteme mit einer Komplexität zu ermöglichen, die über die von Hand generierte hinaus geht. Auch für die Abbildung der Erfahrung einer psychischen Erkrankung wäre prozedurale Generierung denkbar. Ein vom Algorithmus erstellter “Seed” könnte bestimmte Vorbedingungen - quasi die genetische und soziologische Prägung - des Spieleregos festlegen und gleichzeitig Regeln für das Entheben der Regelsysteme - für deren (Un-)Verlässlichkeit also - beinhalten. Damit wäre es möglich eine Komplexität und Instabilität zu schaffen, die Spieler_innen nur begrenzt überblicken oder beherrschen können. Zusammen mit dem Konzept von “Permadeath” innerhalb eines “Seeds” - die Unumkehrbarkeit gefällter Entscheidungen in einem Spieldurchlauf - wird die Aufgabe das Alltagsleben mit einer psychischen Erkrankung zu meistern zu einem echten Kampf und damit der Wirklichkeit so viel näher. Die Regeln des Spiels bringen uns dann der Alltagserfahrung des Kontrollverlustes näher.

Ein solches Spiel wäre fern vom Eskapismus und vielmehr eine intensive Auseinandersetzung mit einem (unbekannten) Erfahrungsraum. Nichts für schwache Gemüter.

 

* Ed Smith: Survivors, in: Five out of Ten #10 (2014), S. 45–51

** Ian Mahar: Nobody Wins When Horror Games Stigmatize Mental Illness, Kotaku, , 26. Juli, 2013 

*** Anna Anthropy: Rise of the videogame zinesters, New York 2012, S. 43

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Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Agata Góralczyk. Zum Thema der Darstellung von Geisteskrankheit in Computerspielen siehe auch meinen Text zu Korsakovia

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