Dwarf Fortress: Losing is fun

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Die unglücklichen regelmäßigen Leser dieser Seite mögen aufseufzen, aber in regelmäßigen Abständen überfällt mich schon seit Jahren immer wieder die unbändige Lust, das Hohelied des besten Spieles aller Zeiten zu singen, meist gefolgt von der traurigen Erkenntnis, dass sich viel zu viele nicht daran wagen. Da müsst ihr jetzt durch: Die Fantasy-Simulation »Dwarf Fortress« ist wahrscheinlich das komplexeste Spiel aller Zeiten, das verlässlich Geschichten generiert.

Dwarf Fortress« ist ein Unikum, ein technisches Phänomen und einer der interessantesten Underground-Titel mit absolutem Kultcharakter. Das bis zum Größenwahn ambitionierte Game mit der minimalistischen Grafik ist eine gewaltige Sandbox mit dem Ziel, eine mehrere tausend Quadratkilometer große Fantasy-Welt samt ihren Einwohnern komplett prozedural zu simulieren – von der Geologie über das Klima bis hin zu einzelnen Insekten und Individuen, mit ihren jeweils eigenen psychischen Besonderheiten und Vorlieben. Einfacher ausgedrückt bedeutet das, dass nichts in »Dwarf Fortress« im Vorhinein ins Programm geschrieben ist: Die gesamte Spielwelt, ihre Städte und Bewohner und alle Ereignisse, die dem Spieler widerfahren, ergeben sich aus dem Zusammenspiel tausender komplexer Grundregeln und künstlicher Intelligenz.

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Sandbox mit Zwergen

»Dwarf Fortress« ist eine virtuelle Ameisenfarm in Übergröße. Kernstück des Spiels ist der Fortress Mode, in dem der Spieler – ähnlich wie bei »Sim City«, »Dungeon Keeper« oder »The Sims«, nur ungleich komplexer – anfangs sieben Zwerge mit viel Mikromanagement zum Bau einer stetig wachsenden unterirdischen Zwergenfestung anleitet.

Der Fantasie und Findigkeit der Spieler sind keine Grenzen gesetzt: Ob man riesige Festungsanlagen, komplexe Produktionsökonomien, aufwendige Bewässerungsanlagen oder vertrackte Fallen als Schutz vor Feinden entstehen lässt, bleibt jedem selbst überlassen – wie im Indie-Hit »Minecraft«, das übrigens laut Aussagen von dessen Schöpfer Marcus »Notch« Persson stark von »Dwarf Fortress« inspiriert wurde. Und wie in »Minecraft« gibt es auch in »Dwarf Fortress« kein Spielziel, aber dafür unzählige Möglichkeiten, mehr oder weniger spektakulär zu scheitern: Ob die Kolonie wegen fehlgeschlagener Ackerbauversuche verhungert, durch unachtsames Graben von Lava- oder Wassermassen ausgelöscht wird, von depressiven Zwergen in Tobsuchtsanfällen zerlegt oder von marodierenden untoten Elchen (!), Vampiren oder Goblins ausgelöscht wird, stets steht über all diesen Katastrophen das inoffizielle Motto des Spiels: Losing is fun.

Wunder im Buchstabensalat

Was Uneingeweihte von diesem Kultspiel jedoch bislang verlässlich fernhält, sind Grafik und Bedienbarkeit. Zu verworren erscheint Anfängern der dürre ASCII-Buchstabensalat, zu undurchdringlich das teilweise kryptische User-Interface, das vom Spieler verlangt, eine Unzahl von Tastaturkommandos im Kopf zu behalten. Während letzterem Einwand mit  dem Verweis auf unzählige How-to-Videos und das umfangreiche Wiki begegnet werden kann, bleibt bei der Frage der Grafik nur wenig Trost: Es gibt zwar unterschiedliche Grafiksets, die das spartanische Originalspiel etwas aufpeppen, sowie verschiedene Visualisierungsprogramme – doch der Reiz des Spiels liegt auch mit diesen Hilfsmitteln hinter der Oberfläche.

»I don’t even see the code anymore. All I see is blonde, brunette, redhead...«

Der auf den ersten Blick anachronistische Minimalismus der Darstellung täuscht allerdings: Auch wenn die Welt von »Dwarf Fortress« nur aus Satzzeichen, Buchstaben und Symbolen besteht, offenbart sich auf den zweiten Blick die Eleganz dieser Lösung: Die Vegetation verändert im Lauf der Jahreszeiten ihre Farbe, Wege, die oft beschritten werden, verwandeln sich grafisch sichtbar in Matschpisten und das bei den bis ins kleinste Detail simulierten Kämpfen vergossene Blut färbt Kampfplätze rot. Und irgendwann geschieht verlässlich das Wunder: Hat die sich hier entfaltende Welt den Spieler erst einmal gefangen genommen, geht es ihm wie jenem Charakter, der im SF-Klassiker »Matrix« im neongrünen Codegewirr schlussendlich die Parallelwelt ausmachen kann: »I don’t even see the code anymore. All I see is blonde, brunette, redhead ...«

664Zach und Tarn Adams (v.l.)

Alphaversion der Matrix

Was hinter der trügerisch simplen Fassade von »Dwarf Fortress« vorgeht, ist komplizierteste Rechenkunst, die auch mächtige Prozessoren ins Schwitzen bringt: Die New York Times, der das Ausnahmespiel letzten Sommer einen mehrseitigen Bericht wert war, vergleicht respektvoll die Komplexität der Simulation von »Dwarf Fortress« mit jener professioneller Ingenieurssoftware in industriellen Windkanälen im Flugzeugbau. Diese Komplexität bringt bei jedem Spiel ein neues Abenteuer hervor, und vor allem: Sie generiert Geschichten, die in ihrer Aberwitzigkeit und Originalität das Gros der von professionellen Games-Autoren erdachten Plots in den Schatten stellen.

Durch die Mischung aus komplexer Simulation und offenem Spieldesign erleben einmal dem Charme des Spiels Verfallene Herausforderungen, die es so in keinem anderen Spiel gibt. Versuche ich, alle meine Zwerge mit geschickt infiziertem Brunnenwasser zu Vampiren zu verwandeln? Schaffe ich es, die riesige Höhlenwelt unter der Erdoberfläche mit ihren mythischen Monstern und Dämonen zu kolonisieren? Kann ich den unterirdischen Lavasee durch geschickte Ingenieursleistung in eine tödliche Falle verwandeln? Was tun, wenn ein wandernder Nekromant plötzlich die Überreste meiner geschlachteten Nutztiere zum Leben erweckt?

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Dwarf Fortress« simuliert eine gesamte Welt, in der alle Eingriffe des Spielers komplexe, aber nachvollziehbare Reaktionen mit sich bringen. Andere Open-World-Games wie »Skyrim« oder die »GTA«-Reihe können mit der Vollständigkeit dieses künstlichen Mini-Universums nicht einmal annähernd mithalten. Der 34-jährige Schöpfer dieser aberwitzigen Weltsimulation, Tarn Adams, galt als mathematisches Wunderkind, bis er seine Tätigkeit an der University of Texas aufgab, um sich seit 2006 gemeinsam mit seinem Bruder Zach ganz seinem Lebenswerk »Dwarf Fortress« zu widmen. Hilfe von außen, etwa durch Veröffentlichung des Quellcodes, wollen die genialen Einzelkämpfer dabei nicht annehmen. Den Lebensunterhalt, auch das eine charmante Eigenheit der Independent-Games-Szene, sichern freiwillige Spenden der Community.

20 Jahre, so schätzt Tarn Adams, wird es wohl noch dauern, bis sein Megaprojekt vom perfekten Spiel her so ist, wie er und sein Bruder es sich erträumen. Bis dahin können hartgesottene Spieler mit Mut zur Einarbeitung einen Blick in eines der faszinierendsten Spiele aller Zeiten werfen.

Es lohnt sich: »Dwarf Fortress« ist schon jetzt ein Meilenstein der Games-Geschichte.

Download der aktuellen Alphaversion auf www.bay12games.com. Anfänger finden im Internet mit dem »Lazy Newb Pack« eine bequem mit Grafiksets ausgestattete Version mit weniger Einstiegshürden. Das Buch »Getting started with Dwarf Fortress« von Peter Tyson, Mitte Juni erschienen, bietet auf 238 Seiten eine Einführung.

Dieser Artikel erschien letzten Sommer für thegap 128.

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