Wolfenstein: Die neue Unordnung

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Anmerkung: Der Einfachheit halber ignoriere ich das den Gesetzen geschuldete Herumeiern und nenne im Folgenden Nazis Nazis.
 
Wolfenstein TNO hat Probleme. Vorweg: Ich mag es trotzdem, auch wenn es keine Liebe, sondern eher eine resignierende Anerkennung ist, ein Lob mit Augenrollen und Seufzen. In Zeiten, in denen das Fan-Remake von Half-Life, Black Mesa, fast mühelos die obersten Treppenstufen der FPS-Bühne erklimmen kann, darf man nicht so wählerisch sein. Wie immer ist es wohl umsonst, von großen Titeln Neues zu erhoffen und eine Abkehr vom Altbewährten herbeizuträumen. So gesehen ist es irgendwie ein deprimierender Kommentar auf den Istzustand, den absichtlichen Schritt zurück zu den Shootertugenden von vor zehn Jahren, den Wolfenstein TNO mit Bravour vorexerziert, als große Leistung anzuerkennen. Doch der Reihe nach.
 
 
TNO verzettelt sich zwischen zwei Elementen, die sich als nicht mischungsfähig erweisen: Einerseits feiert es die dem großen Namen geschuldete lustvolle Machtfantasie, als Supersoldat dem personifizierten Bösen mit röhrenden Waffen entgegenzutreten - andererseits wagt es überraschenderweise in der aktuellen Inkarnation den überaus ambitionierten Versuch, durch subtil gemeinte Figurenzeichnung, emotionale Szenen und mehr oder weniger wohldosierte Provokation und Abbildung des Grauens narrativen Inhalt zu liefern. 
 
Wolfenstein TNO, mit seinen aufwendigen Cutscenes, seinen ambitionierten Sprechern, die glaubwürdig das Grauen des Krieges in gebrochenen Charakteren finden, will trotz der mechanischen Rückbesinnung auf die Essenz des klassischen FPS nicht "nur" ein Spiel  - das heißt hier schlicht und plump: Gameplay, das fast ganz Gunplay ist - sein,  sondern auch ein Film. Das Dumme ist nur: Der Film, der TNO sein will, ist nicht besonders gut. 
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Da braucht man gar nicht das Schlagwort "ludonarrative Dissonanz" bemühen, wenngleich auch diese wie eine bleierne Decke über der hier oft besonders misslingenden Verschmelzung von dramatischer Cutscene und ungerührter Ballerorgie liegt: Das seit Jahren zur Anwendung kommende Rezept - im qualitativen Sinne mag man nicht das Wort "bewährt" in den Mund nehmen -, Handlung und Gameplay sozusagen abwechselnd, fein säuberlich getrennt darzubieten, lässt eine nicht-interaktive Restmenge übrig, die auch als C-Movie Kritik herausfordern würde. Haarsträubende Logikfehler, zu oft Gewalt um ihrer selbst willen, unironisch überzeichnete Figuren, hölzerne Dialoge und eine letztlich oft pubertäre Faszination am Schock würden Wolfenstein: TNO als Film zu einer schmucklosen Existenz als Straight-to-Video-Vehikel in den untersten Regalen der Videotheken verdammen. Die überraschend expliziten Sexszenen, die hin und wieder eingestreut werden, sind für Games-Verhältnisse dafür überraschend gelungen. "Für Games-Verhältnisse", wohlgemerkt.
 
Wäre TNO ein Film, er würde als Straight-to-Video-C-Movie in den untersten Regalen der Videotheken vergammeln.
 
Dass diese narrative Unordnung bei einem millionenschweren AAA-Spiel bereitwillig und achselzuckend als nicht weiter schlimm betrachtet wird, sollte nach positiven Beispielen wie etwa The Last of Us nicht mehr durchgehen, wenn das Medium jemals aus der schwitzigen Umarmung 14-jähriger Knaben befreit werden soll. Denn wenn mit derartigem Aufwand Figuren, Schauplätze und eine ganze Welt gestaltet werden, könnte man auch etwas mehr Niveau in der Story erwarten. Positivbeispiel: das viel, viel billigere, aber dennoch weitaus nuanciertere, erwachsenere und hintergründigere Call of Juarez: Gunslinger. Suck on that.
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Ist es gerecht, ein Spiel wie TNO daran zu messen? Geht es nicht, wie beleidigte Kommentatoren sofort anmerken, hier "nur" um das Gameplay, und alles rundherum ist sowieso nur absichtlich billiger Trash, den man gefälligst zu ignorieren hätte? Wolfenstein - "es ist Wolfenstein, verdammt!" - soll pubertäre Machtfantasien befriedigen, will seine Spieler aus der Realität entfernen - jede Kritik am narrativen Gehäuse, so die Verteidiger,  ziele daneben, denn hier geht's "nur" ums Ballern. "Es ist nur ein Spiel!" - ich freue mich, wenn diese wehleidige Inschutznahme vor Kritik mal nicht mehr kommen darf.
 
Das Atemberaubendste dieses so sehr aufs Gameplay setzenden Titels ist schlichtweg der konsequente Mangel an jeglicher Innovation. 
Abgesehen davon, dass man dem Entwickler, folgt man diesem Argument, mit seinem ambitionierten narrativen Ansatz damit schlichte Ressourcenverschwendung attestiert, tut man dem Spiel auch damit keinen Gefallen: Denn das Gameplay allein hat Mühe, den narrativen Koloss zu tragen. Es ist solide, ja, es ist spaßig, es liefert mal mehr, mal weniger spannende Setpieces und Feuergefechte, doch das Atemberaubendste dieses doch so sehr aufs Gameplay setzenden Titels ist schlichtweg der restlos konsequente Mangel an jeglicher Innovation. Es gibt buchstäblich nichts, was TNO als Shooter von der langen Traditionsliste seiner Vorgänger, mit Wolfenstein im Namen oder nicht, unterscheiden würde.  
 
Außer eventuell: seine Größe. Wie die größenwahnsinnigen Bauten der Wolfenstein-Nazis, die in einer Fiebervision Albert Speers Londons Big Ben zum kümmerlichen Zwerg verkommen lassen, ist alles hier zu groß, zu breit, zu gewaltig: von den riesenhaften mechanoiden Nazi-Hünen über die riesigen Roboterhunde bis hin zur Hauptfigur selbst, William "BJ" Blazkovicz, der wie eine anabolikaentstellte Aufblaspuppe eines sehr deprimierten Till Schweiger durch die Kulissen donnert.
 
Das ist - Überraschung - aber auch durchaus wieder sympathisch, denn es verankert TNO als Cartoon-Fantasy. Bliebe es dabei, könnte man es hinnehmen und achselzuckend mit Laserknarren gegen Horden von Bösewichtern bölzen. 
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Es bleibt nicht dabei. Leider. Die narrative Ambition, hier ernsthaft, mit erzählerischer Tiefe, von den Grauen nicht nur eines Krieges, sondern spezifisch von den Grauen des faschistischen industriellen Massenmords auf Schlachtfeldern in überwachten und unterdrückten Gesellschaften und in unmenschlichen Lagern zu sprechen, lastet schwerer auf den übermenschlich breiten Schultern unseres bekümmert dreinblickenden Supersoldaten als es das gute Dutzend schwere Waffen in seinem Inventar könnten.
 
Es ist  keine gute Idee, einen Shooter, der Spaß machen soll, in Arbeits- und Vernichtungslagern anzusiedeln.
 
Kurz gesagt: Es ist einfach keine gute Idee, einen Shooter, der Spaß machen soll, in futuristischen Varianten von Arbeits- und Vernichtungslagern anzusiedeln, die geschichtlich in KZs wurzeln. Es grenzt an Gedankenlosigkeit, die Hauptfigur - wie damals, passender, Riddick in Escape from Butcher's Bay - in einer einzigen Mission, in einer dürren halben Stunde Gameplay, vom industriell eingelieferten Lagersträfling unter Nazibewachung zum glorreich die Lagermauern überwindenden Widerstandshelden werden zu lassen.
 
Wer jemals in einem KZ war, wird angesichts der optischen Anklänge in TNO ins Stocken geraten: Die mit Lagerpritschen vollgestellten Baracken, in die man sich als Spieler auf seinem unaufhaltsamen Privatkrieg nur begibt, um seine Mission herunterzurattern, stehen so eben noch heute in Birkenau. Es ist ein starkes Stück, diese optischen Echos auf real existente Todeslager als kurzweilige Hintergrundkulisse für einen spielerisch zudem primitiven, in 30 Minuten zu absolvierenden Kurzbesuch im Nazi-Camp zu verramschen.
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Es ist aber auch Unfug, hier allzu konsequent die Moralkeule auszupacken, denn TNO bemüht sich durchaus, diese und andere Orte des Naziterrors als futuristische Schreckensszenen darzustellen. (Auch wenn manche Kommentare, wie dieser inzwischen entfernte auf Spiegel Online bei der Rezension zum Spiel, die Frage aufkommen lassen, ob nicht doch leichte Schläge mit dieser - oder irgendeiner - Keule hin und wieder nötig wären.) Doch wie funktioniert diese Gratwanderung zwischen Spaß und Betroffenheitsheischen in einem Spiel, in dem wir konstant damit beschäftigt sind, bewältigbare Gegnermassen auf fantasievollste und möglichst befriedigende Art und Weise zu pulverisieren?
 
Wie auch immer eine Antwort auf diese Frage aussehen könnte: Die Antwort, die Wolfenstein TNO darauf gibt, ist unbefriedigend. So bleibt sein Geplänkel mit traumatisierten Figuren, mit schrecklichen Bildern von Unterdrückung und Tod ein reiner Flirt mit der Horrorkulisse, die aus WW2-Dokus bequem vertraut und wohlig gruselig zugleich geworden ist. Die Nazis im Wolfenstein-Universum waren immer Abziehbösewichter, so real wie Orks und Aliens; dass TNO sich nun in Details so bemüht, sie auch als Menschen zu zeigen, sie gemeinsam mit der dystopischen Zukunftsvision sozusagen realer werden zu lassen - in Monologen der Gegner, in Zeitungsschnipseln, in überzeichneten Nazifiguren - ist ironischerweise genau der Grund, warum die ambitionierte Absicht der schwedischen Entwickler, hier mit besonderer "Differenziertheit" ein "erwachseneres" Bild zu zeichnen, ins Gegenteil umkippt.
 
So scheitert Wolfenstein TNO an der selbst errichteten Hürde: "Erwachsenes" und emotional tiefgreifendes Erzählen in einem Computerspiel zu etablieren, ist möglich - allerdings ist die Verschmelzung von Cartoon-Action, realem historischen Schrecken und emotional berührend gemeinter Ernsthaftigkeit eine Nummer zu groß für ein Spiel, in dem man Naziroboter auf dem Mond bekämpft.
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Hätte sich TNO auf seine Cartoonhaftigkeit, sein solides Oldschool-Gameplay, seine von Half-Life geliehenen Script-Setpieces und seine mit Liebe gestaltete Welt allein beschränkt, könnte man vom besten Shooter seit langem sprechen. Mit seinen juvenil missglückten Ausflügen ins Emotional-Dramatische, mit seinem zu hoch gegriffenen Anspruch auf Ernsthaftigkeit, mit seinem schon im Helden evidenten kummervoll-kriegstraumatisierten Dackelblick stolpert es in eine ludonarrative Unordnung, die aufzulösen wohl nur wirklich, wirklich, wirklich guten Autoren gelingen könnte, die subtil auf dieser Dissonanzklaviatur zu spielen verstehen. 
 
Die Autoren von Wolfenstein: TNO hingegen lassen ihren Helden nach 14 Jahren im Koma, nach einer dramaturgisch und visuell beeindruckenden Zeitrafferreise durch Jahre des Dahindämmerns, mitten in einem Nazi-Massaker an den behinderten Insassen und Betreuern ansatzlos aufstehen und einem Bösewicht ein Buttermesser in den Schädel rammen.
 
Das sagt wohl schon alles.
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